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Donnerstag. — Nr. 147 —— SV. Juni 18S6 Lei^zra Die Zeitung erscheint mit Ausnahme des Montag« täglich und wird Nachmittags 4 Uhr auS- gegebe». PretS für das Vierteljahr I V, Thlr.; jede einzelne Nummer 2 Ngr. Deutsche Allgemeine Zeitung. «Wahrheit und Recht, Freiheit Md Seseh!» Zu beziehen durch alle Postämter de- 3n- und Auslandes, sowie durch di« Expedition in Leipzig (Querstraße Nr. 8). InsertionSgebühr für den Raum einer Zeil« 2 Ngr. Das politische Abe und A und O. Von Karl Welcker. (Aus dem ersten Heft deö Staats-Lexikon von Rotteck und Welcker, dritte Auflage.) (Schluß au« Nr. 148.) Man darf die neuere eifrige Propaganda für den Materialismus nur näher betrachten, um zu erkennen, daß ihr Materialismus seinen wesentlichen Be- ftandtheilen nach innig mit politischem und kirchlichem Opposition-- und Kam- pfe-elfer verbunden ist, ja aus ihm hervorgeht und deshalb ungleich ansteckender, bedeutender und gefährlicher werden kann. Ueberall nämlich in der Geschichte sehen wir, baß despotische und eigennützige Herrschsucht, als ihr Hauptmittel für geistige, kirchliche und politische Unterdrückung der Menschen, vor allem die Vor stellungen von den göttlichen und sittlichen Dingen, weil sie so einflußreich sind, zu mi-brauchen, zu verfälschen und in blindem Aberglauben den obscu- rantischen und despotischen Zwecken dienstbar zu machen suchen. WaS ist nun natürlicher und löblicher als die Opposition der Freunde der geistigen, kirchlichen und bürgerlichen Freiheit gegen solch schändlichen Misbrauch mit dem Heiligsten, welches durch sie entwürdigt und für Viele bis zur Un kenntlichkeit entstellt wird? Was ist aber ferner zugleich natürlicher und bedauerlicher als die häufige menschliche Einseitigkeit, Leidenschaft und Ueber- treibung dieser Opposition und als die Einmischung der eigenen Selbstsucht und Herrschsucht der Opponenten in ihren Kampf? So sehen wir denn neben wohlthätig reformirenden Oppositionen auch fanatische, übermüthige, materialistische Verneinung, ja Anfeindungen alles Göttlichen und Sittli chen. Auch diese Opposition aber sehen wir dann sehr natürlich oft nicht mehr im guten Glauben, sondern im heuchlerischen Scheine der Vertheidi- gung der geistigen, kirchlichen und politischen Freiheit wirken. So ent standen die Voltaire'schen und Diderot'schen religionsfcindlichen Bestrebun gen, so die französischen Encyklopädisten und die sonstigen meist fanatisch materialistischen und atheistischen Bestrebungen vor und in dec Französischen Revolution und zum Theil auch in Frankreich und Deutschland im Jahre 1848. Man wähnte, Religion und Sittlichkeit schadeten der Freiheit,'diese könne ohne sie bestehen. Man bekämpfte mit der Autorität der Heuchler und der Tyrannei die Autorität GotteS und der Gesetze, ohne welche doch keine Freiheit in einem Volke je bestand oder dauern kann. Zu dem ersten Hauptfehler, das Gute wegen seine- Misbrauchs anznfeinden und nicht den Misbrauch, sondern das Gute selbst wegzuwerfen, gesellte sich zum Theil auch noch rin zweiter furchtbarer Jrrthum, nämlich der terroristische oder jakobinische, wodurch der Fanatismus für den Materialismus und Atheis mus noch vermehrt und noch größeres Uebel, und zwar stets am meisten für die währe Freiheit, begründet wurde. Sowie nämlich rohe Menschen, die der schwierigen, oft langsamen Heilkunst nicht kundig sind, bei körper lichen Krankheiten, wenn sie die rechten Heilmittel nicht wissen, ungeduldig zu Gewaltmitteln, etwa zum Abschneiden des erkrankten Gliedes rächen, so glauben auch rohe, ungeduldige Politiker leicht, daß die Heilung der