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Ottendorfer Zeitung. Die „Vttendorfer Zeitung" erscheint Dienstag, Donners- tag und Sonnabend abends. Bezugspreis vierteljährlich , Mark. Durch die Post bezogen 1,20 Mark. Druck und Lokalzeitung für die Ortschaften Ottendorf-Okrilla mit Montzdorf und Umgegend. Mit wöchentlich erscheinender Sonntagsbeilage „Illustriertes Unterhaltungsblatt", sowie der abwechselnd erscheinenden Beilagen „Kandel und Wandel", „Feld und Garten", „Spiel und Sport" und „Deutsche Mode". Annahme von Inserat bis vormittag w Uhr. Inserate werden m't zo Pf. für die Spaltzeiir berechnet. Tabellarischer Satz nach be sonderem Tarif. Verlag von Hermann Rühle in Groß-Gkrilla. Für die Redaktion verantwortlich kerniann Rühle in Groß-Vkrilla. Nr. 74. Mittwoch, den 22. Juni 1904. 3. Jahrgang. Oertliches und Sächsisches. Vttendorf-Dkrilla, 2t- Ium 1804. -n. Medingen. Nach einer an die kiesige Gemeindebehörde gelangten Nachricht ist der in der Landssanstalt Colditz untergebrachte Ernst Paul Wagler aus Mildenau am Sonn abend vormittag aus der Anstalt entwichen. Derselbe verübte vor nunmehr 5 Jahren in Gemeinschaft mit seinem hier wohnhaften Bruder, welcher ebenfalls geistig nicht normal war, den Mord an dem Gendarm Schindler. Durch die Nachricht von dem Entkommen des Mörders ist unser Ort in leicht begreifliche Aufregung versetzt worden, zumal der Ent sprungene von besonderer Körperkraft und als ein zu Allem fähiger Mensch bekannt ist. Königsbrück. Die Sonntag nachmittag auf dem hiesigen Artillerie-Exerzierplatz statt- gefundenea diesjährigen Rennen des Königs brücker ReitvereinS waren von besonders schönem Wetter begünstigt und nahmen unter Anteilnahme eines sehr zahlreichen Publikums aus der Stadt und der weiteren Umgebung einen sehr spannenden und sportlich anregenden Verlauf. — Das Königliche 4. Infanterie-Regiment Nr. 103 hält in der Zeit vom 27. Juni bis mit 6. Juli 1904 täglich von 6 Uhr vor mittags bis 5 Uhr nachmittags auf hiesigem Gefechtsschießplatze Schießen in größeren Ab teilungen ab. — Zur Abhaltung von Schießübungen traf gestern vormittag kurz vor 11 Uhr das dritte Bataillon des in Zittau garnisonierenden In fanterie-Regiments Nr. 102 mit Sonderzug hier ein. Dresden. Im Großen Garten, in der Nähe des Restaurants zum Carolaschlößchen, hat sich Freitag früh ein besser gekleideter Herr in sebstmörderischer Absicht einen tiefen Messer stich in den Hals beigebracht und dabei die Halsader durchschnitten. Blutüberströmt wurde er nach dem nahe gelegenen Restaurant ge bracht, wo ein zufällig anwesender Arzt ihn verband. Ob der Schwerverletzte, welcher später nach dem Krankenhaus übergeführt wurde mit dem Leben davonkommen wird, ist fraglich. Der Grund zu der Tat scheint Furcht vor erwartender Strafe zu sein. Nach den eigenen Aeußerungen des Lebensmüde« ist er ein ge wisser Bankier Jäger aus Tübingen, der flüchtig und von der Staatsanwaltschaft gesucht wird. Weißer Hirsch. Fcstgenommen wurde hier ein schon lange von der Behörde gesuchter Handlungsgehilfe namens Krah. Man über lieferte ihn der Staatsanwaltschaft. — In der Nacht vom 16. zum 17. d. M. hat sich auf Weißen Hirsch ein junger Schau spieler durch Erschießen zu entleiben versucht. Die Ursachen sind nicht bekannt. Bühlau. Donnerstag wurde hier ein jugendlicher Einbrecher auf frischer Tat ertappt. E« war dies ein hiesiger zwölfjähriger Schul knabe, welcher schon zu wiederholten Malen in die Wohnungen der im hiesigen Schulhause wohnenden Lehrer mittels Nachschlüssel sich ein- geschlichen hatte, um dort Geldbeträge zu ent wenden. Als die Lehrer zu einer Konferenz abwesend waren, glaubte sich der kleine Spitz bube ganz sicher, er hatte sich aber verrechnet, denn es hatte sich kurz vor ihm ein Gendarm in der Wohnung versteckt, welcher ihm festnahm. Großenhain. Auf frischer Tat ertappt wurde ein Einbrecher am Sonntag