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Sächsisch eStaalsMng Staatsan^eiger für den Zreistaat Sachfen Erscheint Werktag» nachmittag» mit dem Datum de» Erscheinung»tage». Bezugsprei»; Monatlich S Mark. Einzelne Nummern 1S Pf. Fernsprecher: Geschäftsstelle Nr. 21298 — Schriftleitung Nr. 14874. Postscheckkonto Dre»d«n Nr. 2486. — Stadtgirokonto Dresden Nr. 140. Ankündigungen: Die 32 ww breite Brundzeil» oder deren Raum 30 Pf, di« 66 ww breite Grundzeile oder deren Raum im amtlichen Teile 60 Pf., unter Ein- gesandt 90 Pf. Ermäßigung aus Gefchäftsanzeigen, Familiennachrichten u. Stellen- gesuche. — Schluß der Annahme vormittag» 10 Uhr. Zeitweise Nebenblätter: Landtags-Beilage, Lerkaufslist« von Holzpflanzen auf den StaatSforstrevieren. verantwortlich für die Redaktion: Hauptschriftleiter Bernhard Jolle» in Dresden. Nr. 202 Dresden, Sonnabend, 30. August 1924 Ak AmlM der Alchen - Gesetze m Reichstag. Berlin, 29. August. Eines solchen Tages spannender Erwartung können sich die erfahrensten Parlamentarier nicht erinnern. Bei früheren großen Entscheidungen wußte man wenigsten; in den letzten Stunden, wie etwa der Aufgang sein würde. Diesmal be- zann der entscheidende Tag mit Unsicherheit, und sie Ungewißheit setzte sich so tanze fort, bi» der Präsident das Ergebnis über die Abstimmung zum Lisenbahngesetz bekrnntgab. Seit dem frühen Morgen drängten sich die Journalisten, zahllose Besucher und Abgeordnete in der Wandelhille. Lin Gerücht, das eb n austauchte und geglaubt wurde, war in wenigen Minuten durch ein an deres überholt. Hinter diesen Gerüchten standen die wechselnden Verhandlungen zrischen den Teutschnaiionalcn, den Volkspa.teilern und et lichen Mini ern. Im Reichstags Sitzungssaal machte inzwischen Abg Breitscheid, im Aufiragr der Fraktion, einen Vorstoß, um vor dem Bolle diesen Tag der Schachergeschäste einer nationalen Partei anzu kreiden. Bis zum Nachmittag glaubt: man, daß die Teutschnationalen doch auf jeden Fall fest bleiben würden, wenn ihr Verlangen nach Minister sitzen nicht befriedigt werden würde. Als man erfuhr, daß man sie, mit ihrem Anspruch auf den Reichskanzlclposten, habe abfahren lassen, nahm man vielfach an, daß nun doch das Gesetz scheitern würde. Aber nein! Nichts dergleichen geschah. Der sonst so bewegliche Herr Hergt saß be- wegungsloS auf seinem Vlatze, der sonst so forsche Graf v. Westarp hielt den Kopf gesenkt, der Führer des völkischen Flügels, der Ritterguts- bescher Schlange, hielt si h im Hint-rgrurd — es >ah aus, als wolle sich immer einer hinter dem anderen verbergen Stand doch die Partei vor dem kläglichsten Umfall, der, nach allgemeinem Urteil, jemals in der deutschen Par- lamenlsg. schichte erlebt worden ist. Bei dem Privatnolenbankgesetz, der Liquidation der Umlaufs an Rentenbankscheinen, bei den Ge- setzen über die Ind striebcla'tunz stimm en, in namentlicher Abstimmung, de Teuischnattonalen noch mit Nein, liberal! wurden Bleististe in Bewegung gesetzt, um zu errechnen, wieoiel noch an der verfassrngsänderi den Mehheit fehle. Es waren rund 30 Stimmen, un) noch immer fragte man sich zweifelnd, ob noch so viele Tentst,- nationale in letzter Minute umsallen würden. — Ter Präsident. ruft da» Gesetz über die deutsche Reichsbahngesellschaft auf. Ein Raunen geht durch das Par'amcnt und durch dir Zuhörer tribünett, die niemals so besitzt waren. Lange wird geMt, aber schon eilt die Fama von Präsidentensitz durch das Parkett der Abgeord neten: angenommen! Dutzendweise sind die TeutschnativnaUn in die Reihen der Erfüllungs- polit ker eingeschwenkt. Da verkündet d:r Präsi- dent das Ergebnis. Tie Kommunisten springen auf und rufen den Teutschnationalrn „Landes verräter!