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Wöchentii» erscheinen drei Nummern. Pränumerntions-Preid 22^ SNbcrqr. (r Thlr.) »ierteliähriich, 3 Mr. für daS ganze Jahr, okne Erhöhung, in allen Theilen der Preußischen Monarchie. Magazin für die Pränumerationen werden von jeder Buchhandlung (in Berlin bei Veit u. Comp., Iägerstrake Nr. 28), so wie von allen König!. Post-Aemtern, angenommen. Literatur des Auslandes. . 1^ 16. Berlin, Donnerstag den 6. Februar 1843. Frankreich. Thiers, als Geschichtschreiber. Es wäre kein Wunder, wenn der bedächtige Deutsche an seiner Gründ lichkeit noch einmal zn Grunde ginge. Wenn die Nachbarn einem großen Ziele zueilen, erkennt er wohl auch die Nothwendigkeit, sich auf den Weg zu machen, aber es wäre ja ungründlich gereist, wenn er nicht jeden Strauch unterwcgeS ins Auge faßte, wenn er nicht ab und zu Halt machte, um aus- zumessen, wie weit er gekommen und wie viel ihm noch übrig bleibt, wenn er nicht namentlich auf jeder erreichten Höhe verweilte, um sich an der Aus- ficht in die prächtige Zukunft zu weiden. Der Nachbar ist unterdessen am Ziele angelangt; er kommt allmälig auch dahin, freilich etwas spät, aber er hat doch den Trost, daß er gründlich zu spät gekommen ist. Zn Deutsch land wird unbestritten mehr gearbeitet und gelernt als in allen übrigen Län dern der Erde, ob aber auch mehr gehandelt und gekonnt? das ist sehr die Frage. Frisch, fröhlich und frei ins Leben hineinzugrcifen, schaffend die Ge genwart zu gestalten und die Zukunft zu pflanzen, Ideen praktisch und un mittelbar weithin wirksam zu machen, das ist für den Deutschen eine schwere Sache. Es kommt freilich noch der Uebelstanv dazu, daß Jedem, der es etwa versucht, ein Dutzend Andere auf den Dienst lauern. Dem ist er unwissen schaftlich gewesen (ein sehr beliebtes Schlagwort), Jenem hat er bestehende Verhältnisse, dem Dritten gar Personen verletzt. Wem durch längeren Aufent halt im Auslande die Bewegung der freien Presse geläufig worden ist, dem kommt bei seiner Heimkehr ein ganz besonderes Gefühl an, wenn er die Aengst- lichkeit sieht, mit welcher häufig genug Schreiber wie Leser jede kühnere Re- gung dieses oder jenes Blattes beobachten. Doch ganz abgesehen von diesen Verhältnissen, deren Einflüsse sich der Einzelne nicht entziehen kann, wäre cS sehr zu wünschen, wenn die Deutschen im Allgemeinen vom Nachbar überm Rhein oder überm Kanal ein wenig reden, schreiben und handeln lernten, unbeschadet der echten und wahren Gründlichkeit. Wir leben zumal gegen wärtig, was Niemand leugnen kann, in einer schweren und schwülen Zeit; wir bedürfen entschiedener Charaktere, die mit raschem und sicherem Ueberblicke dir Verhältnisse des Vaterlandes zu überschauen und daS Wort wie die Feder mit Gewandtheit zu führen wissen. Wenn wir diese Worte der Schilderung der schriftstellerischen Thätigkeit des Herrn Thiers voranstellen, welche wir nach der beredten Darstellung Sainte-Beuve's in möglichster Kürze wicdergebcn, so beabsichtigen wir damit keincSwegeS, ihn als Ideal eines Staatsmannes zu preisen; denn die Politik ist eS nicht, welche wir diesmal ins Auge fassen, auch möchten gerade die Sympathiccn für seine Politik in Deutschland ziemlich schwach befunden werden, da sie im Gegentheil, wie Herr von Bussieres neuerdings ganz rich tig in der Pairs-Kammer bemerkte, sich allgemein dem