Abend. Herr Kaufmann Oberländer auf hiesiger Dresdner Straße gewahrte abends 10 Uhr der der H imkchr in seine Behausung zu seinem nicht geringen Schrecken, daß nicht nur Tor- und Haustür sondern auch die Tür zu seinen Geschäftsräumen mittels Nachschlüssel geöffnet waren. Kurz entschlossen zog Herr Oberlände die Schlüst l beider an der letztbezeichneten Tu befindlichen Schlösser ab, begab sich in seine Geschäftsräume und verschloß diese von ihnen. Nachdem er Licht gemacht, erkannte Herr Ober« zu seinen Erstaunen in dem Eindringling einen seiner Aftermieter, einen 21 jährigen Schmied namens Grille von hier. Er ließ diesen zunächst wieder frei, doch erfolgte dessen Verhaftung noch am gestrigen Abend auf einem hiesigen Tanzlokale. G. ist geständig, gestern 15 Mark entwendet, Herrn Oberländer aber chon öfter auf diese Weise bestohlen zu haben. Lommatzsch. Ungeheure Gerüchte durch- chwirrten gestern unsere Stadt über einen Vorfall, der sich in der Nacht zum Donnerstag in der Stiftsstraße abgespielt haben sollte. Es hieß, daß ein dort wohnender Handarbeiter seine Frau, mit der er in Streit geraten war, aus dem Fenster seiner im zweiten Stocke gelegenen Wohnung geworfen habe. Richtig an der Sache ist nur, daß die Frau einem Streite mit ihrem Manne dadurch ein Ende zu machen suchte, daß sie sich in dem Augenblicke, wo sie in ihrem Zimmer allein war, vermittelst eines starken Bindfadens in den Hofraum herabließ. Sie vermochte sich hierbei nickt zu halten und stürzte aus der Höhe des ersten Stückes auf den Hof. Die Frau hat zwar bei dem Sturze nicht unerhebliche Verletzungen erlitten, indessen besteht begründete Hoffnung auf ihre baldige Wiedergenesung. Königstein. Die Kgl. Sächs. Staats- eisenbahnverwalturg hat im Luftkurort Gohrisch bei Königstein für den Preis von 48 000 Mk. ein Villengrundstück mit großer Parkanlage angekauft und beabsichtigt, dalelbst ein Ge nesungsheim für kranke Eisenbahnb amte ein zurichten. Schandau. Am 13. d. M. wurde von einem bei Schandau liegenden Kahne noch ein zweiter Schiffer unter dem Verdachte der Teilnahme an den kürzlich von dem Schiffer Protze in Schandau verübten Totschlage ver haftet. Schandau. Bei dem in der Nacht zum Sonnabend im Gebiete der Sächsischen Schweiz aufgetretenen starken Gewitter brannten in Hohburkersdorf bei Hohnstein von nachts 1 Uhr an drei Bauerngüter nieder. Leipzig. Ein folgenschwerer Unglücksfall ereignete sich Freitag nachmittag im benachbarten Engelsdorf. Dort stürzte an einem großen Eisenbahn-Werkstättenbau auf noch unaufgeklärt« Art ein im Innern des Baues angebrachtes Hängegerüst herab und riß mchere darauf stehende Arbeiter mit sich. Es wurden im ganzen 8 Arbeiter verletzt, mehere wurden davon schwer. Unter anderen wurden ein Beckenbruch, ein Obersckenkelbruck, ein Unter schenkelbruch, ein Kiefernbruch, zwei schwere nnd zwei leichte Kontusionen festgestellt. Von den Verunglückten befinden sich drei nicht mehr in unmittelbarer Lebensgefahr; bedenklich erscheint der Zustand des Maurers Oehmichen, der auch schwere innerliche Verletzungen davongetragen bat- Ueber die Ursache des Unglücks hat bis jetzt noch nichts Bestimmtes festgestellt werden können. Oehmichen ist im Krankenhause seinen Verletzungen erlegen. Untersachsenberg. Zu der Auffindung der falschen Zweimarkstücke kann noch mit geteilt werden, daß am Donnerstag die Polizei bei einer Durchsuchung des Hauses auch einen Teil emer Gießform zu den falschen Münzen vorfand, welche im Schuppen des betreffenden Hauses vergraben war. Eine frühere, jetzt ver storbene Besitzerin des Hauses ist vor vielen Jahren wegen Falschmünzerei verhaftet worden. Crottendorf i. Erzg. Ein schrecklicher Raubmord, ausgeführt vom ersten Polizeibeamten unserer etwa 5000 Einwohner zählenden Land gemeinde, ist am Sonnabend Abend hier ver übt worden. Der Polizeiwachtmeister Schramm hat im Gemeindeamt, das