- und andere Schmähworte zu. Kein Protest wird bei den Teutschna ional.-n laut. Dir Deutschvölkischen höhnen zu ihnen hinüber; sie wißen, das sie mindestens das Teilrrbe einer zu- sammenbrecheiden Partei antreten. Bei dem Antrag der Kommunisten, nun einen Volksentscheid herbeizuführrn. enthalten sich die Deutschnationalcn ihrer Stimme. Die Sozial demokratie stimmt dagegen, well, nachdem die Gesetze im Reichstage mir verfassungsändernder Mrhrh.it angenommen sind, der Volksentscheid zwecklos sein würdr. Mitten im wilden Radau und kaum verständlich, gibt dann der Deutsch- völkische v. Graefe eine Erklärung ab, die besagt, das der Reichstag, vor allem aber die Deutschnat onalen, am zehnjährigen Gedenktage der Schlacht von Tannenberg em furchtbare» nationales Verbrechen begangen ^habrn. Die Nalional-Kommunisten, mit denen den ganzen Taz Ludendorff und sein Troß gsstimmt halten, wäre.« über die von Graefe abgegebene Erklärung begeistert und entrüsteten sich, weil die Mehrheit de» Hause» diese tage-ordnungswidrige Erklärung nicht an hören wollte. TaS Mißtrauensvotum der Völkischen gegen die Regierung wurde abgelehnt. Dann beschäftigte sich der Reichstag noch mit den Fürsorgegesetzen für die Ausgewiesenen und Zurückkehrenden, die, auf Anregung der Sozial- demokralie, wesentliche Erfolge für diese Opfer des Ruhrkampfes bringen. Am Sonnabend wnd sich dec Reichstaz in erster Lesung mit der Zollvorlage beschäftigen. * Lei der Abstimmung über das Eijrnbah«- gesetz stimmt.« folgende dentschnationale Abgrordnete mit Ja: Bachman«, Becker (Berlin), I)r. Barth, Bazille, Behrens, Biener, Fürst v. Bismarck, Ehrist, Domsch, Dorsch, Döbrich, v. Trhander, Fletcher, vr Gtrete, Glaser, HL«se, Hartwig, Har-, Hoe-sch, Hülser, Julier, v. Kemnitz, v.Keudell, Klö««e, Koch (Düsseldorf), Krüger (Hoppenrade), Lambach, Lejeune-Jung, Leopold, Lindner, Maretzly, Mumm, NenhauS (Düsseldorf), Paul, Reichert, Freiherr v. Rtchthosen (Breslau), Rippel, Schröter (Liegnitz), Silier, vr. Späh« (Köln), Lchc«k v. Stausfenberg, Strathmann, Betdt, Bogt, Wallraf, v. Di-Pitz. Vs fehlte« Hngenberg, Fra« Böhm «rb «eilnbück. * Heute Unterzeichnung der Londoner Abmachungen. Berlin, 2». «ngnst. Der Botschafter in Lo« on, vr. Sthamer, hat Henle nachmittag Anweisung erholten, die Londoner Abmachungen morge« zu »nterzeichuen. Bürgerblockregierung? Die Erklärung der Bottspariei. Berlin, 29. August. Tas Kompromiß zwischen den Teutschnatio nalen und der Volkspartei in den letzten Tagen vor ver entscheidenden Abstimmung im Reichstag ist aus Grund folgender Entschließung der Deutschen Voltspartei vom 28. August eingeleitet worden: „I« emschridrnder Stunde wendet sich die Fraktion der Deutschen volkspartei an die Deutsch- »ativnaieu: Wir haben volles BerstSndnis da- für, laß in de« Reihen dcr deutschnationalea