Volltext Seite (XML)
Dienstag, 29. Januar 1907. 3000 Rr. 21. Zweiter Jahrgang. fluer Tageblatt und Anzeiger für das Erzgebirge ^«icvilweiUicher Be-akicur: Fritz Urnhold. 4,i dir Ziycicitc voranlwortlich: U r« h u r N 11 p j e r. beide iu Aue. iiüt der wöcl)eiitlic1)eil Uuterha!tuiigs>beilage: Illustriertes Soiiiltagsblutt. ^pirchstimde der Bedoklisn mit Aiiruahme der ?r>miloc,c Iiachmiuags von 4—5 Ulir. — o.c1cgrcvnm-Bdreffe: Cageblalt Uuo. — Fernsprecher 202. Für unverlangt eingesandte Manuskripte kann Gewähr nicht geleistet werden. Druck und Ucrlag Gebe Uder BcnI <> nee (Inh.: Hanl Bcuthner) in Uuc. D ezogspr ei». Durch unser« Loten srei ins lfous monatlich so 0sg. Bei der Geschäftsstelle adgeholt monatlich öfa und wächrntlich ,o pfg. — Bei der Post bestellt und selbst abgeholt vierteljährlich i so Mk. — Durch een Briefträger frei in» Haus vierteljährlich ,.gr Mk. — Einzelne Nummer t<> psg. — Deutscher postjeitinigs- katalog — Erscheint täglich in den Mittagsstunden, mit Ausnahme von Sonn- und Feiertagen. Annahme von Anzeigen bis spätestens g's, Uhr vormittags. Für Ausnahme von grätzeren Anzeigen an bestimmten Stellen kann nur daun gebürgt werden, wenn sic am Tage vorher bei uns eingehcn. Znsertionspreis: Die stebengespaltene Aorpuszeile oder deren Baum zo psg., Reklamen 25 Psg Lei grSßeren Austrägen entsprechender Rabatt. Vies« unrfatzt (> Seite« Das Wichtigste vom Tage. Um einer Bedrohung liberaler Errungenschaften vorzubeugen, sollen die bisher liberalen Wähler bet den Stichwahlen nur solchen Kandidaten ihre Stimme geben, die Gewähr dafür bieten, daß das nicht geschehen wird. — Die Zrntrumvlcutc in Rheinland-Westphalen wurden in keinem Halle einem Sozialdemokraten ihre Stimme geben ' Bei der Grubentatastrophe im Sa ar gebiet sind annähernd 3 00 Menschen ums Leben gekommen. Bei einer Explosion schlagender Wetter in Liövin steht die Zahl der Toten noch nicht fest. " Der Pariser Munizialrat sprach gestern in seiner Siyung, zuriickgreisend auf die Teilnahme Deutschlands bei dem Unglück in Eourricreo, seine Anteilnahme an der Naiastrophe im Saargebiet aus. Präsident Falliöres sandte ein Beileidstelegramm an Kaiser Wilhelm. " Die Blahalla hat bei el Khsar einen Kamps mit den Beni Ser iss begonnen. Das Resultat ist noch unbe kannt. ) Näheres siebe innen. Der neue Reichstag. - Nun also sind die Würsel gefallen, der neue Reichstag in gewählt, llnd um es, nachdem die Ruhe halbwegs wieder eingekehrt ist, gleich im voraus zu sagen:cs ist bis jetzt aus keiner Leit« ein besonderer Anlass gegeben, sich Uber den Ausfall b c - sonders zu freuen. Denn was man bis jetzt weiß, das; ist nur eine halbe Wissenschaft, und der vorläufige Sieg, den die Blockparteien errangen, mutz erst vervollständigt werden durch die Stichwahl. Wir wollen hier nicht noch einmal mit dem Zissernmaterial aus allen beinahe vierhundert Wahlkreisen anrücken, sondern nur in aller Kürze den Wahlauosall beleuchten, wie er eben in diese m Stadium beleuchtet werden kann, da man ja nur raten und höchstens sür zwei Drittel der Wahlkreise ein bestimmtes Resultat ansühren kann. Bor allem anderen sieht fest, datz das Zentru m eine nen nenswerte Einbusse an Mandaten nicht erlitten Hal. Alle die bekannten Herrschaften der Partei der Mitte werden wieder im Reichstag einziehen. Herr Dern bürg wird sich wieder den Herren Rocren und Erzberger gegenübcrsindcn, was sür ihn durchaus kein angenehmes Gefühl sein mag. Und sollte das Zentrum wirklich in der Stichwahl das eine oder andere Mandat aus das die Partei sicher rechnet, verloren gehen, so ist das sür die Partei zu verschmerzen. In dieser Richtung hat die Rcichstagsauslösung also keineswegs den Erfolg gehabt, den der Kanzler und seine finanziellen Ratgeber vielleicht be stimmt erhofften. Es hat sich hier eben wieder einmal ge zeigt, datz der Kampf gegen das Zentrum wiederum fruchtlos war, denn das Zentrum verfügt Uber die beste Wahlhilse, die man sich denken kann, ist autzerdem wohl diszipliniert und eben mit