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und Tageblatt. Amtsblatt für die königlichen and städtischen Behörden za Freiberg and Brand. Berantwortlicher Redakteur Julius Brau« in Freiberg. 31. Jahrgang. - -- - Erscheint jeden Wochentag Abends 8 Uhr für den l! Inserate werden bis Vormittags 11 Uhr angenom. - ^25s. I Sonntag, dm 2. Novcmtcr. j "-""»L'L'LTS'""*"' 1879. Die prasidentenwah!. Die Würfel find gefallen! Im preußischen Abgeord netenhause hat die Präsidentenwahl die letzten Zweifel be seitigt, welche Richtung fortan die preußische und damit auch die Politik des deutschen Reiches einzuhalten gedenkt. Ist doch das, was sich in Preußen abspielt, bei der heuti gen Gestaltung des Reiches mehr oder minder von Einfluß auf alle übrigen Bundesstaaten. Bekanntlich hoffte man noch bis zur letzten Stunde, es weide den Nationalliberalen im Verein mit den Freikonser vativen gelingen, eine starke Mittelpartei zu bilden, die ihren Ausdruck in der Präsidentenwahl finden sollte. Die Nationalliberalen hatten ebenso wie die Freikonservativen folgende Reihenfolge festgesetzt: Herr v. Bennigsen Präsident, Graf Bethusy-Huc erster und Herr v. Köller zweiter Vizepräsident. Der am Donnerstag Nachmittag vollzogene Wahlakt ergab jedoch folgendes Resultat: Von 399 abgegebenen Stimmzetteln waren 17 unbe schrieben, so daß 382 giftige Stimmen verblieben; davon erhielt der konservative Herr v. Köller 218, Herr v. Ben nigsen 164 Stimmen, v. Köller war somit zum Präsidenten gewählt und nahm die Wahl unter Zusicherung strengster Unparteilichkeit an. Bei der Wahl des ersten Vizepräsi denten wurden 398 Zettel abgegeben, darunter 21 weiße, so daß 377 giltige Stimmen verblieben; davon erhielt der nationalliberale Herr v. Benda 220, Graf Bethusy- Huc 155 Stimmen, v. Meyer-Arnswalde 1, Richter 1. Herr v. Benda nahm die Wahl an. Im dritten Wahl gange wählte man den ultramontanen Abgeordneten Heere- mann mit 215 Stimmen zum zweiten Vizepräsidenten, während auf Bethusy-Huc 155 Stimmen fielen. Auch der Zentrumsmann nahm die Wahl an. Alle Zweifel sind demnach beseitigt, daß fortan die konservativ-ultra montane Richtung die Herrschaft im größten Staate Deutschlands führt. Bei der Wahl des ersten Vizepräsi denten trat sogar der seltene Fall ein, daß der Abgeordnete v. Benda gegen die Stimmen seiner eigenen Partei gewählt wurde, welch' letztere mit den Freikon servativen für den Grafen Bethusy-Huc eintrat. Der Kernpunkt der Präsidentenwahl liegt in der Frage: Soll in Zukunft eine konservativ-klerikale Mehrheit, oder eine starke aus gemäßigten Elementen bestehende Mittel partei die Herrschaft ausüben? Diese Frage ist nunmehr entschieden; Fürst Bismarck will fortan bei Wtndthorst und Kleist-Retzow, nicht aber bei Bennigsen und Bethusy-Huc Unterstützung suchen. Es läßt sich auch nicht annehmen, daß die Wahl gegen den Willen des Reichskanzlers aus gefallen sei, denn dieser Ausfall liegt jedenfalls mehr bei ihm, als bei den Parteiführern. Wir haben keine parla mentarischen Zustände wie in England, wo die Parlaments mehrheit die Minister macht; bei uns walten umgekehrte Verhältnisse ob d. h. die Minister machen die Parlaments mehrheit. Aber es ist gut, daß wir jetzt klar sehen; denn die Ungewißheit und Verwirrung, worin sich bisher die Parteiverhältniffe befanden, hatte etwas Beängstigendes. Wie das gekommen, ob die Krists nicht zu vermeiden ge wesen wäre, wollen wir hier nicht untersuchen. Fehler sind jedenfalls auf beiden Seiten gemacht worden. Fortan wird die Regierung auf ihre Schaukelpolitik, bald die Li beralen gegen die Ultramontanen und dann wieder die Ultramontanen gegen die Liberalen auszuspielen, wohl verzichten. Man wird von ihr eine rücksichtslose Reaktion auf allen Gebieten des Staatslebens fordern und dieser Forderung dürfte sie sich kaum entziehen können. Es ist ja bekannt, daß Minister V-. Faik weniger über die