Boltspartei bittere Enttäuschung über da» i« London Richterreichte herrscht. Wir teile« diese Empfind» ig. Der Londonrr Pakt ist nur erträglich, wenn man ihn als eine» erste« Schritt i« der Richtung der Neugestal tung der weltpolitischen Lage zu Deutsch lands Gunsten und zugleich als k as einzig« heute gegebene Mitt.l zur Befreiung von Rhein und Ruhr aus den Fessel» der jranzösisch-belgisch«« Psändtkpolitit betrachtet. Es kommt «lleS darauf au, a«f diesem Wege zirlbewuß« voran zu schreite« und mit allen Kräite« das nach- zuhcle», war t« London noch nicht dnrchge'etzt werde« kv»«te. Z»r Mitwirkung an dieser Zukunftsarbeit rufen wir die Deuischnatio- nale BolkSpartei auf. Wir haben feit den Reichstagswah'en danach gestrebt, die wertvollen politischen, sozialen und wirtschaft lichen Kräfte der Denlschnaiionale« volksparlei zur verantwortlichen Mitarbeit au den Reichsgeschäflen heranzuzirhe«. Wir er klären H-« e, daß wir diese Mitarbeit bei der Durchführung d s Londoner Pakte» und des in«erpolitische« Wiederaufbaues für not« «di halten, übernimmt die Deutfchnaiionale Volts Partei die Verantwortung am Zustande komme« des Londoner Pakte» mit, so wird die Reichstagssraltion der Deutschen Volkspariei mit alle« Mittel« a«f ei«e ihrer Be- dentuag c«tspreche«de Deilnahmr der Deutsch«ationalen a« der Reichsregie rung bestehen. Diesen Standpunkt habe« unsere Vertreter bei alle« Aussprachen d«, letzte« Woche eingenomme«. Wir halte« es für uns re Pflicht, dieses auch ausdrücklich zu wiederholt«.* * Tie Mitteilung der „Deutschen Zeitung", daß die Volkspartei den Teutschnationalen bereits vier Ministersessel und den Reichskanzlerposten angeboten habe, wird von der Volkspartei offi ziell bestritten. In dem Dementi heißt e» ausdrücklich, daß nicht ein Ministersitz angebo- . tcn worden ist. Dieses Tementi dürfte aber der Wahrheit wenig nachkommen, denn ohne die still- " schweigende Zustimmung der Teutschen Volkspariei 'dürfte Herr Hergt am Freitag an den Reichs kanzler vr. Marx nicht das Ansinnen gestellt haben, bi» zum 30. September zurückzutre ten und den Teutschnationalen da» Reichskanzler amt zu überlassen. Der Reichskanzler Marr hat dem deutschnationalen Parteiführer, der sich rühmen kann, eine Fraktion von 100 Personen fünf Jahre lang falsch geführt zu haben, auf die Forderung die richtige Antwort erteilt, indem er ihn stehen ließ. Ter Vorstand der Zentrumsfrakliou § hat sich ausdrücklich mit vr. Marx solidarisch erklärt, sodaß die Teutschnationalrn bedingungs los für das Sisenbah ngesetz stimmten. In den ! Reihen de- Zentrums und der Demokraten wird ausdrücklich erklärt, daß die VolksparteUer Zustimmung des Reichsrates. Berlin, 29. August. Der Reichs rat hat heute, unter de» Borfitz des Ministers vr. Jarres, von den Beschlüsse« des Reichstages über die Dawes-Gesetze ohne Einspruch Kenntnis genommen. Erklärung der Reichsregierung zur Kriegsschuldsrage. Berlin, 2». August. AuS Anlaß der Bcradschitdung brr Gesetze Uber dieLondonerBerrinbarungen erläßt der Reichskanzler namens derReichSregternug folgende Kundgebung: Ter Rrichstag hat mit te« he«te gefaßte« Beschlüsse« sei« Siegel unter die Londo»»- vereinbarnnge« gesetzt. Damit ist eine Entscheidung getroffen, die für k«» Schick- sal