einem Wort im Besitze der M acht. Dagegen lätzt sich nicht aufkommen, und man mag an den nationalen Gedanken appel lieren, soviel man will, die Wählerschaft des Zentrums wird immer glauben, datz ein Untergang dieser Partei gleichbe deutend wäre mit dem Untergang der katholischen Konfession, mit dem Kulturkampf in seiner allerschärs- ften Form. Und cs mutz ja schlietzlich auch zugestandcn werden, datz das Zentrum eine gute Wahlparole hat. Wegen der abge lehnten 9 Millionen wurde der Reichstag nach Hause geschickt, der sich sein Vudgetrecht nicht verkümmern lassen wollte! Das klang in der Tat komisch genug! Trotzdem aber die Regierung sich dem Zentrum gegenüber gründlich verrechnet hat, trug vcr nationale Gedanke, oder, um das Kind ohne Phrase beim rechten Namen zu nennen, der Z u s a in m e n s ch l u tz der bürgerlichen Parteien einen schönen Erfolg nach Hause. Denn die Sozialdemokratie hat eine Schlappe erlitten, an die kein Mensch vorher geglaubt hätte. Die äutzerste Linke hat im ersten Wahlgang 29 Mandate erobert, und wenn sie auch in W Wahlkreisen in die Stichwahl gelangt, so will das nicht mehr viel sagen. Porausgesetzt, datz nicht etwa das Zentrum sür die Stichwahlen ein Kompromitz schlietzt, was immerhin auch nicht besonders viel nützen würde, denn in diesem Falle würde sich bei der Austeilung der Mandate das Zentrum natür lich zuerst bedienen. Auf alle Fälle mutz mit einem bedeuten den Abgang an Sozialdemokraten im neuen Reichstag gerechnet werden. Denn man darj wohl erwarten, datz die bürgerlichen Parteien bei den Stichwahlen nicht durch kleinlichen Fraktions geist und durch politische Eifersüchteleien den Erfolg aufs Spiel setzen werden, den sie bei den Hauptwahlen errungen haben. Jetzt ist festes Zusammenhalten absolut notwendig, weil auch die Sozialdemokratie sicher den letzten Mann zur Urne schleppen wird. Mag auch manchem Sozialdemokraten der Doktrinaris mus in der Partei nicht behagen, mögen auch viele mit der Taktik nicht einverslanden sein, soviel Disziplin steckt unbedingt in den Reihen der roten Armee, datz sie bei der Stichwahl sicher nicht die Flinte ins Korn wersen werden. Einen respektablen Erfolg haben die Liberalen aller Schattierungen errungen, der sich, wie die Dinge liegen, vielleicht noch bei den Stichwahlen um einiges erweitert, Die K o n s e r v a r i v c n aber haben den Rahm ziemlich allein abgeschöpft: sie haben nach dem Zentrum die m eiste n Mandate auf den ersten Ansturm gewonnen. Das halten wir eigentlich nicht für gut, denn was von den Konservativen sür das ocutsche Volk Gutes kommen könnte, das können wir uns nicht denken. Die Polen haben ein paar Mandate gewonnen, im übrigen scheint der Besitzstand der Parteien ziemlich der gleiche bleiben zu sollen, wenigstens stehen bedeutende Verschie bungen nicht in Aussicht. Die Freis innige Bolkspar- t e i hat recht gut abgeschnitten und ist an sehr vielen Stich wahlen deteilgt, Welfen, Bund der Landwirte und Vauernbünd- ler haben verloren. Nun finden sich in der Rcgierungspresse bereits Jubelartikel über die gesicherte Mehrheit, die die Regierung im neuen Reichs tag unbedingt haben werde. Ein hoher Regierungsbeamter hat sogar einem Aussragcn gegenüber die Opposition bereits mausetot gesagt. Keine Illusionen! Die Regierung hat die gewünschte Mehrheit noch nicht in der Tasche, sondern mutz sic erst verdienen! Es wäre doch undenkbar, daß sich die Liberalen einfach ins konservative Schlepptau nehmen und zur blotzen Jasagemaschine stempeln ließen! Daran glauben wir vor erst noch nicht. Man kann die Lösung dieser an sich etwas kitz- lichen Frage aber vorerst ruhig der Zukunft überlasten. Es wird sich dann schon zeigen, was die Regierung will und was sie geben kann. Im Allgemeinen gibt das bis jetzt vorliegende Resultat weder Anlaß zu besonderem Jubel, noch zur rührsamen Klage. Und eine große Umwälzung in der inneren Politik des Deutschen Reiches bringt der neue Reichstag wohl ebenso wenig, als er besonderen Anlaß zu neuen Konflikten geben dürste. Warten wir also erst einmal noch die Stichwahlen ab, ehe wir zu prophe zcien beginnen. Politische Tagesschau. Aue, 2!