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Wöchentlich erscheinen drei Nummern. Prinumeeations- Preis 22j Sgr. (j THIr.) vierteljährlich, Z Tdlr. für das ganze Jahr, ohne Er höhung, in allen Theilen der Preußischen Monarchie. Magazin für die Man pränumkrirl aus dieses Beiblatt der Mg. Pr. StaatS- Zeitung in Berlin in dec Expedition (Mohren-Straße Nr. 34); in der Provinz so wie im Auslände bei de» Wodllöbl. Post-Aemtern. Literatur des Auslandes. 7. Berlin, Montag den 15. Januar 1838. Frankreich. Licht- und Schattenseiten unserer Civilisation. Von Mich- Chevalier- Daß die Civilisation in unseren Tagen wunderbar rasche, großartige und folgenreiche Fortschritte »nacht, — je nun, das leugnet Keiner- Wie die Künste, die Bequemlichkeiten des Lebens sich täglich mehren und vervollkommnen, das fallt Jedem in die Äugen. Die gewaltigsten Kräfte der Naiur.sind dem Menschen dienstbar geworden und müssen für ihn arbeiten. Industrie, Pro duction, Consumtion, rascher Vertrieb, Erwerb und Genuß, — so heißt die Losung in unserer geschäftigen Zen. Die Länder und Völker sind einander näher gerückt, jeder Tbätigken tausend Wege geöffnet, die reichlichsten und vollkommensten materiellen Resultate werden mit geringem Kraftaufwands erzielt. Das Loos der nie deren Vvlksklässen hat sich gebessert, sie haben an Kenntnissen und Bildung zugenommen; viele Lebensgenüsse und geistige Befähi gungen, woran sonst nur die Reichen und die Vornehmen Antheil hatten, sind jetzt ein Gemeingilt Aller geworden- Ja, es läßt sich zuversichtlich prophezeien, daß die Entdeckung und Benutzung der Dampfkraft eine neue Aera in der Geschichte der Menschheit her beiführen, den Menschen im vollen Sinne des Wortes zum Herrn der Erde machen wird, Ueruiu novus »u^citur oräv. — Dürfen wir unbedingt in dies Loblied auf die neue, auf die kommende Zeit einstimmcn? Ist der Fortschritt der Civilisation nur durch mate rielle, nicht auch durch moralische Erfordernisse bedingt? Wen» das Volk sich besser nährt und kleidet, wenn es mehr fabrizirt und mehr liest, als vor hundert Jahren, ist darum wirklich mehr Glück in die Welt gekommen? In unserem Leben herrscht mehr Comfort, mehr Verfeinerung, mehr Luxus, in unserem Gehirn stecken mehr Kenntnisse, mehr Ideen; aber sind darum unsere Herzen zufriedener, ist es um unsere Seelen besser bestellt? Wae sagen uns die Jahrbücher der Kriminal- Gerichtshöfe upd die Register der Findclhäuser? Nimmt wirklich in dem Maße, wie diese neue Civilisation sich ausbreitct, auch die Immoralität zu? Das sind sehr ernste Fragen, Lebensfragen für die Zukunft unserer Gesellschaft. Hier sind die gefährlichen Untiefen, die Klippen, an denen »vir scheitern können; indeß da man zeitig genug darauf aufmerksam geworden ist, so steht auch zu hoffen, daß man ihnen auszuweichcn wissen wird. Wir haben die Aufgabe, die Reform )u resormircn, d. h. sie durch sittliche Kräfte zu läutern und zu befestigen. Die Civilisation muß sich auch noch Vorwürfe anderer An gefallen lassen. Alle diese Wunder der Mechanik, heißt cs, alle diese Resultate, die der menschliche Verstand und Scharfsinn er zielt und worauf er so stolz ist, — wohin werden sie am Ende führen ? Sie werden alle Mannigfaltigkeit, alle Poesie aus der Welt bannen, alle Eigemhümlichkeiten zerstören und nichts übrig lassen, als eine kahle, reizlose Einförmigkeit und Eintönigkeit. Wenn alle Völker unter einander gemengt, wenn alle Schranken zwischen Staaten und Provinzen, zwischen Städten und plattem Lande, zwischen Stand und Stand nicdergerissen seyn werden, wenn das Leben der Menschen sich auf unermeßlichen Strecken überall gleich gestaltet, wird es dann schöner, besser seyn, als jetzt? Es ist löblich, alle drückende Ungleichheiten aus den gesell schaftlichen Ordnungen und Verhältnissen zu entfernen; aber wenn man;gar keine Verschiedenheit bestehen lassen will, so benimmt man auch dein Leben seine bunte Vielgestaltigkeit, man führt einen Zustand herbei, wo Gemüth und Phantasie darben müssen, und man erweist den Geringen und Niederen, die man aus ihrem stillen umfriedeten Daseyn hcrausrcißt, einen schlechieren Dienst als den Hochgestellten, für welche das Aufgeben dieses und jenes alten Vorrechics oder Anspruches eher ein Gewinn als ein Verlust ist- Wo Alle, über einen Leisten geschlagen, in eine Form gegossen wird^ da muß zuletzt auch die freie Entwickelung der Persönlichkeit, bie Selbstständigkeit und Originalität der Charaktere beeinträchtigt werden, und w,e sieht cs dann uin die Freiheit aus? Hüten wir uns, daß aus der Gesellschaft kein Mechanismus, aus dem Staate keine Werkstatt wird, wo der Einzelne nicht mehr zu bedeuten und zu