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liMnrgtr Tageblatt Erscheint täglich mit Ausnahme der Lage nach Sonn- und Festtagen. Beiträge sind erwünscht und werden eventuell honorirt. Annahme von Inseraten für die nächster- scheinende Nummer bis Mittags 12 Uhr des vorhergehenden Tages. und Waldenburger Anzeiger. Der Abonnementspreis beträgt vierteljähr lich 1 Mk. 50 Pf. Alle Postanstalten, die Expedition und die Colporteure dieses Blattes nehmen Be stellungen an. Einzelne Nummern 8 Pf. Inserate pro Zeile 10 Pf., unter Eingesandt 20 Pf. Amtsblatt für den Stadtrath zu Waldenburg. Mittwoch, den 20. September 1882. V 2t!>. "Waldenburg, 19. September 1882. Ein französisches Blatt über die Finanz lage Deutschlands. An der Hand eines Aufsatzes, welchen der elsäs sische Reichstagsabgeordnete CH. Grad in der „Revue des Deux Mondes" über die Finanzen des Deut schen Reiches veröffentlicht hat, stellt der Pariser „Siöcle" folgende Betrachtungen an: „Deutschland ist nicht so arm, wie man bei uns gern glaubt. Man braucht nur sein wirthschaftliches Rüstzeug zu betrichten, um zu erkennen, wie beträchtliche Er- werbselemcnte es in Bewegung setzt. Vermöge des Umfanges feiner Eisenbahnen und Telegraphen, der Zahl seiner Dampfmaschinen, des Tonnengehalts seiner Marine steht es unter den productiven Län dern in der ersten Reihe. Der Boden ist minder reich als in Frankreich, aber der Ackerbau mehr vervollkommnet; die Industrie hat noch nicht den Glanz der englischen und französischen, aber sie schreitet fort. Die Steuern gehen mit Leichtigkeit ein und wären eines noch größeren Erträgnisses fähig. Man muß sich wohl hüten, die Klagen der deutschen Steuerpflichtigen ernst zu nehmen, und zu glauben, daß sie außer Stande wären, neue Lasten zu ertragen. In Frankreich hat man vor dem Kriege die Finanzen Napoleons III. sehr heftig kritisirt und mit Recht; aber man behauptete, daß das Land zu schwer belastet wäre, um noch irgend eine Steuer erhöhung aushalten zu können, und darin hatte man Unrecht. Nach 1871 wurden unsere Steuern um mehr als 700 Millionen erhöht, ohne daß unsere Schultern sich beugten und ohne ernste Störung für das wirthschaftliche Leben des Landes. Deutschland ist durchaus im Stande, jährlich 200 bis 300 Millionen mehr in die Kassen des kaiserlichen Schatzes fließen zu lassen. Dieses Opfer wird nicht ohne Murren übernommen werden, aber die Deutschen werden sich darein finden, um ihre Einigkeit zu befestigen. Wer da sagt, daß diese Steuererhöhung Deutschland ruiniren würde, macht leere Redens arten. Man muß auch ferner beachten, wie mäßig die deutsche Staatsschuld ist. Die französische Schuld übersteigt 21,000 Millionen, die deutsche erreicht noch nicht einmal 660 Millionen. In Zeiten einer Krisis ist eine starke Schuld eine schwere Verlegen heit. Trotz der geringen Höhe seiner Schuld hat Deutschland nicht eben so viel Credit wie Frankreich. Aber der Credit wächst mit dem Fortschritt des öffentlichen Vermögens, und den Staaten, welche gut gedeckte Budgets haben, fehlt es niemals an Capital, wenn sie eine Anleihe machen wollen. Was besonders zur Stärkung der Finanzlage Deutschlands beiträgt, das ist die Tüchtigkeit seiner Verwaltung und der Geist der Sparsamkeit, welcher seine Re gierung und Kammern beseelt. Während in gewissen europäischen Großstaaten die Verwaltung mit ihrer Sorglosigkeit und Routine ein öffentliches Uebel ist, ist sie in Deutschland wachsam und streng. In den gesetzgebenden Versammlungen wird die Controls der Finanzen gewissenhaft geübt; die unendliche Ausdehnung der Nachtragscredite, die Abgeordneten, die beständig neue Ausgaben in Vorschlag bringen, will man dort nicht dort dulden. Man hat es in diesen Kammern fertig gebracht, mit 