er mit Frau und Kind allein bewohnte, den Kassenbeamten Dietze durch Zertrümmern der Hirnschale ermordet. Der Mörder ist 43 Jahre alt, 1,74 om groß, von kräftiger Statur und trägt kurzgeschorenes Haar mit etwas Glatze. Gekleidet war er in seine Dienstuniform. Der unglückliche Kaffen beamte ist 26 Jahre alt, der Sohn des Ge meindevorstandes von Bernsdorf bei Wechsel burg und wollte gestern seine Verlobung mit der Tochter eines hiesigen Posamentenfabrikanten eiern. Der Mörder läßt eine Frau aus zweiter Ehe und ein Mädchen, für das er Pflegevater war, sowie einen erwachsenen Sohn m tiefen Harm zurück. Durch einen Beamten der zuständigen Amtshauptmannschaft Annaberg wurde der Gemeinde-Kasienschrank geöffnet und und festgestellt, daß der Raubmörder die Ge meinde und die Sparkasse um 5763,14 Mark bestohlen hat. Die Kassenscheine hat er un behelligt liegen lassen. — Nachdem sich herausgestellt, daß der zum Raubmörder gewordene Polizeiwachtmeister Schramm auch eine Kaffenregelung, die ihm aufgetragen war, nicht ausgeführt hat, beziffern ich die von ihm aus dem Gemeindekassenschrank geraubten Barmittel auf 6317 Mk. Das Gemeindeamt ist fortgesetzt von Hunderten von Personen umlagert. Der Vater des ermordeten Gemeindekassierers ist an der Leiche seines Sohnes eingetroffen. Die Beisetzung soll in einem Familien - Erbbegräbnis in Niedersedlitz bei Dresden erfolgen. Von dem flüchtigen Polizeiwachtmeister fehlte gestern vormittag noch jede Spur. - Schneeberg. Früher wie gewöhnlich hat dies Jahr in hiesiger Gegend die Heuernte begonnen, seit Anfang dieser Woche ist sie all gemein im Gange und die herrschende heiße Witterung hat sie bereits tüchtig gefördert. Mit ihrem Ertrage werden die Landwirte wohl zufrieden sein, da das Gras auf den Wieselt und auf den Brachäckern sehr gut steht. Gut gedeiht ebenso der Klee, auch der Stand des Sommer- und Wintergetreides berechtigt bis jetzt zu den besten Hoffnungen. Für die Saaten und auch für die Kraut- und Rübenstecklinge auf den Feldern ist baldiger Regen sehr er wünscht. Plauen i. V. Die Direktion der hiesigen städtischen Gasanstalt hat seit einigen Tagen mit der Ausstellung von Preßgaskandelabern begonnen. Die neuen Flammen werfen eine erstaunliche Lichtfülle aus. Jede der Laternen enthält eine Lichtstärke von etwa 1500 Kerzen- Bei dem Vergleiche mit elektrischen Bogenlampen fällt es auf, daß der Lichtkörper bei dem Preß gas eine größere Fläche besitzt, als der der elektrischen Bogenlampen. Der Gasverbrauch solcher Flamme» kostet auf gleiche Helligkeit bezogen nahezu nur halb so viel, wie der der gewöhnlichen Gasglühlichtflammen. Aus der Woche. In Ostasien geht es gegenwärtig sehr lebhaft zu, aber die Meldequellen fließen nicht rein und sie gestatten nicht, ein klares Bild der Gesamt lage zu gewinnen. Fast überall sind die Japaner die Angreifer; die Ruffen verteivigen sich nur und man gewinnt den Eindruck, daß immer die Japaner ihrem Gegner gegenüber im Vorteil siud, daß sie die Lage souverän be herrschen und daß sie nur durch ihre Vorsicht abgehalten werden, errungene Vorteile schneller auszunutzen. Auf dem zweiten uns interessieren den Kriegsschauplätze, in Deutsch-Südwestafrika, ist nichts nennenswert Neues passiert. Genera v. Trotha dürfte inzwischen schon mit Oberst Leutwein zusammengetroffen sein; er muß sich erst orientieren und die Verstärkungen, die zahl reich unterwegs sind, herankommen lassen. — Inzwischen ist die Welt wieder durch Revolver- schüffe in Helsingfors, der Hauptstadt Finnlands, aufgeschreckt worden. Bobrikow, der General gouverneur und Bedrücker Finnlands, ist durc einen Senatorssohn so schwer angeschoffen worden, daß sein Leben verloren scheint. Der politische Mord ist aus Anlaß der vielen Attentate der letzten Zeit immer gebührend al Schandtat gegeißelt worden und das mag auc hierdurch mit bezug auf den neuesten Mord anschlag