vcrrichlen hätte, als ein Schiffchen am Webestuhl oder ein Stiftchcn an einer durch Dampfkrafl umgelnebenen Walze. Wenn die Masse der sogenannten positiven Interessen alle Seclenkräfte in Anspruch uimmi, muß nicht alles Gemüth und alle bessere Empfindung darunter ersticken? Was wird Familie, Vaterhaus und Vaterland noch zu bedeuten haben, wenn cs auf der ganzen Erde keine Fremde mehr giebl, wen» das halbe Menschengeschlecht beständig auf Eisenbahnen und Oampffahrzeugcn unrerweges ist, wen»; man eine Tour zu den Antipoden macht, wie jetzt nach der Schweiz und nach Italien? Alle Bande des Lebens müssen sich auflockern: die Cohäsion wird immer schwächer, die Expansion immer gewaltiger werden, und am Ende wird die Erde nicht Raum genug für dieses Geschlecht haben. Jeder reisende Hand lungsdiener wird klagen, wie weiland Alexander der Große, die Wen sey ihm zu eng. In Nord-Amerika ha« sich die Civilisation, von welcher hieb die Rede ist, auf weitem Raume, ohne Hcmmniß, am freiesten und umfassendsten entwickelt; do« muß man sie in ihrem Wesen studiren. Noch nie, seit Menschengedenken, hat ein Volk sich in so unglaublich kurzer Zeil über solche Ländcrstreckcn, nicht erobernd, sondern anbauend verbreitet, die Wildniß mit so siegreicher Kraft gelichtet, so zahlreiche und gewaltige Bauwerke ausgeführt. Das thun die großen Zaubermittel, die den alten Republiken unbekannt waren: die Eisenbahnen, die Dampfboote, die Kanäle, die Ban ken, die Zeitungen, die Elementarschulen und vor Allein das nüchtern-praktische Prinzip ihrer Demokratie, das -ielk-xovei-nkwout. Zu dem großen Erie-Kanal, dem ersten in Amerika, wurde der Grundstein am 4. Juli 1817 gelegt. Jetzt nach zwanzig Jahren haben die Amerikanischen Kanal- und Eisenbahn-Linien eine Län- gen-Erstreckung von über 3000 Meilen, mehr als in ganz Europa zusammengenommen. Ein Amerikaner, aus Cincinnati im Staate Ohio, beschreibt, was binnen weniger als 30 Jahren unter seinen eigenen Augen vorgegangen ist, mit folgenden Worten: „Als ich jung war, gab es auf dem Ohio keine andere Fahrzeuge, als kleine Kähne, worin zwei Männer saßen, einer vor», einer hin ten, und sich mit Stangen fortruderten. Dann wurden die Steucrboote mit Kiel und Planken eingeführr: das galt für eine ganz außerordentliche Neuerung und Verbesserung, für das non plu« ultra aller Erfindungen. Aus späterer Zeit erinnere ich mich, wie in Pittsburg die Leute zusammenliefen, wenn im Früh jahre, nach dem Hochwasser, die Kanadischen Boole nach Saint- Louis hinunterfuhren; man sprach hernach das ganze Jahr davon. Damals dauerte die Fahrt den Ohio stromauf von Natchez nach Pinsburg im günstigsten Falle vier Monate, und man war fest überzeugt, es könnte auch mit dem besten Schiffe nicht schneller gehen. Wenn die Schiffer von dieser weiten Reise zurückkamen, schwangen sie sich von ihren Fahrzeugen ans Land mit einem Stolz, mit einem Selbstgefühl, wie Heimkehrende Argonauten oder wie Colombo'S Gefährten nach der Emdeckung von Amerika. Jetzt giebt es keine Schiffer auf dein Ohio mehr: die Dampf boote haben ihnen den Garaus gemacht. Es wagte sich damals kein Weißer mit seinem Nachen in den Meghany"). Ein Kauf mann, der die Reise nach Neu-Orleans amral, galt für einen unerschrockenen Wagehals. Es verging wohl ein Jahr, ehe er zurückkam, und dann staunten ihn die Leute mehr an, als jetzt einen Reisenden um die Welt- Zu beiden Seilen des Ohio war undurchdringliche Wiidniß, und Neu-Orleans lag abgcschnitten von der ganze» civilisirte» Well, toco orbe äivvw'. Wie hat sich Alles um mich verändert! Aus der Wildniß sind blühende, frucht bare Fluren geworden. Der Ohio wimmelt von Damsschiffen, und von den I>n»t-men mit ihren Ruder-Kähnen wird bald nur noch in Mährchen die Rede seyn. Wo man zur Zeit meiner Kindheit nichts sah, als die aus rohen Baumstämmen zusammen- gezimmerten vereinzelten Baracken der Soldaten, der Jäger, der versprengten Ansiedler, da sind volkreiche, gcwcrbflcißigc Städie aufgestiegen. Ich habe es erlebt, daß Fahrzeuge von 300 Tonne»» Last den Weg von Neu-Orleans nach Cincinnati in zwölf bis vierzehn Tagen, dann in zehn, endlich gar in nur acht Tagen zurücklegien- Ich habe binnen einer Woche mehrere Hun den Schiffe, die zusammen über 4000 Tonnen hielten, in den Hafei» zu Cincinnati einlaufen sehen. Das Alles haben die Künste und Erfindungen der Mechanik gethan; sie haben in we niger als eine»« Menschenalter dem ganzen weilen Flußgcbieie des Mississippi, des Ohio, des Missouri und ihrer Zuströme eiye neue Gcstall gegeben, aus der Einöde des Urwaldes eine neue Welt voll jungen und lriebkräfligen Lebens geschaffen. Es ist" P Einer »er Quellström» des Ohio-