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Denn er zeigt uns, wie die Franzosen auch auf dieses Gränzland, das seinem germanischen Charakter stets treuer ge blieben, als das Gränzland der Vlaemingen, einen geistigen Einfluß zu ge winnen suchen; er weist uns aber auch indirekt auf das hin, was Deutschland zu thun hat, um sich die in politischer Beziehung sehr werthvolle Freundschaft der Schweiz zu erhalten: „Die Vergangenheit hat aufgehört, ehrwürdig und unantastbar zu sepn in unserer schonungslosen, zerstörungslustigen Zeit. Ihr tiefes Grab, über das sich Jahrhunderte auf Jahrhunderte schichten, schützt sie nicht mehr. Eine Todtenbcschwörerin, steht die Wissenschaft vor dem Grabe, läßt die Schatten erscheinen und zwingt sie, ungeblendct von phantastischen Bildern und ge harnischt vor historischem Respekt, zum Geständniß der Wahrheit. So wirv jedem Volke in unseren Tagen eine neue Geschichte gegeben. Jahrhunderte lang sprach Europa mit Bewunderung von Wilhelm Tell, von der Verschwö rung auf dem Rütli, von den glorreichen Schlachten jener Zeit; aber eben diese große und allgemeine Bewunderung machte unsere lauernde Kritik miß trauisch. In der Schweiz und in Deutschland gelang es ihr, die schönen alten Traditionen zu untergraben; denn einerseits waren solche Untersuchungen ein Reizmittel sür den Geschmack der übersättigten deutschen Gelehrten, anderer seits störten die Wunder bei dem Aufbau einer Philosophie der Geschichte. UeberdieS hat die Schweiz einmal eine wichtige Nolle in Europa gespielt, vornehmlich mit den Päpsten des fünfzehnten Jahrhunderts, mit Julius H. uud seinem Minister, dem Kardinal von Sitten und Bischof von WalliS. Ihre militairischen Republiken waren zu derselben Zeit entstanden, als der Bürgerstand und das moderne Königthum. Sie waren eS auch, die, mit dem letzteren verbunden, den ersten Krieg zur Erhaltung des Gleichgewichts führten. Sie besiegten Karl den Kühnen und lieferten den Fürsten Italiens eine Armee, mit deren Hülse sic daS Fcudalwcsen zerstören und das moderne Regierungsspstem cinführcn konnten. Als das Königthum fiel, waren die Schweizer noch immer an seiner Seite, und sein Sturz gab auch der auS- gearteten Eidgenossenschaft den Todesstoß. Politische Reformen und Revo lutionen haben hier, wie überall, die Gemüther bewegt und Spuren zurück gelassen, und dennoch wurde die Schweiz nicht wie die anderen Länder, ob gleich sie in Sprache, Sitten und Meinungen ein Abriß des heutige» Europa und ein Museum des vergangenen ist. Die Schweiz hat, neben ihrer merkwürdigen Natur, um derentwillen man sie vorzüglich besucht, auch kein unbedeutendes wissenschaftliches Interesse, das abet bis jetzt weniger auSgebeutct ist, als man glauben sollte. Das Land ist moralisch, wie äußerlich, getheilt und verästelt, und wenn die Grän zen von Außen nur einen kleinen Kreis bilden, so durchziehen sie das Land nach Innen in unzähligen Furchen und Falten. Dennoch besichtigen Reisende und Gelehrte die Schweiz nur im Fluge. Deutschland, das im Herzen die Schweiz wenig liebt und, vermöge eines traditionellen Widerwillens, nie geliebt hat, bekümmert sich von allen Ländern noch am meisten um sie. In jedem Sommer trifft man Schaaren von Deutschen auf den Bergen und in den Gasthäusern. Das Oberland ist für sie das ge lobte Land der Naturschönheit und — soll ich es sagen? — des guten Essens. Aber die Deutschen kennen doch in. Allgemeinen dj^Schweiz nur sehr ober flächlich. Ihre Natur- und Geschichtsforscher, ihre Philologen und Juristen studiren sie allerdings mit Ernst und Eifer, wühlen in den Gebirgen, den Bibliotheken, den alten Verfassungen und alten Karten und verfolgen Sitten und Dialekte bis in die letzten Zufluchtsorte, an denen die Gegenwart lange vorübergegangcn ist, ohne sie zu bemerken. Wenig Jahre vergehen, in denen nicht mehrere deutsche Gelehrte die Schweiz zu wissenschaftlichen Zwecken be- fuchcn. Vornehmlich sind die Dialekte eine unerschöpfliche Fundgrube für ihren Forschungsgeist, und es hat sich ereignet, daß ein thurgauischcr Bauer manche Stelle der Nibelungen besser zu erklären wußte, als die Berliner Philologen, so wie die Pariser Herausgeber der romanischen Epopöen gewiß mit großem Nutzen einen Bauern der französischen Schweiz als ihren Mit arbeiter hätten aufnehmcn können. Man weiß ferner, daß Niebuhr, als er seine Untersuchungen über den Ursprung Roms schrieb, die alten Institutionen der Schweiz und selbst die kühnen Parallelen, die Johannes Müller zwischen seinem Vatcrlande und den Republiken des Alterthums gezogen hatte, vor Augen gehabt habe. So erläutert Niebuhr die eigenthümlichc Mischung und Entwickelung der römischen Plebejer, in deren Kaste der Adel der besiegten