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IgorStrawinsky schrieb das CapricciofürKlavierund Orche ster für sich selbst, um bei seinen vielen Konzertverpflichtungen als Solist nicht immer dem Publikum nur sein Klavierkonzert vorsetzen zu müssen. Er brachte es auch als Solist unter der Leitung von Ernest Ansermet mit dem Orchestre Sym- phonique de Paris am 6. Dezember 1929 zur Uraufführung. 1949 unterzog der Komponist das in der Zeit von Weihnachten 1928 bis Ende September 1929 ge schaffene Werk einer Revision. „Wie viele Stücke Strawinskys hat auch das heitere Capriccio einen Stil zum Gegenstand. Diesmal steht der Komponist unter dem Banne Carl Maria von Webers. Dabei handelt es sich keinesfalls um Stilkopie, sondern um schöpferische und erneuernde Auseinandersetzung mit vergangenen Stilperioden, die dieses ,jeu d'esprit', dem man den Titel .hommage a Weber' beilegen könnte, als ein typisches Beispiel für den schöpferischen Klassizismus Strawinskys kennzeichnet. ,lch dachte an die Erklärung, die Praetorius, der berühmte Musikforscher des 17. Jahrhunderts, vom Capriccio gibt. Er sah darin eine der Fantasia verwandte Form, die eine freie Folge von fugierten InstrumentaJstücken war. Diese Form gab mir die Möglichkeit, meine Musik derart zu entwickeln, daß verschieden artige Episoden aufeinanderfolgen und durch ihren Charakter dem Stück das kapriziöse Wesen verleihen, nach dem es benannt ist. Ein Komponist, dessen Genie sich für diese Gattung wunderbar eignete, war Carl Maria von Weber, und es ist nicht verwunderlich, daß ich im Laufe meiner Arbeit vor allem an diesen Fürsten der Musik dachte.’ Der erste Satz (Presto) beginnt mit einer kurzen Einleitung, die in zweimaligem Wechselspiel eine abrupte Passage für Klavier und Orchester einer getragenen Episode für Soloquartett gegenüberstellt. Das Hauptmotiv des launischen Satzes ist ein g-Moli-Arpeggio (Marcato), aus dem sich weitere Themen entwickeln. Eine Erweiterung der Einleitung beschließt den ersten Teil. Der langsame Sa'z (Andante rapsodico) beginnt mit einem Dialog zwischen Klavier und Holzblä sern. Auffallend ist die barocke Ornamentik des Soloparts. Die Form ist drei teilig; eine Kadenz bildet den Abschluß. Ganz den Charakter eines Perpetuum mobile trägt das kapriziöse Finale (Allegro capriccioso ma tempo giusto). Eine improvisatorisch-unschlüssige Einleitung (Klavier) führt zu den beiden auf Bre chungen des G-Dur-Akkords beruhenden Hauptthemen des Allegro brillante, die rondoartig und spielfreudig zwischen Solist und Orchester hin und her geworfen werden" (M. Gräter). George Gershwin, fraglos Amerikas populärster Komponist, studierte bei Charles Hambitzer, Edward Kilenyi und Rubin Goldmark. Den in Brooklyn (New York) Geborenen führte seine Karriere vom Broadway zur Carnegie Hall, d. h. sein Weg führte ihn von der Unterhaltungsmusik, von der Operette, vom Film, vom Jazz zur sinfonischen Musik. Paul Whiteman, Begründer des Sweet-Jazz, engster Freund und Mitarbeiter Gershwins, entwickelte mit diesem ein Pro gramm, das Whitemans Arrangeur Ferde Grofe folgendermaßen formulierte: „Die besseren Elemente des Jazz mit der Kunstmusik zu verschmelzen und die Basis zu schaffen für eine Reihe sinfonischer Schöpfungen von typischem Aus druck für unsere Nation." Diese Aufgabe hat Gershwin, der 1919 mit erfolgreichen Schlagern und Bühnenmusiken begann, um nach 1935 ausschließlich Filmmusiken für Hollywood zu schreiben, durchaus erfüllt. Er schuf u. a. 50 Musicals, zahllose Songs, die bekannte „Rhapsody in Blue", ein Klavierkonzert, die 1928 urauf geführte sinfonische Dichtung „Ein Amerikaner in Paris", die einen großen Publikumserfolg errang, die 2. Rhapsodie, die „Cuban-Ouvertüre" und die Ne gervolksoper „Porgy und Bess" (1935), die zweifellos den Höhepunkt seines ge samten Schaffens bildet. Daß Gershwins Musik noch heute trägt, ist der Tatsache zuzuschreiben, daß sie ihre reiche melodische Erfindungskraft aus der amerika nischen Volksmusik schöpft. Wenn der Komponist auch gelegentlich veristische Elemente verarbeitete oder Zugeständnisse an die herrschende Musik-Mode seiner Zeit machte, so schrieb er doch niemals für die herrschenden Kreise Ame rikas, sondern immer für das amerikanische Volk. Genau das treffen die Worte Dmitri Schostakowitschs, der einmal äußerte: „Wovon spricht Gershwins Musik? Sie spricht von den einfachen