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Tchönburger Tagebla^ und Waldenburger Anzeiger. Amtsblatt für den Ltadtrath zu Waldenburg. Erscheint täglich mit Ausnahme der Tage nach Sonn- und Festtagen. Sonntags eine Gratisbeilage „Der Erzähler". Preis vierteljährlich 1 Mk. 50 Pf. Alle Postanstalten, die Expedition und die Colporteure dieses Blattes nehmen Bestellungen an. Jnsertionsgebühren pro kleingsspaltene Zeile für Abonnenten 7 Pf., für Nicht abonnenten 10 Pf. Jnseraten-Annahme für die nächsterscheinende Nummer bis Mittags 12 Uhr des vorhergehenden Tages. 19L Waldenburg, Donnerstag, den 8. Mai 1879. Politische Rundschau. »Waldenburg, 7. Mai 1879. Die Festlichkeiten zur goldenen Hochzeit des deutschen Kaiserpaares werden zwei Tage umfassen. Am 11. Juni soll im kgl. Schlosse in Berlin der Empfang fämmtlicher Deputationen und daraus die Einsegnung des kaiserlichen Jubelpaares durch den Hofprediger Di. Kögel in der Schloßkapelle stattfinden. Für den Abend ist eine Galavorstellung im Opern hause in Aussicht genommen. Die Zahl der fürstlichen Gäste, welche Anfangs auf etwa 50 festgesetzt war, wird sich eher noch um einige ver mehren. Für den 12. Juni ist eine große Parade auf dem Tempelhofer Felde in Aussicht genommen. Am Nachmittage des 12. Juni soll ein Galamahl im Weißen Saale des königlichen Schlosses und um Abend eine größere Soiree im königlichen Palais stattfinden. Die Geschäftsordnungscommission des Reichs tags beschloß, die Genehmigung zur strafrecht lichen Verfolgung des Abgeordneten Hassel mann zu beantragen. Der Staatsanwalt Des sei, darf in Berlin ist zum Senatspräsidenten des Oberlandesgerichts in Königsberg ernannt worden. Die bedeutsamste aller bisherigen Kundgebun gen gegen den neuen Zolltarif ist die am Sonntag in Elberfeld stattgehabte, aus etwa 3000 Industriellen und Kauflenten Rheinlands und Westfalens zusammengesetzte Versammlung gewesen. Dieselbe beschloß einstimmig eine Re solution, in welcher der Reichstag aufgefordert wird, an der bisherigen bewährten (?) Handels politik festzuhalten und die vorgelegten Schutz- zollprojecte zu verwerfen. Der „Erml. Z." zufolge soll die russische Regierung nach der gegen den Kaiser Alexander verübten Frevelthat angeordnet haben, daß das Rundschreiben des Papstes Leo XIII. gegen die Socialdemokraten in allen katholischen Kirchen des russischen Reiches von der Kanzel vollständig verlesen werde und zwar in der Volks sprache und dreimal hinter einander. Sonst wird die Volkssprache, als welche hier natürlich zunächst die polnische in Frage kommt, in Ruß land selbst in der Kirche zu Gunsten der russi schen unterdrückt rind ist die Veröffentlichung päpstlicher Aktenstücke unter harten Strafen ver boten. Die zwischen Rumänien und der Pforte geführten Verhandlungen wegen Rückerstattung der Verpflegungskosten, welche die rumänische Regierung für die türkischen Gefangenen veraus gabt hat, sind jetzt zum Abschluß gelangt. Die Entschädigungssumme ist auf 1,800,000 Frcs. festgesetzt worden und soll in einem Zeiträume von 7 Jahren bezahlt werden. Rumänien ver langte ursprünglich 4,000,000 Frcs. Indischen Meldungen zufolge ist die beste Aus sicht zu einem Friedensschlüsse mit Jakub vorhanden. General Roberts erklärte im Dur- bar, England werde, wenn Jakub nachgebe, bloß die Hauptpässe, nicht aber Kandahar, Jellalabad, Balkh, Herat oder Kabul dauernd besetzen. Pariamentnrische Verhandlungen. Reichstag. 6. Mai. Fortsetzung der Berathung der Zoll- und Steuervorlagen. Bundescommissar Meyer wendet sich gegen die rein negative Haltung des Abg. Richter, be tont, es fehle der Nachweis, wie die Regierungen ohne Steuerreform die Deficits beseitigen sollten, bemängelt ferner die Deductionen des Abg. Oechelhäuser über die Handelsbilanz, namentlich über die Bedeutung der Ausfuhr und sagt, es sei nicht richtig, daß Deutschland vorzugsweise Rohstoffe und Halbfabrikate einführe. Die Ar gumente Oechelhäuser's gegen die Kampfzölle seien nicht stichhaltig. Sollen wir denn zur vollständigen Ohnmacht verurtheilt sein? Oechel häuser's Definition der Rohstoffe sei viel zu weit; viele Artikel, die man als Rohstoffe bezeichne, seien fertige Fabrikate. Die Exportindustrie werde durch Zölle gar nicht oder nur wenig ge schädigt. Man wolle übrigens den Urhebern der bisherigen Politik keine Vorwürfe machen und verlange nnr, daß man sich der Einsicht von der wesentlichen Veränderung des realen Verhältnisses nicht verschließe. Abg. Löwe: Das Reich müsse seine Ei «nah men unbedingt vermehren, um die Einzelstaaten und die Communen zu entlasten. Er sei kein unbedingter Anhänger der indirecten Steuern, aber man sei an der Grenze der directen Steuern angekommen. Redner befürwortet den 8 5 (Kampf zölle) unter der Voraussetzung, daß die darin