lateinischen Völkerschaften ausgenommen war, indem er die Lage derselben mit derjenigen der alten burgundischen Vasallen im Waadtlande vergleicht, die, trotzdem sie Adel und Vermögen behielten und selbst mehrere Privilegien hatten, nichtsdestoweniger, gleich dem letzten Bürger und Bauer, den Berner Patriziern unterthan waren. Was die Hauptkapitel der schweizerischen Ge schichte betrifft, wie die Entstehung der Eidgenossenschaft und ihr Verhältniß zum deutschen Reiche, so sind diese von deutschen Geschichtsforschern vielfach und gründlich besprochen worden. Indessen, einige Gelehrte ausgenommen, macht man sich in Deutschland, wie bei allen Nachbarvölkern der Schweiz, die seltsamsten und unrichtigsten Begriffe von diesem Lande. Die allgemeine Meinung stellt sich dasselbe als eine wilde, sich selbst überlassene Gegend vor; von den politischen und sozialen Verhältnissen aber weiß sie nichts. In Frankreich ist die Kenntniß davon eben, falls sehr mangelhaft; man urtheilt dort zu sehr nach dem Augenschein, aber man würdigt wenigstens den demokratischen Geist der Kantone, obgleich man sich nicht bewußt wird, worin das Wesen desselben liegt. ES ist dies eine politische Richtung, die den Einzelnen in sein volles Recht cinzusetzen strebt, also der französischen, zu centralisiren, völlig entgegengesetzt ist. Deutschland hat nicht bloß einen wissenschaftlichen Zweck, indem es sich für die Schweiz intcressirt. ES studirt nicht nur die Geschichte dieses Landes, sondern vindizirt sie für sich selbst, spricht der Schweiz die eigene Nationalität ab und zeigt ihr das einige Deutschland, diese tausendjährige Chimäre, als den Mutterschoß, in den sie znrückkehrcn muß. Ecst voc kurzem sind lange Abhandlungen geschrieben worden, um sic zum Anschluß an den Zollverein zu bewegen; ja die deutschen Publizisten haben stets die naive Behauptung aus gestellt, daß der westfälische Friede nur die Reichsunmittelbarkcit der Schweiz, festgesetzt habe, nicht aber ihre Trennung vom Reiche. Dem Allen wider spricht die wirklich vorhandene Antipathie zwischen beiden Völkern, die aus der Verschiedenheit ihrer Charaktere hcrvorgegangcn ist und nicht weniger ties wurzelt, als diejenige, welche in der Stammverschiedenheit ihren Grund hat. In der That, man kann behaupten, daß es der Schweiz schwerer werden würde, eine deutsche Provinz zu werden, als es dem Elsaß wurde, sich Frankreich einzuverleiben, und wer weiß, ob die deutsche Schweiz nicht an Sitten, Geist und Charakter weniger deutsch ist, als die französische französisch. Woher mögen diese Unähnlichkeiten zwischen zwei benachbarten Völkern zu leiten sepn, die doch ursprünglich ein einziges Volk waren und von denen das größere das andere eigentlich hätte sich amalgamiren müssen? Schon die Sprache ist hierbei vielleicht nicht ohne Einfluß. Der schweizerische Dialekt ist weit mehr eine Original-Sprache, als das romanische Patois der fran zösischen und italiänischen Schweiz. Ein wenig zugestutzt, aber immer noch sehr weit vom Hochdeutschen entfernt, ist er in den Chroniken, National- Werken und Staats-Urkunden Schriftsprache gewesen. Er hat also bei weitem mehr Lebens-Elemente in sich, als diejenigen Dialekte, die in den nicht deutschen Kantonen einheimisch sind, und während diese so im Verschwinden begriffen sind, daß sic nicht einmal mehr in allen Dörfern gesprochen werden, erhält sich der schweizerische Dialekt weit besser. Er wird in den Städten angetroffen und ist die Sprache der Tagsatzung. In den Dörfern, selbst in denjenigen, die jährlich von Tausenden von Fremden besucht werden, geschieht es nicht selten, daß einem Deutschen, der in seiner reinen Muttersprache die einfachste Frage an einen Mann aus dem Volke richtet, geantwortet wird: „Herr, ich verstehe kein Französisch." Aber die Verschiedenheit der Sprachen, die doch mit der Zeit einmal ver schwinden muß, kann nicht der wesentliche und einzige Grund der nationalen Abneigung zwischen Schweizern und Deutschen sepn. Die schweizerische Na tionalität ruht auf einer weniger materiellen als moralischen Grundlage; sie ist schwerer zu fassen, wurzelt aber desto tiefer. Man muß sie in den Tra ditionen, Sitten und Einrichtungen, in der Geschichte suchen, und nicht nur im Klima und der Figuration des Bodens. Was die Nationalität macht, ist der Charakter, und ein Volk, das nichts EigcnthümlicheS hat, als eine be sondere Sprache, ist darum noch keine Nation. Die Schweizer sind vor Allem ein ackerbauendes, kriegerisches und repu blikanisches Volk. Selbst wo sie sich der Industrie widmen, haben sie das ländliche Leben nicht aufgegeben. Die Weber im Kanton Zürich, die Uhrmacher in Neuchatel leben durch das Land zerstreut oder in Dörfern, während in