>. Januar NN-7 Das Ende der Welfen. I>. Eine interessante Aufstellung über den unglücklichen Ver lauf der Reichstagswahl sür die Welsenpartei enthält die Göt tinger Zeitung. Sie betrachtet die Abstimmung der Welfen vom 13. Dezember 1006 für den S ch w a n e n g e s a n g der Welsen im deutschen Reichstage. Bekanntlich handelte es sich bei dem An trag Ablaß, den die Militärverwaltung annehmcn zu wollen erklärte, um 1 Stimmen. Ohne die Stimmen d«H Welsen wäre der Antrag angenommen und die Auslösung nicht erfolgt. — Bei dieser sür das Schicksal der Partei verhängnisvollen Abstimmung haben folgende Welfen mit Nein gestimmt: l. Freiherr von Ho denberg, (1-1. Wahlkreis Celle-Peine-Eishorn), 2. Freiherr von Wan gen he im (16. Wahlkreis Lllneburg-Winsen- Blockede), 3. Freiherr von Scheele (7. Wahlkreis Nienburg- Stolzenau), l. Rittergutsbesitzer Lolshorn (5. Wahlkreis Melle-Diepholz), 5. Landwirtschaftsrat Gütz von Olenhau sen (12. Wahlkreis Göttingen-Münden-Duderstadt). Mit die sen Herren, so schreibt die Göttinger Zeitung weiter, haben nun die Hannoverschen Wähler am 25. d. Mts. gründlich abgerechnet. Die Herren von Hodenberg und von Scheele sind schon im ersten Die russische Geheimpolizei. Die russische Geheimpolizei ist die größte und wirksamste Organisation ihrer Art, die es gegenwärtig gibt: in ihrem Dienst stehen über 30 000 Männer und Frauen, die bei der fort dauernden Unruhe der russischen Verhältnisse alle Pläne und Maßnahmen der Revolutionäre zu erkunden suchen. In der amerikanischen Monatsschrift Cosmopolitan ckntwirst Robert Crozicr Long ein Bild dieser weitverzweigten Institution. Die Zahl von 30 00 Angestellten kann nur ganz ungefähr sein, da die Mitglieder der Othrana oder politischen Geheimpolizei beständig vermehrt, aber in den offiziellen Veröffentlichungen mit keiner Silbe erwähnt werden. Die ganze Einrichtung der Geheimpolizei existiert überhaupt vor dem russischen Gesetz nicht: sic erscheint auch nicht in dem kaiserlichen Budget, sondern führt ein heimliches Leben im dunklen Schatten der großen Ereignisse: von ihr wird nur flüsternd gesprochen, und sie stellt sich dar als eine ungeheure unfaßbare Macht, die in tausend Eerscheinungen hier und da plötzlich austaucht, durch das ganze weite Land hin ihr unheimliches Wesen treibt und doch keinen Mittelpunkt, keine irgendwie sichtbare und erkennbare Form besitzt. Die Geheimpolizei gehört durchaus nicht zu den. regel mäßigen Sicherheitsdienst oder den Gendarmerietruppen, die vom Ministerium des Innern geleitet werden: sie ist unabhängig von allen offiziellen polizeilichen Organisationen, nur dem Na men nach dem Minister des Innern unterstellt, aber in Wirk lichkeit von den verschiedensten Orten aus gelenkt, bald zu dieser, bald zu jener Ausgabe verwandt. Ueberall, wo Unruhen ent stehen und Gewalttätigkeiten vorkommen, da stellen sich die Männer der Geheimpolizei ein, und dann wird über den Ort der Zustand des verstärkten Schutzes oder des außerordent lichen Schutze» verhängt, währenddessen die Geheimpolizei ihre furchtbare Macht und Wirksamkeit entwickelt. Da werden Hun derte, ja Taufende von verdächtigen Personen verhaftet, Haus suchungen vorgenommen, die Druckereien geschlossen. Die ge- »ähnltchften Obliegenheiten der Geheimpolizei liegen darin, in allerlei Verkleidungen verdächtige Personen auszukund- schasten oder auch auf die Volksmasten im Sinne der Regierung einzuwirken. Speziellere Aufgaben der Okhrana sind die Bc- schiitzung des Zaren, der Großfürsten und der Minister. Der Palast des Zaren ist immer von einem 'Netz von Geheimpolizisten umsponnen, die als Reisende, Arbeiter oder unter einer anderen Maske aus den Eisenbahnstationen, aus den zum Palast führen den Wegen und Gängen, im Part und an den Eingangstllren ausgestellt sind P l e h w e , oer Minister des Innern, war stets von einer Schar von mehreren hundert