vorgesehenen Kampfzölle im Wege der Gesetzge bung angeordnet werden und vertheidigt schließlich seinen Antrag, betreffend die geschäftliche Behand lung der Zoll- und Steuervorlage. Abg. Maltzahn-Gültz (dentschconservativ) spricht nicht namens seiner politischen Freunde, ist für Finanzzölle, aber gegen Schutzzölle, welche dem Wohle des Landes schädlich sein müßten. Er sei für eine weitere Volksentwickelung im Wege der Handelsverträge, nicht aber für Rück kehr zum Schutzzollsystem. Unter der Parole „Schutz der nationalen Arbeit" habe sich ein Wettlauf der Industrien um eine besondere Be günstigung entwickelt. Redner bestreitet, daß die Landwirthschaft des Schutzzolles bedürfe, er sei ein ganz entschiedener Gegner der Kornzölle. Abg. v. Varnbüler führt aus, wie die In dustrie und die Landwirthschaft das Recht hätten, zu verlangen, daß der Reichstag ihren lange ge äußerten Wünschen entgegenkomme und rechtfer tigt den Tarif, namentlich gegen die Ausstellungen Delbrück's und Bamberger's. Abg. Sonnemann vertritt den Standpunkt Richter's; er beleuchtet die Baumwollindustriever- hältniffe und wendet sich schließlich gegen den Abg. Reichensperger. Abg. v. Bennigsen: Wir stehen vor der verantwortlichen Entscheidung, die mit großer Schnelligkeit an uns herangetreten ist. Die heutigen Vorlagen gehen selbst noch weiter, als des Reichskanzlers Schreiben vom December er warten ließ. Trotzdem gebe er nicht die Hoff nung auf, das Resultat unserer Arbeiten werde mehr heilsam als schädlich für Deutschland sein, da der Patriotismus genug im Reichstag ver treten sei, als daß es nicht gelingen könnte, eine Einigung zu erzielen. Freilich darf man nicht nach doclrinären Anschauungen Gesetze machen wollen, man muß sich nach den wechselnden praktischen Bedürfnissen der Zeit richten, wenn man gute wirthschaftliche Gesetze machen will. Jetzt ist es zweifellos, daß für eine Reihe von Jahren an den Abschluß von Verträgen nicht zu denken ist, aber haben wir nicht immer noch durch die vorhandenen Handelsverträge auf eine ge raume Zeit hinaus ganz bedeutende freihändle rische Ermäßigungen? Andererseits würden jetzt viele Freihändler etwas darum geben, wenn die Aushebung der Eisenzölle nicht erfolgt wäre. Dann Hütte die ganze wirthschaftliche Bewegung zu einer Coalition zwischen Großindustriellen und Agrariern, die wir jetzt haben, führen können. In Frankreich ist man in letzter Zeit immer noch weiter vorgegangen in Maßregeln, um sich zu schützen. Geholfen hat uns unsere freihändlerische Richtung nichts, der jetzt geplante Tarif ist an dererseits kein so extremer Umschwung, wie er vielfach dargestellt wurde. In den Hauptsachen bleiben die jetzt vorgeschlagenen Zollsätze noch weit hinter den Sätzen von 1864 zurück. Die im Tarif vorgeschlagenen Schutzzölle können ja da, wo wichtige Exportintereffen geschädigt wer den, heruntergesetzt werden. Womit soll man denn auch die ganze Einfuhr an Nohproducten bezahlen, ohne eine blühende Exportindustrie? Dieses wird allein schon zur Vorsicht mahnen. Wollte man den Ausführungen Maltzahns ganz folgen, so würden derartige Principien zur Zer setzung jedes großen Staatswesens führen. Wie würden die Provinzen Pommern und Ostpreußen aussehen, wenn sie allein einen Staat bildeten? Der Staat leiste für diese Provinzen jährlich sehr viele Zuschüsse, nun können dieselben auch Opfer für den Staat bringen. Die landwirthschaftlichen Zölle, wie der Tarif sie vorschlägt, sind nicht ungeheuerlich oder gar verderblich. Die englischen Kornzölle hätten oft 4 bis 5 Mk. pro Centner Weizen betragen. Im Verhältniß dazu sei der Satz von 25 Pfg. pro Centner verschwindend, man könne beides gar nicht vergleichen. Auch nach Abschaffung der Kornzölle habe man die Abgabe von 20 Pfg. pro Centner in England bestehen lassen bis 1869 und Niemand habedas für einen Kornzoll angesehen. Wirkliche Schutz zölle auf Getreide, wirkliche große Kornzölle ein zuführen, würde er aber für sehr bedenklich hal ten; das sei aber auch gar nicht vorgeschlagen. Wolle man der Landwirthschaft wirklich helfen, fo könne man das, ohne andere Interessen zu schädigen, auf andern Gebieten thun, zunächst durch eine gute landwirthschaftliche Statistik, an der es jetzt noch mangele. Dadurch werde man den richtigen Besteuerungsmodus für die Land wirthschaft finden und damit sei derselben dauernd geholfen. Auch könne vielleicht das Erbrecht des bäuerlichen Besitzes gelegentlich nach der Civilrechts- codification geändert werden, (Bravo rechts), etwa nach hannoverschem Muster. Redner spricht sich fer ner für die Aenderung des directen Steuersystems an der Hand der Vermehrung der indirecten Steuern aus. Er theile aber nicht den Stand punkt des Reichskanzlers, wonach die directen Steuern fast ganz abgeschafft werden sollten.