klerikale Partei, als über die starke Opposition in der evangelischen Kirche stolperte. Sein Nachfolger Herr von Puttkamer ließ längst erkennen, daß er es weniger auf den Weg nach Kanossa, als vielmehr auf die Kräftigung und Förderung der hierarchischen Bestrebungen in der evangelischen Kirche abgesehen hat. Die Bahn ist jetzt frei, die Regierung kann ungenirt jede Revision der Gesetzgebung im rückläufigen Sinne vornehmen. Aber sie wird damit einen Kampf heraufbeschwören, der sehr verhängnißvoll werden dürfte. EinentheilS muß derselbe Parteien gegen die Staats regierung in die Schranken rufen, welche bisher keineswegs gesonnen waren, ihr Opposition zu machen. Der Widerwille gegen eine ultra-orthodoxe Richtung ist im preußischen und im ganzen deutschen Volke weit verbreiteter, als die Minister in Berlin vielleicht glauben. Und wollte der Reichskanzler auch der römischen Kurie gegenüber seine Stellung be haupten, es wird sich dies auf die Dauer nicht durchführen lassen; denn man kann nicht hierarchische Gelüste in der einen Kirche bekämpfen und in der anderen ermuthigen. Jedes Zugeständniß, welches man den evangelischen Ortho doxen macht, kommt auch den Ultramontanen zu Gute. Vor Allen aber muß ein solches System der Begünstigung einer extrem kirchlichen Richtung die Gefahr wachrnfen, daß in unserem Volke das religiöse Leben einschlummert, Jn- differentismus und Atheismus wachsen. Frömmelei und Heuchelei haben stets und zu allen Zeiten nur solche Früchte getragen. Von den Berliner Blättern äußert die Nationalzeitung bei Besprechung der Präsidentenwahl: „Die Koalition der Konservativen und Klerikalen ist siegreich geblieben, nicht wie im Reichstage, im ersten Ansturm, sondern nach be wußtem Kampfe. Sie hat zweifellos gesiegt; von heute ab wird sie zu zeigen haben, wie sie den Sieg zu benutzen ver steht. Die Frage ist auf Aller Lippen: was wird diese Koalition mit ihrem Siege machen, und wer ist dabei der Besiegte?" Selbst die freikonservative „Post" kann ihre Wahl betrachtung nicht ohne ein gewisses Bedauern schließen. Sie erzählt zunächst: „Anderthalb Tage vor der Präsi dentenwahl ging den Freikonservattven von der konser vativen Fraktion die Mittheilung zu, es sei ihrerseits be schloßen: 1) Herren v. Köller, v. Benda, v. Heeremann aufzustellen, 2) an diesen Kandidaturen unbedingt festzu halten, 3) mit anderen Fraktionen nicht zu verhandeln. Eine seltsame Illustration erhielt die Mittheilung dadurch, daß hinzugefügt wurde, die Sache sei im Uebrtgen ja auch abgemacht, da das Zentrum der Liste zustimme. Bei diesem gänzlichen Mangel an Entgegenkommen, sowohl in Bezug auf die Sachlage, als hinsichtlich der Form war für die freikonservative Partei jede Möglichkeit abgeschnitten, auf eine Vereinigung der übrigen gemäßigten Gruppen mit den Konservativen hinzuwirken. Es wurde demzufolge den Nationalliberalen die Liste von Bennigsen, Graf Bethusy, von Köller vorgeschlagen und von diesen in loyalster Weise angenommen, obwohl sie dabei für Graf Bethusy gegen ihren eigenen Fraktionsgenoffen von Benda zu stimmen hatten. Dabei sollte letzterer, trotz persönlicher Abneigung, die Wahl durch Gegner anzunehmen, doch von der Ablehnung im Falle einer eventuellen Wahl zum ersten Vizepräsidenten absehen, um den Schein zu vermeiden, daß die nationalliberale Partei die positive Mitwirkung an den legislatorischen Arbeiten ablehne." — Hierauf schließt das erwähnte Blatt: „So besitzt denn das preußische Abgeordnetenhaus ein Präsidium, zu dessen Wahl in erster Linie das Zentrum mitgewirkt hat. Denn in der ultramontan-konservativen Koalition überwiegt das Zentrum mit den Polen nicht allein numerisch (114 gegen wenig über hundert), sondern hat durch seine größere Geschlossenheit, längere parlamentarische Praxis und die hervorragende Begabung ihrer Führer ein so entschiedenes Uebergewicht, daß ihm die leitende Rolle naturgemäß