unter dem Schutz jener obscurantischen Verbrüderung geistlicher und weltlicher Macht entstandenen despotischen Krankheiten am besten mit rohen Gewalt mitteln, mit Meuchelmord, Königsmord und jakobinischem Kopfabschneidcn bewirkt werde. Um aber dazu die gefügigen Werkzeuge zu finden, mußten sie selbst die letzten Reste von Religion und Sittlichkeit, von Heiligkeit des Eides und selbst der Menschlichkeit möglichst zerstören. So nur erklärt sich jener fanatische Wahnsinn der scheußlichen Lehren und Thalen der frühem und später« revolutionären Zeit, mit deren Darstellung wir diese Blätter nicht besudeln wollen. Ja, wir verdammen diese Lehren und Thaten so gut, wie nur irgend, die Reaktionäre cs lhun können, und noch mit weit größerm Verdruß über dieselben; denn alle Excesse im Namen der Freiheit schaden ja aus langchin der Freiheit selbst und nützen der Reaction — was freilich auch am besten schon die politische Untüchtigkeit jener verirrten terroristischen Politiker beweist. Den Vorwurf aber wegen all dieser Verkehrtheiten muß man zum gu- ten, ja zum größern Theil den Haupturhebern derselben, den despotischen, jesuitischen und obscurantischen geistlichen und weltlichen Unterdrückern und ihrem gewissenlosen Mißbrauch des Heiligen für ihre schlechten weltlichen Zwecke zuweisen. Bis zu unsern Tagen sehen wir sie immer noch in allen Confessionen die Gewissens- und bürgerliche Freiheit im Namen derselben christlichen Lehre, die jene heiligt, schamlos verletzen. Wir müssen sehen, daß sie das Schändlichste, die Knechtung und Beraubung unserer zur Frei heit geborenen Brüder, im Namen Gottes und des Königthums, der Re ligion und Sittlichkeit lehren und befördern und so den Haß der Schwachen und Verirrten gegen diese Heiligthümer entzünden. In den Augen so vie ler Schwachen verliert ja das Christenthum selbst an Würde und Werth, wenn seine Priester in Amerika, um den Sklavenherren zu gefallen, die Negersklaverei, in Europa die politische Sklaverei und ihren blinden Ge- > horsam als christlich geheiligt und geboten darstellen. Daß nun aber auch diese Heuchler und Jesuiten eine schlechte, zuletzt ihnen selbst verderbliche Politik befolgen, dieses beweist eben das durch ihre Schuld bewirkte Sinken der Achtung der Religion und Moral und des Königthums in einem so großen Theil der Menschen und das so auch sür jene falschen Freunde der selben herbeigeführte vielfache Unheil. Die Verkehrtheit auch jener materialistischen Politiker aber wird nach dem Bisherigen wol einer weitern Ausführung kaum bedürfen. Sie zer» stören mit Religion und Sittlichkeit alle Grundlagen wahrer, vollends die der republikanischen Freiheit, deren Bestand ohne Tugend ebenso undenkbar ist wie die Dauer der Sittlichkeit in einem Volk ohne Religion. Sie ge- den die Freheit der Hinterlist und Gewalt jedes Mächtiger« preis, und schrecken vollends die Mehrheit ihrer Mitbürger schon vor der Erwerbung wirklicher Freiheit durch die mit ihrem Namen verbundenen Nichtswürdig keiten so sehr zurück, daß sie selbst einen ersten und zweiten Napoleon'schcn Despotismus und unsere deutsche Reaction der Freiheit und ihren Aposteln verziehen und beide dem Despotismus preisgeben. Auch jene Heilsamkeit de- Terrorismus in der ersten Französischen Re- volution ist ein ebenso großer als verbreiteter Jrrthum — ein Jrrthum, den freilich auch viele Geschichtschreiber theilcn, die nach ihrem Handwerk, der Beschäftigung mit dem Geschehenen, dieses oft allzu sehr verehren und so- mit auch den historischen Terrorismus rechtfertigen oder ihn wenigstens als nothwendig und unvermeidlich darstellen. Bei der großen Allgemeinheit und