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Freiberger Anzeiger und Tageblatt. ' Erscheint jeden Wochentag früh S Uhr. Preis vierteljährlich 15 Ngr. — Inserate werden an den Wochentagen nur bi« Nachmittag« Z Uhr ", für die nachsterscheinende Nummer angenommen und die gespaltene Zeile mit 5 Pfennigen berechnet. FZ, . Sonnabend, den 14. April 1855. - - >— ' . ------------ Die entschlossene That und die orientalische Frage. In dem Gordischen Heiligthum stand, wie der geneigte Leser aus seiner Schulzeit sich erinnert, ein uralter Wagen an gebunden und das bindende Seil war in einen kunstvollen Knoten geschürzt, dessen Anfang und Ende unabsehbar schien. Wer den Knoten löse und den Wagen fortbewege, so lautete ein Orakel, dem werde die Herrschaft der Welt zufallen. Men schenalter hindurch bemühten sich vergeblich die geschicktesten Hände das verworrene Gesiecht auseinander zu zerren; der Wagen stand noch in seiner heiligen Haft, als Alexander von Makedonien auf seinem Perserzuge dem Tempel einen Besuch abstattete. Der entschlossene König erkannte auf den ersten Blick, daß eine Entwirrung des KnotenS unmöglich sei, und daß wer ihn lösen wolle, zum Durchhauen seine Zuflucht nehmen müsse. Er löste den Wagen durch einen Schwertschlag und das Orakel fand seine Erfüllung. Der gordische Knoten hat mit Recht sprüchwörtliche Geltung erlangt. Die alte Erzählung umschließt einen so tiefen Kern psychologischer Wahrheit, daß sie für alle Zeitalter verständlich geblieben ist. Noch heut zu Tage unterscheiden sich die gewöhn lichen Menschenkinder von den Alexander» genau ebenso wie vor zwei Jahrtausenden. Der ist auch gegenwärtig noch, wenn nicht der Beherrscher der Welt, so doch der Inhaber der Macht, des Einflusses, der gebietenden Stellungen, wer zu rechter Zeit einem Knoten es anzusehen weiß, ob er mit spitzen Fingern entwirrt werden kann oder ob die entschlossene That allein ihn zu lösen vermag. Die entschlossene That braucht nicht gerade allemal ein Schwerthieb zu sein; manchmal wird die blanke Klinge eben dadurch überflüssig, daß zur rechten Stunde das rechte Wort gesprochen und der rechte Ernst gezeigt wird. Ströme Blutes wären der Menschheit erspart worden, wenn das Letztere jeder Zeit geschehen wäre. Wahrscheinlich würden wir in diesen! Augenblicke uns eines tiefen Friedens zu erfreuen haben, wenn die Staatsmänner der Restaurationsepoche und der beiden letzten Jahrzehnte den orientalischen Knoten, anstatt mit ohnmächtiger Hand an ihm herumzuzupfen, mit alexandri- schem Auge angeblickt hätten. Wahrscheinlich' wäre der fran zösische Eroberer im Anfänge unseres Jahrhunderts nie eine Geißel des Welttheils geworden, wenn der macedonische Geist Pitts auch in den übrigen Cabineten Europas gewaltet hätte. Napoleon eröffnete sich die Bahn zur Universalmonarchie wie Horatius dem alten Rom. Erschlug seine Gegner e i n z e l n zu Boden. Dies ward ihm möglich, weil außer England kein anderer Staat sich zu der Erkenntniß zu erheben vermochte, daß der Kampf gegen das erobernde Frankreich aufgefaßt und be handelt werden müsse, nicht als eine Angelegenheit jeder einzel nen Nation, nicht als ein Handel um die Interessen dieser und jener Regierung, sondern eben so wie ehemals die Türkenkriege, als eine Sache des gesammten Europa, das iy seiner Ge- sammtheit bedroht war. Einzelne schärfer blickende -und unbe fangener urtheilende Männer sahen auch auf dem Continent die wahre Lage der Dinge ein; aber ihre Warnungen, Mah nungen und Beschwörungen verhallten, wie die Stimme der Kassandra in der allgemeinen Verblendung und in dem Lärm, den die partikularistischen Jalousien in den verhängnißvollen Augenblicken zu erregen wußten, — Jalousien, die dem Tuilerte- hofe manche Armee ersparten. Oesterreich ward allein, Preu ßen allein geschlagen, am Ende wurden die vereinigten Kräfte aller unterjochten Länder im Frohndienste des Unterdrücker« aufgeboten, um auch den letzten noch aufrechten Staat des Fest landes, Rußland, in eine napoleonische Satrapie zu verwandeln. Erst von diesem Augenblicke an ward allgemein der euro päische Charakter des Kampfes gegen Napoleon erkannt. Rußland hatte auf dem Fürstentage zu Erfurt die Lockungen zurückgewiesen, mit denen der französische Kaiser es für seine Weltherrschaftspläne zu gewinnen versucht hatte. Dir der Osten, mir der Westen, und uns beiden gemeinsam die De* müthigung des stolzen England, — dies Erfurter Programm und die Folgen der ablehnenden Antwort Rußlands öffnete» auch dem Blindesten die Augen. Es war klar: nur eine Liga Aller konnte dem Feinde Aller die Spitze bieten. Die europäi schen Cabinete erlebten ihren Tag von Damaskus, und von diesem Tage datirt ein Umschwung ihrer Politik, welcher ihre verbündeten Fahnen zweimal im Siege nach Paris führte. Der Gefahr einer katholisch-romanischen ist seit Napoleon- Fall Lie Gefahr der griechisch-slawischen Universalmonar chie gefolgt. Man kann im Grunde nicht sagen, daß die Ge fahr selbst lange verkannt worden wäre. Im Gegentheil, sie ist das abgedroschenste Thema, das in Europa existirt. Minister und Bierhauspolitiker sind über die Vorfrage vollkommen gleicher Ansicht seit langen lieben Jahren gewesen. Aber gehandelt worden ist seit dem Wiener Congresse, als ob die Gefahr nk-