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Herausgegeben von Di-. Otto Dammer Alhtlllldzwllllzigster Jahrgang. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postämter. Wöchentlich ein Bogen Nr. 43. Friedrich Georg Wiecli's Deutsche 1863. Die sociale Frage. Von Adolph von Carnap, König!. Kommerzienrath. IV. Die Uebelstände der Gesellschaft können ebensowenig als körper liche Krankheiten verhindert oder geheilt werden, wenn man nicht offen darüber spricht. Die Lösung der socialen Frage fordert die Staatshilse zur gesetzlichen Regulirung der Lohnverhältnisse zwischen Arbeit gebern und Arbeitnehmern. Wir haben daraus hinverwiesen, wie das Genossenschaftswesen sich nicht zur vollen Blüthe entwickeln kann, weil viele Arbeit nicht lohnt. Wo der Lohn bei angestrengter Arbeit für das tägliche Leben nicht ausreicht, da fehlen, auch bei dem besten Willen, die Mittel zu Beiträgen, deren Verwendung der Zukunft anheimfallen. Viele Ar beitnehmer, denen die gewerbliche Unterstützungskasse eine nothwen- dige Hilfe bringen will, sind der neuen Ordnung nicht zugethan, weil bei dem Mißverhältniß zwischen dem Verdienst und der Arbeit sie gar nicht in der Lage sind, einen Beitrag geben zu können. Wo ganze Klaffen bereits unter dem Niveau der Existenz leben, da muß man die Wunde erst heilen, ehe man die Opfer für alte und arbeits lose Tage fordern kann. Viele der heutigen socialen Zustände spiegeln sich mit kräftigen und lebhaften Zügen im Leben ab. Schon im Jahre 1847 gehörte von einer Million Menschen in Paris der zehnte Theil, sowie in ganz Frankreich vier Millionen dem Bcttlerstande an. Ein Drittel aller Geborenen, über 25,000 Unglückliche, erblickten in demselben Jahre das Licht ihres elenden Lebens in Hospitälern und sogar ein Sechstheil der Bevölkerung starb in diesen Anstalten ohne häuslichen Herd- Ist cs nicht faktisch, daß Venedig unter 100,000 Einwohnern 25,000 Arme zählt? daß in Rom unter 150,000 Einwohnern 30,000 Almosenempfänger sich finden, in Amsterdam unter 230,000 Einwohnern 45,000 Arme sind, und daß in London eine namhafte Anzahl der jährlichen Todten dem Hunger unterliegt, ein großer Theil in einigen Vorstädten in Jammer und Elend schmachten. So lange es Menschen giebt, sind auch die Leiden derselben immer da gewesen, aber sie waren nicht immer so intensiver Art wie heute und die von ihnen Betroffenen waren sich ihrer nicht immer so klar bewußt. Der Menschen Arbeit hat meist keine Eigentbumsgewinnung zur Folge, das ist die Wurzel des Uebels, an dem die Gesellschaft krank liegt, die Arbeit empfängt die richtige Gegenleistung nicht; sie hört aber auffreie Arbeit zu sein, sobald ihr in der Gegenleistung nicht mehr der Lohn zu Theil wird, der sie zu erhalten vermag. So sehr der Geist unserer Zeit es verabscheut, daß der Stärkere, Wald, Feld und Flur des Schwächeren an sich reißt, so hält er es doch nicht für ein Unrecht, den Nächsten um einen Theil dessen zu bringen, was seine Arbeit an Lohn werth ist. Wir verweisen dabei auf die frühe ren Vorgänge in Schlesien, dem Spessart, der Röhn, dem Erzgebirge, auf die Weber und Spinner in Westphalen mit ihrem Tagelohn von Einem Silbergroschen und auf jene Gegend in der Rheinprovinz, wo der Mangel an Arbeit dazu benutzt wurde, um den Tagelohn immer mehr herunterzusetzen. Was also kann näher liegen, als die Erkenntniß der Nothwen- digkeit, einen gewissen Werth der persönlichen Arbeit sicher zu stellen; dafür Sorge zu tragen, daß der Lohn nicht auf ein Maß herabsinke, welches dem Arbeiter nicht gestattet, die zur Erhaltung des Lebens erforderlichen Bedürfnisse einzutauschen. Es liegt wahrlich im Interesse des Staates, wie der bürgerlichen Gesellschaft, daß ein gro ßer Theil der Bürger nicht immer in der Sklaverei mühseliger, unloh nender Arbeit verbleibt, an der sie kein wahres Interesse haben, und für welche sie kein Interesse fühlen, nicht verbleibt in dem Gefühl unerträglichen Unbehagens und leidenschaftlicher Neidigkeit, denn die Krankheiten der Volksgesellschaft sind die Krankheiten der Staaten. Soll die glückliche Lösung der socialen Frage einen gedeihlichen Fortgang haben, und das Wohl der arbeitenden Klassen wirklich gefördert werden, so nimmt die Ausführung ähnliche Maßnahmen in Anspruch, wie sie zu verschiedenen Zeiten in die Erscheinung ge treten sind, Maßnahmen über Lohn und Arbeitsregulirungen, wie sie bereits in Folge der Verordnung des preuß. Ministeriums für Han del und Gewerbe vom 8. Mai 1848 in mehreren Fabrikstädten zur Geltung gelangten. Der Raum gestattet es nicht, sie speziell anzu führen, die einzelnen Paragraphen lauteten indeß wie folgt: ») Verhandelt im Rathhause zu Barmen am 31. März 1848. Anwesend waren sechs Fabrikanten und sechs Webermeister unter dem Vorsitz des Beigeordneten. h. 9. Es soll ein Ehren- oder Arbeitsrath errichtet werden, der zu gleichen Theilen aus Fabrikanten und Webermeistern der Innung und einem Obmann, der weder Fabrikant noch Webermeister ist, be steht; die Fabrikanten wählen ihre Mitglieder ebenso unabhängig und nach Stimmenmehrheit unter sich, als die Webermeister die ihri-