tieferen Talente und der wegen ihres intensiveren Gehaltes gemäßigteren Handlungsweise Guizot'S zuwcnden: sondern es ist der leicht erregliche und dennoch scharfe Beobachter, der unermüdliche und doch seine Thätigkeit beschränkende Arbeiter, der viel seitige und dennoch bestimmte Zwecke sicher verfolgende Schriftsteller, von dem wir meinen, daß er in mancher Hinsicht Manchem zum Muster dienen könnte. Adolph ThierS wurde im Jahre 1797 zu Marseille geboren und erhielt seine erste Bildung als Stipendiat auf dem Lpceum seiner Vaterstadt. Neben den klassischen Studien betrieb er besonders fleißig die Mathematik, denn er gedachte sich der militairischen Laufbahn zuzuwenden, nach welcher damals Alles drängte. Bei dem Sturze des Kaiserreichs aber gab er dieses Vorhaben auf und ging gegen Ende des JahreS 1815 nach Air, um die Rechte zu studiren. Hier schloß er die enge, unwandelbare und für Beide so ehrenvolle Freundschaft mit Mignet, eine Freundschaft, welche so wenig Leute von Talent über die Jugendjahre hinaus unverletzt zu erhalten wissen. Obgleich er seinen Rcchtsstudien fleißig oblag, beschäftigte er sich dennoch daneben mit Philosophie und höherer Mathematik und studirtc Leibnitz und Descartes. Zn seiner gekrönten Lobrede auf BauvenargueS, welche von der Akademie zu Air als Preisaufgabe gestellt worden war, finden fich Spuren von dem Erfolge dieser seiner Studien. Er gewann jedoch den Preis nicht im ersten Anlauf, denn cS begab sich folgende Geschichte. In jener noch von den Leidenschaften des JahreS 1815 heftig bewegten Stadt deS Südens wurde der junge liberale Advokat von einem Richter alten Schlages, d'Arlatan de Lauris, der seinen Geist und sein Talent erkannt hatte, sehr begünstigt und aufgemuntert. AuS der Lebhaftigkeit, mit welcher d'Arlatan die anonyme Abhandlung in der Akademie vertheidigte, crriethen seine politischen Gegner, daß sie von ThierS sey, und schoben einmüthig den Preis auf daS folgende Jahr hinaus, als wäre die Arbeit in der That nur des zweiten Platzes würdig. Thiers hielt sich noch nicht für geschlagen, sondern als der Ablieferungs-Termin heran rückte, schrieb er geschwind noch eine neue Abhandlung, ließ sie aber diesmal mit der Post von Paris aus ankommcn. Das Geheimniß wurde gut bewahrt, und die Gegner beeilten sich, die neue Abhandlung der allen gegenüberzu- ftellen, jener den Preis und dieser nur das Accessit zu geben. Als inan nun die Namen entsiegelte, fand man, daß beide Arbeiten von Thiers waren; die Herren Akademiker machten lange Gesichter, und d'Arlatan lachte sich ins Fäustchen. Dieser Sieg hätte den Ruf des jungen Advokaten in Air voll ständig befestigt, wäre er nicht eben in jener Zeit nach der Hauptstadt ab gereist. Jene erste Arbeit des Herrn Thiers zeichnet sich durch Zweierlei auS; einmal durch den Stpl: — es kommen nämlich anderweitig ganz tüchtige Leute in der Regel erst allmälig dahin, zu schreiben wie man denkt und den Stil dem Inhalte anzupassen; ThierS hat selbst hier, bei seinem ersten Aus. treten, keine andere Theorie gehabt, und diese gänzliche Abwesenheit aller Rhetorik ist nicht zu übersehen; — zweitens durch die Grundidee, welche die bewegende für sein ganzes Leben geblieben ist. Er meint nämlich, daß Vauve- uargueS allein eine vollständige Theorie über den Menschen, sein Wesen «nd seine Bestimmung aufgestellt habe, insofern