430 Millionen Francs jährlich eine nahezu ebenso starke Armee zu unterhalten, wie die französische, während unser Kriegsbudget 570 Millionen vorschlägt. Diesen Thatsachen gegenüber muß man sich fragen, ob die deutschen Finanzen nicht heute besser stehen, als die französischen. Jedenfalls ist es beklagenswerth, daß unser Budget von 1882 mit einem Deficit abschließt und daß wir mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben, welche die Verantwortlichkeit der Regierung und der Kammer schwer belasten. Alles in Allem sind die § deutschen Finanzen besser organisirt, als man sich gewöhnlich vorstellt, und man darf nicht vergessen, daß das Reich, abgesehen von seinen ordentlichen Hülfsquellen, über eine den Milliarden von 1871 entlehnte Reserve verfügt, welche dazu bestimmt ist, die ersten Ausgaben des nächsten Krieges zu decken. Ueber jeden dieser Punkte muß die öffentliche Mei nung bei uns aufgeklärt werden, damit ihr nicht durch eingebildete Urtheile neue Enttäuschungen be reitet werden." Die Ausführungen des „Siöcle" lassen ganz außer Acht den bedeutenden Fiscalbesitz des Reiches sowohl, wie der Einzelstaaten, welcher an Werth den der vorhandenen Staatsschulden weit übersteigt, ein Verhältniß, welches gleich günstig wohl in keinem zweiten Staate Europas existirt. Das deutsche Reich besitzt die Elsaß-Lothringischen Bahnen (früher fran zösische Ostbahn), die Einzelstaaten befinden sich gleichfalls im Besitze des größten Theils der sie durchlaufenden Eisenbahnlinien und dieser Besitz, in Verbindung mit dem der Domänen, Forste rc. re- präsentirt einen weit größeren Werth als die Summe der umlaufenden Staatsschuldentitres. "Waldenburg, 19. September 1882. Politische Rundschau. Deutsches Reich. Die Mittheilung, daß der Kaiserin nach Ab nahme des Gypsverbandes ein Drahtverband ange legt worden sei, ist falsch. Die Aerzte sind mit der zunehmenden Beweglichkeit der contusionirten Glied maßen durchaus zufrieden. Das Allgemeinbefinden I. Maj. der Kaiserin hat unter dem Einfluß vieler j Schmerzen und der langwierigen Behandlung natur gemäß gelitten. Die spätere Uebersiedelung nach Baden-Baden soll aber nach wie vor in Aussicht genommen sein. Von der deutschen Kronprinzessin, die wäh rend des Aufenthaltes Sr. Majestät des Kaisers aus dem Liegnitzer Bahnhofe das Coupo nicht ver lassen hatte, wird der „Liegnitzer Tagespost" nach träglich der folgende liebenswürdige Zug berichtet: Die hohe Frau bemerkte von der geöffneten CoupH- thür aus, wie ein im Publikum stehender kleiner Knabe vergebens den Hals reckte, um den Kaiser und sein Gefolge zu sehen, ohne daß ihm dies trotz aller feiner Anstrengungen gelang. Sie befahl, den Knaben heranzurufen, hieß ihn zu ihr in's Coupo steigen und sagte freundlichst zu ihm: „Siehst Du, Kleiner, von hier kannst Du den Kaiser ganz genau betrachten." Man kann sich das Glück des kleinen Burschen vorstellen, dem es natürlich nicht lange verborgen blieb, wer seine Gönnerin gewesen. Fürst Bismarck erhielt vom Teikun von Japan den Orden des Chrysanthemum. Hinsichtlich der Frage des Schutzes der gewerb lichen Arbeiter gegen Unfallsgefahr, deren Regelung bevorsteht, bildete bisher die Errichtung einer schieds richterlichen Instanz die Hauptschwierigkeit. Es sollen diesbezüglich Vorschläge dem Bundesrath unter breitet werden, welche zu einem Ausgleich führen dürften. In einem Aufsatz: „Welche Länder können Deutsche noch erwerben?" im neuesten Hefte der Zeitschrift „Unsere Zeit" verbreitet sich der bekannte Afrikareisende Gerhard Rohlfs über die Colonie- erwerbung durch Deutschland. „Einer politi schen Annexion" — so schreibt er — „muß heutzu tage, soll eine gesunde Colonisation geschaffen wer den, eine Besitzergreifung durch