be» de«tsche« Bölkes aus Jahre hi»a«S von maßgebender Bedeutung sei« wird. Der Rcichsregicrung ist e» ei« Bedürfnis, alle« Mit- gliedern de» Reichstages, die zu diesem Ergeb»«» bcigktragen Haden, ihre» Lank «»»»»spreche». Alte BrieM-te» habe« schwere ««beule» überwi»de» »nd vielfach sogar perfö»ltche über, zeugungen zur« «stelle» müsse», »m z»r An- »ahme der Londoner vereinbar»»--« z« gelange«. So schwer der »ntschwß «»ch jede« Ei«zel«c« geworde« sei« mag, so m«ßte er doch gefaßt werde», wenn »«serem v«terw»be der «eg i» eine bessere Z»I»«ft erüff»et werde» sollte. Die »eich-regi,-«»- ka»» »»d will «brr diese» bed,»ts»«e« «»-»»blick, t» de» st», M D«nh» führ»», de» «tchiiller «ertrige», fchturre «rr» Pflicht«»-»« «»f sich »i««t, »icht borüber-ehe« lasse«, ohne in der Kriegsschuldsrage, die, seit 191», mit sch verem Drucke auf der Serte de» dcutschen Boltes lastet, klar «ad »»- zweidentig ihre« Standpunkt dar- zulege». Die «u» durch de» verfailler Vertrag, »»ter de« Druck übermächtiger Gewalt, auferlegte Ktst- stell»»-, daß De«tschlaub de» Weltkrieg d«, rch seine» Ang rifs e»tfesselt habe, widerspricht de» Datsache» der Ge» schichte. Die Reich»regier»»g erklärt daher, daß sie diese Frstleg»»g »icht a,erke»ut. Es ist ei»e gerechte Forder»»- de» de»tsche» Volk,» bo» d«, Bürde dieser falsche» Anklage befreit »» werde». So lauze da» nicht geschehe» ist, >»d so lange ei» Mitglied der völkerge«et»schast z»m Verbrecher au der «euschheit geste«pelt wirb, kauu bi« wahre verstüubiguug »ud versöhauug zwische« de» Völkern »icht b»lle»det werde». Die Reich»rrgier»»g wird «»laß »eh«eu, diese Erklär»»- den sr««»eu «e-ier»»gr» »ur »euutui» ,u briu-e». «erkt», deu 29. «»-»st 1924. Der «,ich»ka»»ler. -e». Marx. kein Recht hatten, für sie irgendwelche Erklärungen abzugeben. Aenßeruugcn der Berliner Preffc. Berlin, 30. August. „Kreuzzeitung" und „Deutsche Tages- zeitung" suchen in längeren Ausführungen die Haliung der deutschnaiionalen Fraktion zu recht fertigen. Vor allem begrüben sie es, daß j-tzt der erste Sch itt zu einem großen Bürger block getan sei, daß die Durchführung der Ta- weSgesetze unter d.r Beteiligung der Deutsch nationalen vor sich gehen werde, und daß die Reichrregierung ein: Erklärung gegen dir Kriegsschuld Deuischlands abgegeben hat. Tie „Deutsche Allgemeine Zeitung" sagt: „Mit dem gestrigen Tage hat ein neuer Abschnitt in der Geschichte d«r Nahküegszeit b.'- gönnen. Er sei jedoch kein Anlaß vorhanden, zu frohlocken. Sei doch ver gestrige Beschluß eine bittere, nicht abwendbare Notwendigkeit gewescn." Die „Germania" nennt die Annahme des Londoner Abkommens einen Sieg d:r politischen Vernunft und einen Sieg des deutschen Ver- söhnungS.villens. Tas „Berl. Tage bl." spricht von einer staalsmännischea Tat, die die Mehrheit des Reichs- >ags gestern vollbracht hat. Die „Voss. Ztg." schreibt: „Em Aufatme« geht durch das Volk. Hakenkreuz und Sowjet stern haben in Teuischland auSgespielt. Tie Stunde gehört der aufdauenden Arbeit im Zeichen der Solidariiät, der Demokralie und des Friedens." Ter „Vorwärts" erklärt: „Der gestr ge Tag hat den Zusammenbruch der natio nalistische« Demagogie und ihrer An- Der Bericht über die gestrige Reich», tagdsitzmtg besi«det sich Seite G der Beilage.