der Verderblichkeit dieses historisch-politischen JrrthumS mögen ihn hier einige Gegenbemerkungen bestreiten. Die Reformfoderung der französischen Nationalversammlung von 1789 war so sehr durch die tiefsten und verbreitetsten Bedürfnisse und Erkennt nisse der französischen Nation und des Zeitalters begründet; sie war durch eine so allgemeine Erhebung der Nation und alsbald auch durch die im freiwilligen Verzicht auf Standes- und Feudalprivilegien bewährte Opfer- bereitwilligkcit so sehr in da- Leben der Nation übcrgegangen; sie war end- lich zugleich durch die entschiedene öffentliche Meinung der ganzen gebildeten Welt und durch die al- Vorbild anerkannte britische Freiheit so wirksam unterstützt, daß sie bei einiger folgerichtigen Energie der Freiheitsfreunde, auch ohne terroristische Gräuel, zwar wol vorübergehend zurückgedrängt, aber nie auf die Dauer vereitelt werden konnte. Der rechtliche maßvolle Weg hätte dabei natürlich nicht ausgeschlossen, daß, wenn ihrerseits die FreiheikS- feindc die Revolution in rechtswidrigen Gewaltthaten begannen, dieselbe zu Gunsten der Freiheit energisch zu Ende geführt wurde, und daß in Fällen des wahren NokhstandcS, im Bürgerkriege und bei Einmischung der Frem den, die zulässigen Nothrechtsmittel des Kriegsstandes mit aller nöthigen Energie durchgeführt worden wären. Davon aber waren himmelweit ver schieden jene terroristischen und systematischen Jakobinergräucl schon von dem Zuge nach Versailles an, jene willkürliche Suspension, dann Aufhebung des Recht- und der Moral und der Religion, alle jene einzelnen und massen haften, von der höchsten Gewalt belobten oder angeordnelen Morde von Un schuldigen — diese Morde Unschuldiger blos um des Schreckens willen, oder wegen des Standes, des Glaubens, der Meinungen der Ermordeten, oder auch wegen der verworfensten Privatleidenschaften der Blutmänncr, denen Alle völlig preisgegeben wurden. Dieser auch später so sehr zur Nachah mung empfohlene Terrorismus aber, was hat denn nun dieser gewirkt, das rechtliche Freiheitsfreunde mit energischer Handhabung der Gesetze und mit den rechtlichen Mitteln eines etwa nöthigen Kriegsstandes nicht hätten er reichen können? Was zuvörderst das Hauptresultat betrifft, so ist ja durch ihn eine dauernde und wirkliche politische Freiheit sür Frankreich keineswegs erwirkt worden. Unter seiner eigenen jahrelangen scheußlichen Herrschaft war keine Spur derselben vorhanden. Es herrschte damals vielmehr der maß loseste innere Despotismus; dann aber folgte, um von ihm zu befreien, der Napoleonismus, dann, durch die Einmischung der Fremden, die Restaura tion, nach ihr die Herrschaft Ludwig Philipp's und dessen Corruptionssystem, hierauf die neue Revolution und, bei der Vorbereitung und Drohung einer neuen Schreckensherrschaft, aus bloßer Furcht der Nation vor dieser der neue NapoleoniSmus. Und was waren die unmittelbarsten Folgen dieser Schreckensherrschaft, außer ihrer Aufhebung jeglicher Freiheit und Sicher heit? Zunächst nach außen hin verwandelte sie mit allen ihren schauderhaf ten Gräueln und mit ihrem Blutgericht über den König die allgemeine be geisterte Zustimmung der Völker in ganz Europa in ihr Gegcnthcil und machte es den Negierungen jetzt erst möglich, der Revolution den Krieg zu erklären. Im Innern aber verwandelte sic ebenfalls die allgemeine begei sterte Zustimmung bei Millionen in lauten Abscheu und rief in fast allen großen Städten und vielen Provinzen, in Toulon, Lyon, Bordeaux,* in der Vende'e, in der Gironde, Hunderttauscnde gegen die Revolution in die Waf fen, machte sie zu Bundesgenossen dec Fremden, erzeugte die vielfältigsten