Leuten, von ihren Sorgen und Freuden, von ihrer Liebe, ihrem Leben. Und darum ist seine Musik wahrhaft national" und volks tümlich, wie man ergänzen möchte. Im Frühling 1928 unternahm Gershwin eine Auslandsreise zu Studienzwecken. Doch abgesehen davon, daß auch die Lehrersuche (u. a. sprach er bei Pro kofjew, Ravel und Strawinsky vor) nicht immer von Erfolg gekrönt war, blieb ihm bei den zahlreichen gesellschaftlichen Verpflichtungen, Begegnungen mit be rühmten Persönlichkeiten und Theaterbesuchen in Paris, Wien, London und an dernorts kaum Zeit und Ruhe für sein geplantes Studium. Doch brachte er von dieser ausgedehnten Europafahrt immerhin sein eindrucksvollstes, vielleicht ge schlossenstes Orchesterwerk mit, die autobiographische sinfonische Dichtung „Ein Amerikaner in Pari s", die von der ganz eigenen Atmosphäre der französischen Hauptstadt inspiriert worden war. Das Werk wurde am 13. Dezem ber 1928 in der Carnegie Hall durch die Philharmonic-Symphony Society von New York unter dem Dirigenten Walter Damrosch erfolgreich uraufgeführt und in späteren Jahren sogar verfilmt. Für das Verständnis seiner einsätzig-dreile:- ligen sinfonischen Dichtung „Ein Amerikaner in Paris" gab der Komponist selbst folgende Hinweise: „Das Werk, eigentlich ein rhapsodisches Ballett, ist sehr frei und ist meine modernste Musik bisher. Der Eröffnungsteil wird in typisch französischem Stil durchgeführt, in der Art von Debussy und den .Sechs' (französische Kompo nistengruppe, zu der Milhaud, Honegger, Poulenc, Auric, Satie und Taiilefer ge hörten, die um 1920 eine gemäßigt expressionistische, musikantische Musizier haltung vertraten), obwohl die Themen alle original sind. Meine Absicht ist, die Eindrücke eines amerikanischen Reisenden wiederzugeben, der durch Paris schlendert, der auf die Straßengeräusche hört und die französische Atmosphäre in sich aufnimmt. Wie in meinen anderen Orchesterwerken bin ich nicht be strebt, irgendeine bestimmte Szene in Musik zu setzen. Die Rhapsodie ist pro grammatisch nur in einer allgemein impressionistischen Art. Dem fröhlichen Er öffnungsteil folgt ein klangvoller Blues auf einer streng rhythmischen Basis. Unser amerikanischer Freund ist vielleicht in ein Cafe eingekehrt. Nachdem er einiges getrunken hat, ist ein Anfall von Heimweh über ihn gekommen, er fühlt sich fremd. Die Harmonik ist hier intensiver. Der Blues steigt zum Gipfelpunkt. Eine Coda folgt, in der die Musik zurückkehrt zum sprühenden Überschwang des Eröffnungsteils mit den Impressionen von Paris. Wahrscheinlich hat der heim wehkranke Amerikaner den Zauber des Blues überwunden, als er wieder an die frische Luft kam. Er denkt: Paris ist kein schlechter Fleck, es ist nicht fremd. Schön ist das Leben, nichts zu tun bis morgen. Ein echter Charleston ve-eint sich mit Pariser Themen." Und Brigitte Schipke, eine Biographin Gershwins, ergänzt diese Ausführungen des Komponisten folgendermaßen: „Zum Schluß kehren alle drei Hauptthemen wieder: das fröhliche Debussysche Eröffnungsthema mit seinem Ragtime-Rhyth mus, der sehnsuchtsvolle Trompetenblues und der Charleston. Alle purzeln noch einmal durcheinander und haften unauslöschlich im Gedächtnis der Hörer. Hier hat Gershwin wirklich nicht mit charakteristischen Zeichen gespart. Dem ersten Thema, das dem Pariser Leben verhaftet ist, folgt das Tuten von Pariser Auto hupen — man kann sie nicht vergessen! Das zweite Thema ist ein typischer Blues, e'ne Neger-Liedform von zwölf Takten, in der zweimal vier Takte dieselben har monischen Wendungen bringen. Der dritte Viertakter bildet den gewichtigen Abgesang, die harmonische Ausatmung über die Dominante hin zur Grundtonart. In Gershwins .Amerikaner in Paris' wird die Form von einer gestopften Trompete mit so sehnsuchtsvoll einfachen Melodiebögen erfüllt, wie es noch gerade mög lich ist. Danach wird man von den plötzlich einbrechenden Charleston-Tak'en zu solch ausgelassener Fröhlichkeit angesteckt, daß auch dieser dritte Teil sich unvergeßlich dem Gedächtnis einprägt." Programmblätter der Dresdner Philharmonie - Spielzeit 1977/78 - Chefdirigent: Prof. Herbert Kegel Redaktion: Dr. habil. Dieter Härtwig Die Einführung in Bizets Sinfonie stammt von S. Nigg, Konzertbuch, DVfM, Leipzig 1972 Druck: GGV, Produktionsstätte Pirna - 111-25-12 - 2.65 T. ItG 009/2/78 EVP 0,25 M »hiharmonie 6. ZYKLUS-KONZERT UND 6. KONZERT IM ANRECHT C 1977/78