Private vorausgehen. Einzelne Häuser oder Gesellschaften müssen Facto- reien errichten, welche, wenn sie gedeihen und an j Ausdehnung gewinnen, später den staatlichen Schutz des Mutterlandes erhalten." Rohlfs weist dabei auf die Art hin, wie die Engländer jetzt eben die Besitzergreifung von Borneo vorbereiten und unter sucht dann, wo für deutsche Niederlassungen, die dann später vielleicht in Staasbesitz übergehen könnten, noch Raum sei. Ec sieht dabei von Ländern ab, die einigermaßen civilisirte Regierungen und Staatszustände besitzen, so wünschenswerth auch im Interesse der Cullur und Humanität eine europäische Oberherrschaft wäre, wie in Abyssinien, Marokko, Tripolitanien, Korem u. A. Er weist vielmehr auf geradezu herrenlose große Gebiete hin, wie die aus gedehnte Insel Neuguinea, namentlich aber den afrikanischen Continent, an dessen Küste noch immer weite Strecken der Besiedelung durch Handelsfacto- rcien harren und den Zugang zu dem producten- reichen Hinterland eröffnen würden. Rohlfs führt eine ganze Reihe derartiger Küstengegenden im Osten und Westen Afrikas an. Aber auch hier dringen Engländer und Franzosen alljährlich mehr vor und Zeit ist nicht mehr zu verlieren. „Unsere Kaufleute lieben es nicht," sagt er, „Factoreien, Comptoire der Cultivationspunkte anzulegen, welche vielleicht erst nach einem Jahrzehnt Gewinn abwer fen. So unternehmend der Handelsstand in den hanseatischen Städten ist, so etablirt er seine über seeischen Handelshäuser ausschließlich in solchc.i Ländern, welche von irgend einer anderen euro päischen Macht staatlich annectirt worden sind. Ein selbstständiges Vorgehen, ein Gründen von Facto reien in herrenlosen Ländern, wie die französischen, britischen und holländischen Kaufls"'e es thun, wie die spanischen und portugiesischen es thaten, kennen i die deutschen Kaufleute nicht." Rohlfs spricht sich insbesondere auch sehr bitter über die großen Opfer an Geld und Arbeit aus, welche die deutsche Afrika forschung alljährlich in Anspruch nimmt, ohne den geringsten praktischen Nutzen zu schaffen; er fordert, daß den Humanitären und wissenschaftlichen Bestre bungen jetzt endlich auch ein praktischer Hintergrund mit nationalem Nutzen gegeben werde. „Bis jetzt hat man Stationen im Innern errichtet, auf Lände reien oder Gebieten, welche unmöglich Deutschland zufallen können, weil die Küste schon vergeben ist. Wenn Deutschland Nutzen haben soll von den Summen, welche es alljährlich für die Erforschung Afrikas verausgabt, so muß von nun an die Thätig- keit der Afrikanischen Gesellschaft nur auf solchen Gebieten sich gestalten, wo man, frei von Concur- renz, sich der Hoffnung hingeben kann, diese Länder einst in deutschem Besitz zu wissen." „Zehn Jahre hat Deutschland verstreichen lassen; ist dieser Zeit raum noch ein Mal verflossen, so wird es für immer zu spät sein." Mit dieser beherzigenswerthen Warnung schließt der berühmte Forschungsreisende seine Betrachtungen. Der bekannte Feuilletonist Paul Lindau will nun auch unter die Parlamentarier gehen. Einer vorliegenden Nachricht zufolge fall der Genannte in dem hinterpommerschen Kreise Rummelsburg-Schlawe als Candidat der dortigen Conservativen aufgestellt werden. Wie das „Deutsche Tageblatt" vernimmt, hat das ständige Comito des internationalen anti jüdischen Congresses beschlossen: „In Anbetracht der großen Bedeutung der Judenfrage in Rußland und ihres actuellen Zustandes daselbst im besonderen, spricht im Namen des Congresses das Somit« allen denjenigen feine volle Zustimmung und Sympathie aus, welche auf gesetzlichem Wege in Rußland thätig sind, die weiteren Uebergriffe der Juden zu verhindern und die christlich-arische Bevölkerung gegen die semitische Ausbeutung zu schützen."