zufällt. Wie die ehemaligen Mitglieder der neukonservativen Partei in der Rolle als Anhang des Zentrums sich gefallen und wie sie dieselbe mit ihrem Wahlprogramm glauben vereinigen zu können, mag dahin gestellt bleiben. Sie werden aber nicht verkennen dürfen, laß die Befürchtung, es würden nicht ihrer, sondern der extremeren Richtung die Früchte der Vereinigung zufallen, nur zu berechtigt war. Inzwischen wollen wir die Hoffnung nicht aufgeben, daß, wenn erst der Wahlrausch unter der ernüchternden Einwirkung ernster parlamentarischer Arbeit verflogen sein wird, eine den Interessen des Landes mehr entsprechende Richtung sich Bahn brechen wird. Den ge mäßigten Elementen fällt die Aufgabe zu, dafür zu sorgen, daß der Riß, welchen daS mehr von leidenschaftlicher Ge fühlspolitik, als staatsmännischen Erwägungen diktlrte Verhalten der Konservativen bei der Präsidentenwahl zwischen ihnen und den Freikonservattven unzweifelhaft er zeugt hat, in der Zwischenzeit nicht in unheilbarer Weise erweitert wird." Tagesschau Freiberg, 1. November. Auf die Präsidentenwahl im preußische« Abge ordnetenhause, die wir im vorstehenden Leitartikel be sprochen, kommen wir hier nicht weiter zurück. Nur sei erwähnt, daß in der betreffenden Donnerstagssitzung dem Hause die Mittheilung vom Wechsel im Justizministerium gemacht wurde. Der bisherige Justtzminister vr. Leon hardt ist auf sein Ansuchen unter Belassung des Titels und Ranges eines Staatsministers von seinem Amte ent hoben und der bisherige StaatS-Sekretär des Reichs-Justiz- Amts, vr. Friedberg, zum Justizminister ernannt worden. — In der gestrigen Sitzung legte der Finanzminister den Etat für 1880/81 vor. Die Einnahmen betragen 720 712391 M., die Ausgaben 726319 741 M. Letztere übersteigen die ersteren um 5 607350 M-, das Defizit im Extraordina> ium beträgt 42 Millionen M. Der Minister bedauert diese Lage der Finanzen, weist auf die bereits er folgte Hebung d-.r Arbeit und der Industrie hin und hofft auf eine baldige Besserung der Finanzen. Freilich seien Ueberweisungen aus den Reichseinnahmen zu erwarten, gleich wohl sei aber an Steuererlasse nicht »her heranzutreten, als bis das Gleichgewicht der Einnahmen und Ausgaben hergestellt sei. Er stehe auf dem Standpunkt der alten preußischen Tra ditionen, welche vor Allem Ordnung und Sparsamkeit in den Finanzen erheischen, er sei auch gegen alle und jede Luxusausgabe, obschon er keine Ausgabe verweigere, welche für das materielle Wohl und die Hebung des geistigen Lebens des Vaterlandes erforderlich seien. Die Finanz ergebnisse des laufenden Jahres seien recht ungünstig, es sei ein Defizit von 8 744514 M. zu decken und man werde dazu eine Anleihe aufnehmen müssen. Alle Betriebsein nahmen hätten sich verringert, namentlich jene der Eisen- bahnverwaltung und des Ministeriums für öffentliche Ar beiten, doch seien diese Mindereinnahmen durch Ersparnisse gedeckt. Das Justizministerium hatte über ein« Million Mindereinnahme, auch die ersten sechs Monate dieses Jahres wiesen recht erhebliche Mindereinnahmen auf, die sich in etwas durch Minderausgaben reduztrten. Mau mußte daher an den nächstjährigen Etat mit großer Resignation herantreten. Das Gesammtdefiztt im Ordinartum und Extraordinarium betrage 47 Millionen, die man durch eine Anleihe decken müsse. An sich habe die Finanzlage nichts Erschreckendes, ihre Hauptursache bleibe die VerkehrskrtsiS und das Heruntergehen der Betriebseinnahmen. Der ge genwärtige Etat weise auch in den Betriebseinnahmen überall Mindereinnahmen nach, denen nur wenig Minder ausgaben und Mehreinnahmen gegenüberstehen. Das Extra ordinarium von rund 42 Millionen M. erscheine hoch, es kämen aber auf die bereits begonnenen Bauten allein rund 23 Millionen. Die einzige hohe Ausgabe von rund 5 Mill. M. erfordere die Regulirung der Oder, der Elbe, der Weser und der Weichst, welche etwa 10 Jahre Zeit und