geschehen. Aber — aber — diese neue Affäre hat sehr viele entschuldigende „Aber". Das kleine fleißige Volk der Finnen, das sich Rußland gegenüber stets vollkommen loyal gezeigt hat, wurde nach dem Tode Alexanders II. von der russischen Regierung nicht mehr mit dem gleichen Wohlwollen be handelt, wie bis dahin. Schritt für Schritt mußte es seiner alten Freiheiten und vom Zaren beschworenen Selbständigkeit entsagen, die Russifikation wurde teilweise gewaltsam be trieben und der Hauptgewaltmensch dieser Brutalisierung eines kleinen und friedliebenden Volkes war Bobrikow. Ec war der allgemein verhaßte Bedränger der finnischen Nation, auf die von finnischen Patrioten schon mehrmals erfolglose Attentate unternommen worden waren. Die Kugeln des jungen Schaumann haben aber ganze Arbeit getan und nun mag man die Tat der patriotischen Verzweiflung an den Pranger stellen. Das Volksempfinden läßt 'ich nicht täuschen: es verurteilt die brutale Tat des Mörders Tell, der den Gouverneur des Kaisers Albrecht in der hohlen Gaffe bei Kößnacht erschoß es verdammt die mörderische Absicht des Attentäters Stapß, der 1809 in Schönbrunn mit einem Küchenmesser den Kaiser Napelon abstechen wollte; es verurteilt die Tat eines Karl Ludwig San^, der 1819 in Mann- )eim dem in russischen Solde stehenden be kannten Lustspieldichter Kotzebue mit dem Worten: „Hier, du Verräter des Vaterlandes!" den scharfen Dolch tötend in die Brust bohrte. Tells Tat (sowie sie als historisch angesprochen werden kann) hat sein Vaterland wirklich be freit. Durch Stapß' versuchtes Attentat wurde nur die französische Staatspolizei in Deutschland noch schwerer, Kotzebues Ermordung war ge radezu das Signal für die unglückselige Reaktion die das deutsche Volt als Belohnung für seine Opfer während des Freiheitskrieges zu tragen hatte. Und leider wird es in Helsingfors nicht bester sein. Der junge Schaumann hat einen Bedrücker seines Volkes getötet: zehn andere warten auf die sreigewordene Stelle und werden gern bereit sein, mit Skorpionen zu züchtigen, wo Bobrikow nur Ruten anzuwenden für gut fand. — Ein Teil der Menschheit ist immer geneigt, das für Narretei zu erklären, was ein andrer Teil der Menschheit tut oder erstrebt. Die Beefsteack-Ester verhonipeln die Vegetarier, die Friedensfreunde können es garnicht begreifen, daß heut noch irgend jemand die Flinte in die Hand nimmt, um auf Feinde zu schießen, der Münzensammler verspottet den Briefmarkensammler; der „Naturheilkundige" die „Medizinabergläubigen" usw. Offen ge standen hält Schreiber dieses den Benzin wahnsinn, wie er sich im Automobilsport kundgibt, nicht etwa für eine edle Betätigung des Menschengeistes, sondern für eine tief be dauerliche neurasthenische Erscheinung. Nicht etwa das Automobiljagen, das Wettrennen, wie es sich im vorigen Jahre zwischen Paris und Berlin, am vergangenen Freitag in der Gegend der Saalburg abgespielt hat. Der Reit-, Schwimm-, Ruder-, Turn-, Rad- und andre körperliche Sports stählen den Körper und machen sich dadurch ihren Verübern nütz lich. Das rasend schnelle Fahren auf weite Strecken, die fahrfrei nirgends vorhanden sind, wenn man etwa die Wüste Sahara oder Gobi ausnimmt, hat aber weder Zweck noch Sinn, bildet vielmehr eine sich stetig steigernde Ge fahr für denjenigen Teil der Kulturmenschheit der zu Fuß gehen muß. Wenn'S aber die Automobilisten nicht lasten können, so mögen sie sich eigene Rennbahn schaffen, wo sie den übrigen Teil der betriebsamen Menschheit nicht stören. Da ist das große Gebiet der still gelegten Zechen in Westfalen, wo eö bald ganz wüst sein und man sich freuen wird, wieder „Leben in die Bude" einziehen zu sehen; da ist die Lüneburger Heide, die sich für Automobil zwecke famos kultivieren ließe. Aber unsere Landstraßen, die im Frieden doch nur friedlichen Zwecken dienen sollten, laste man verschont von dieser modernen „wilden Jagd".