Detektivs umgeben und wurde doch durch ein Vombenattentat am helllichten Tage ge tötet: bei dem Attentat in Stolypins Sommervilla waren 35 Geheimpolizisten als Portiers, Lakaien und Bittsteller an wesend: dennoch drangen die Revolutionäre unbemerkt bis zu der Tür von des Ministers Arbeitszimmer vor. Die zahlreichen Attentate beweisen überhaupt, datz die Geheimpolizei trotz ihrer großartigen Organisation gar häufig gegen den Todesmut und die Kühnheit der Terroristen machtlos ist. Denn die höhere In telligenz ist aus Seiten der Revolutionäre, während sich für die Dienste der Geheimpolizei meistens nur mäßig gebildete Indi viduen finden, die mit einem Gehalt von 70 bis 100 Rubel im Monat zufrieden sind und die schweren verantwortungsreichen Ausgaben ungern übernehmen. Sehr groß ist die Zahl oer Detektivs, die der Polizei ge legentliche Mitteilungen machen. Diese Angeber, die sich aus allen Kreisen der russischen Gesellschaft rekrutieren, sind mit dem dichtesten Schleier der Anonymität umgeben, werden nur als Nummern geführt und nie genannt: denn ein Spion, besten Name bekannt ist, verliert nicht nur seinen Wert, sondern ist auch dem sicheren Tode durch die Verschwörer verfallen. Der Oberst G c r a s u i m o w i t s ch, der gegenwärtige Leiter der St. Petersburger Geheimpolizei, ist der einzige lebende Mensch, der Namen und Geschichte der Tausende von Spionen kennt, durch die er seine Mitteilungen erhält. Selbst die Geheimpolizisten ken nen einander nicht. In dem St. Petersburger Gehetmbureau, in dem die fähigsten Detektivs ihre Instruktionen erhalten, sind getrennte kleine Vorzimmer eingerichtet, in das immer nur ein Mann htneingelassen wird, bevor er das Zimmer de» Chefs b«. tritt, und er verläßt diesen Raum durch eine andere Türe, die ihn wieder ungesehen ins Freie führt. Ein Geheimpolizist darf sich nicht photographieren lasten außer zu offiziellen Zwecken: er darf sich nur zu erkennen geben, wenn er verhaftet wird, und es kommt nicht selten vor, datz Geheimpolizisten einen Kollegen gefangen nehmen. Die fähigsten Elemente der russischen Ge heimpolizei kommen aus dem Lager der Revolutionäre, unter denen es viele begeisterungstrunkene junge Burschen gibt, die, wenn oer Rausch verflogen ist, ihre Gesinnung ändern und die nützlichsten Mitglieder der Körperschaft werden, die ihre früheren Genossen verfolgt. Auch Frauen finden sich in großer Anzahl unter den Spionen, die gelegentlich der Othrana dienen. Ve sonders Trepow sicherte sich mit Vorliebe die Hilfe der Frauen, die ihm beim Auskundschajten von Geheimnissen die wirksamste Hilfe leisteten. Nicht selten kommt cs vor, daß solche Spioninnen, ohne daß sie es wissen, den Geliebten verraten und dem Tode ausliesern. Die Geheimpolizei hat auch eine Anzahl Aus länder in ihren Diensten, die besonders in Paris, London und der Schweiz mit russischen Geheimpolizisten zusammen arbeiten. Selten freilich findet sich unter den russischen Detektivs ein solches Genie wie Gabriel Kabanow, der dreißig Jahre hindurch die Polizei an die Verschwörer und die Verschwörer an die Polizei verriet. Er war ein vorzüglicher Sprachkenner, der die wichtigsten europäischen Sprachen so glänzend handhabte, datz ihn niemand sür einen Ausländer gehalten hätte, und sich russisch in zwölf verschiedenen Dialekten ausdrllcken konnte: er war ein Philosoph, ein Maler, ein Sportsmann, kurz alles, was er wollte. Aber seine Verschwendungssucht, seine Vorliebe für aufregende und gefährliche Abenteuer verlockten ihn, mit den Revolutionären und der Regierung zugleich Geschäfte zu machen und in toll kühnen verwickelten Intrigen beide Parteien an der Nase herum- zusllhren und beiden zugleich zu nützen. In allen europäischen Großstädten tauchte er in den verschiedensten Masken und unter immer neuen Namen auf, war ein Vertrauter der nihilistischen Pläne und zugleich in alle Unternehmungen der. Regierung eingewetht. Für diese Kenntnisse ließ er sich denn auch von beiden Teilen bezahlen, «eil er beiden Teilen zu