er die Welt als ein großes Ganzes betrachtet, in welchem Jedes seinen Platz hat, und das Leben als eine Thätig- kcit, welche der menschlichen Kraft den Zweck setzt, fich durch Hindernisse zu üben. Wie nun auch der Philosoph über diese Ansicht urtheilen möge, sie zeugt offenbar von Entschiedenheit deS Charakters und von innerem Berus für das praktische Leben. ThierS hat auch später niemals unterlassen, fich bei Gelegenheit gegen eine herrschende Richtung unserer Zeit auszusprechen, welche darin besteht, daß der Geist fich auf sich selbst zurückzieht, fich selbst zergliedert und seine eigenen Bewegungen erzählt, statt daß er suchen sollte, fich neue Anregung zu verschaffen oder bei Anderen hervorzubringen. Er nennt dies die impressive Weise deS DasexnS und glaubt, daß sie der natürlichen Bestim- mung des Menschen widerspricht, welche aktiv ist. Er selbst lebt ganz in der letzteren Weise. In Paris war ThierS an Manuel empfohlen und wurde eS durch diesen an Lafitte und an Etienne; er kam an den Lonntitutionnel zur selben Zeit als Mignet an den vourrier. Die beiden Freunde machten bald Glück, jeder in seiner Art. Mit dem ersten Tage war ThierS der gewöhnlichen Redaction des vonstitimolwel, mit Ausnahme Etienne's, gleich oder, richtiger, über legen. Unter den Artikeln jener Periode ist als besonders charakteristisch die Rezension der Broschüre des Grafen von Montlofier „über die französische Monarchie am I. März 1822" hcrvorzuheben. Die Entrüstung eines gesunden Kopfes über ein so unzusammenhängendcs Gerede, der Schmcrz eines Jüng. lingS über die Verirrung eines alten Mannes, daS Selbstgefühl eines auf strebenden Bürgerlichen, der seine Partei gegen den verknöcherten Patrizier vertheibigt, der Eifer des künftigen Historikers, verehrte Namen zu schützen und zu rechtfertigen, und dabei die Ehrfurcht vor den grauen Haaren: alles daS wirkt zusammen, um dem Aufsatze einen besonderen Glanz zu verleihen. Aber nicht auf dem politischen Gebiete allein versuchte fich der junge Schriftsteller; damals, wie heutzutage, pflegten angehende TageSschriststeller über allerlei Gegenstände zu schreiben. Irgend Jemand hat gesagt: man fängt immer damit an, von den Dingen zu sprechen, und hört zuweilen da. mit auf, sie zu lernen. DaS Wahre an der Sache ist, daß ausgezeichnetere Talente damit anfangen, etwas zu errathen, und allmälig dahin gelangen, eS vollständig und gehörig zu wissen. So ging eS Herrn ThierS mit der Kritik der Gemälde-Ausstellung im Jahre 1822, welche im Oonscicutwiinel erschien. Läßt auch die kurze Uebersicht der Geschichte der Malerei sehr viel zu wünschen übrig, und ist sie namentlich in Beziehung auf Italien, welches Herr ThierS noch nicht besucht hatte, ganz ungenügend, so find doch die all gemeinen Betrachtungen über den Geschmack, über die Kunstkritik und über die Zeichnung sehr verständig und lesenSwerth und verrathen sicheren Takt und natürliche Anlage. Im Herbste 1822 machte ThierS eine Reise nach dem Süden und den Pyrenäen. Die Beschreibung derselben erschien 1823 unter dem Titel: Die Pyrenäen und das südliche Frankreich während der Monate November und Dezember 1822. Der Hauptzweck dieser Schrift war, neue und zuverlässige Nachrichten über die politischen Bewegungen zu liefern, an welchen die öffent liche Meinung damals so großen Antheil nahm. Aber einige Seiten derselben