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Wöchentlich erscheinen drzl Nummern. Prömimcratton«- Prei« 22 j Sgr. (^ THIr.) vierteltShrllch, 3 Tdlr. für da« ganze Jahr, ahne Er höhung, in allen Theilen der Preußischen Monarchie. für die Man xränumerlrt auf diese« Literatur-Blatt in Berlin in der Expeditton der Avg. Pr. StaatS-Zeitung (Friedrich-str. Nr. 72); in der Provinz so wie im AuSlande bei den Wohllöbl. Post-Aemtern. Literatur des Auslandes. 112 Berlin, Freilag den 17. September 1841. Rußland. Ein Sommer-Sonntag in St. Petersburg. Keine Europäische Hauptstadt verändert ihren Charakter zur Sommerzeit in solchem Grabe, wie Petersburg. In allen Haupt städten giebt es eine Menge Privat-Gärten und Gärtchen, die dem Publikum beständig offen stehen, wo eine unbemittelte Familie über den Anblick der Blumen und des frischen Grüns sich freuen und den Tag mit geringen Kosten so zubringen kann, als wäre sie zu Hause. Kaum ein Zehntheil der Bewohner von London, Paris, Wien und Berlin zieht im Sommer aus der Stadt aufs Land; wogegen in St. Petersburg Alles, von dem vornehmsten Herrn bis zum Ge- richtsschrejber, und von dem reichsten Banquier bis zum HandwcrkS- mann, nach den Dat schi auswandert. Datscha ist ein technischer, der nordischen Hauptstadt eigenthümlicher Ausvruck, mit dem man eben so wohl eine prächtige Billa, als eine bäuerische Hütte belegt. In Moskau hat das Wort noch nicht diese Bedeutung; es bezeichnet dort und anderswo einen Wald mit einem angränzenden unbebauten Felde. Ohne Zweifel erhielt es seine jetzige Bedeutung im Peters burger Sprachgebrauch daher, weil man anfänglich die walvbcwach- senen Gegenden um Petersburg unentgcldlich vertheilte, damit Land häuser auf denselben erbaut würden. Ich erinnere mich noch der Zeit, als nur vornehme und reiche Leute auf die Datschi gingen, als nur sie sagen konnten: ^ievu na Ust^vki (ich wohne auf der Datscha), oder: pro«cbu ko mne na ÜÄttcbn (ich lade R. N- zu mir ein auf die Datscha). Die Beamten, die Kaufleute und Handwerker scheuten sich vor diesem Worte, das den höchsten Grad des LuruS be zeichnete. Damals erheiterte man sich in dem „Sommer-Garten" und im Tawritscheßkji Sad °), im Garten des adligen Land-Kadetten- Corps, in Jekaterinhof (Katharinen-Hof), auf den Inseln, besonders dem Kreßtowßkji Oßtrov, auf der Datscha des Grafen Alexander Sergejewitsch Stroganov oder des Leo Alerandrowitsch Naryschkin. Diese Bojaren ergötzten das Publikum jeden Sonntag mit Musik und Feuerwerken, und ließen Thee und Erfrischungen herumrcichen — ja im Garten des Grafen Stroganov wurde sogar getanzt. Damals war eS Gebrauch uüd Mode, in Balken von einer Insel nach der ande ren zu fahren, und an allen Landungsplätzen standen Mieth-Fahrzeuge mit prächtig gekleideten Ruderern, von deren Gesängen das Ufer der Newa wiederhallte. Equipagen gab es nichl so viele, wie jetzt, auch entschloß sich nicht Jeder, eine Kutsche oder Kalesche zu besteigen, um nicht in den Ruf zu großen Reichthums oder großer Verschwendung zu kommen. Am üppigsten lebten der reiche Adel, die fremden Äaus- leute vom ersten Rang und die Russischen Pachter und Lieferanten. Pachter und Verschwender waren Synonyma. Noch jetzt erzählt man sich von den wunderherrlichen Festen, welche die Pachter zu Ehren ihrer vornehmen Beschützer gaben. Das Publikum nahm an diesen Gelagen immer Theil, oder dürft/ wenigstens dabei zusehen. Zuweilen deckte man Tische für einige tausend, Personen und Silber münzen wurden unter das Volk geworfen! Andere Zeiten, andere Sitten! Jetzt lebt Alles nach dem Fran zösischen Sprüchworte: vbaoun KOI ec Diou pnur touü! Unsere Sitten haben sich binnen vierzig Jahren in solchem Grade umge wandelt, daß man jetzt Vieles, was damals ehrwürdig war, lächerlich und sogar unanständig nennen würde. Ich will gern zugeben, daß auch unsere heutigen Gebräuche und Gewohnheiten Vieles enthalten mögen, was man nach einem halben Jahrhundert für seltsam und sogar für komisch erklären wird; in jedem Falle aber erscheint mir die Sitte, auf einer Datscha zu wohnen (wär' cS auch nur eine Bauernhütte), sehr heilsam, nicht bloß für die Gesundheit, sondern auch in moralischer Beziehung. Mit seiner Frau und seinen Kmdcrn auf dem Lande leben heißt so viel, als der Natur leben, und schon eine flüchtige Berührung mit dieser Allmutter macht den Menschen edler und besser. Beamten und Kaufleuten, die auf einer Datscha Mahnen, ist es doch wenigstens vergönnt, sich Minuten lang der Welt zu entziehen und Betrachtungen anzustellen — bisweilen steigt unwillkürlich ein Gedanke empor, der mit Börse und Departement nichts zu schaffen hat, aber dieser Gedanke ist wie Manna in der Wüste, wie ein frischer Trank dem Dürstenden. Man darf dreist annehmen, daß beinahe die Hälfte der verhei« ratheten Bewohner Petersburgs den Sommer aus dem Lande zubringt; ') 8»<i lmtt scharfem -g heißt Garten- und gewiß würden noch viel Mehrere ein Gleiches thun, wenn man auch möblirte Landwohnungcn beziehen könnte. Ein Mödel-TranS- port ist ein halber Ruin! Ader bei all dieser Ungemächlichkeit, bei aller Theuerung des Transportes bleiben doch nur solche Leute in der Stadt, denen es wegen ihrer Geschäfte oder anderer Umstände unmöglich ist, sie zu verlassen, over einige berüchtigte Geizhälse, die, eben weil sie eigene Datschi haben, in der Stadt Zurückbleiben, um diese Datschi vortheilhaft vermiethen zu können! Bei diesen Herren ist die frische Lebenslust — im Beutel, upd sie würden lieber in ihre Koffer kriechen und die Geldstücke belecken, als in der Natur sich aufheitern. — Das Militair befindet sich den größten Theil des Sommers im Lager und die Stadt erscheint ode, besonders am Morgen und späten Abend. Nur auf dem Newßji Proßpekt und den Morßkie Proßpektp, wo die bedeutendsten Magazine sind, hört man zwischen Mittag und der Diner-Zeit Equipagen raffeln, und von drei Uhr Nachmittags au fahren auch Kabriolet's der Börse zu. Ueberall werden Straßen gepflastert, Abfluß-Kanäle gereinigt, Trottoirs ausgebiffert, Quartiere in Häusern verändert, neue Häuser erbaut und alte umgebaut. Petersburg schmückt uod verjüngt sich zum Empfange seiner Beherrscherin, — der winterlichen Jahreszeit, und schüttelt die Bürde ab, die ein schmutziger nordischer Frühling und ein regnerischer Herbst ihm aufgeladen. In allen Werkstätten giebt es Arbeit die Fülle; denn wenn auch der Meister auf rem Lande wohnt, so sind die Gesellen und die Tagelöhner doch emsig beschäftigt. Ader siehe, es kommt der Sonntag, das Wetter ist schön, und die ganze daheim gebliebene Bevölkerung Petersburgs belebt nur Ein Gedanke — das Spazierengehen außer der Stadt! Die Börsen- Kausleute eilen, nachdem sie beinahe die ganze Woche und jedenfalls an allen Posttagen in ihren Stadtwohnungen gesteckt, schon am Sonnabend, gleich nach der Börse, zu Weib und Kindern auf das Land. Auf dem Wege nach dem Pargolowo wirbelt der Staub empor; dort ist die Sommer-Residenz der fremden Kaufmannschaft. Vom Morgen des Sonntags an rollt eine Reihe wohl verketteter Waggons alle zwei Stunden nach Zarßkoje Selo und nach Pawlowßk, und alle Plätze sind besetzt. An den Anfuhrten der Miethskutscher ist Jahr markt. Die in der Stabt zurückgebliebenen verehelichten Beamten, Kaufleute und bemittelten Handwerker fahren hinaus, um ihre Freunde auf dem Datschi zum Mittagsmahl ober zum Thee zu besuchen. Andere machen mit ihren Bekannten Vergnügungsfahrten nach vem Pargolowo, dem Murino, den Taizy; die guten Hausfrauen nehmen Speisen, Thee, Kaffee, ihre Männer aber Wein oder Rum als Pro viant mit sich — die Kalesche ist von oben bis unten befrachtet. Russische Kaufleute und unverheirathete Beamte fahren in einspännigen Droschken oder in Miethskutschen auf den PeterShofer Weg, zum Traiteur Notschtscha, wo man Feuerwerke abbrennt und allerlei Kunststücke zum Besten giebt. Ganze Schaaren Fußgänger — Kauf mannsdiener, Handwerker, Krämer, Schreiber u. f. w. tumnteln sich von drei Uhr Nachmittag an auf dem Wege nach Katharinenhof und dem Kreßtowßkji Oßtrov. Alle Fährleute sind beschäftigt, um Spaziergänger auf diese Insel hinüber zu bringen, die besonders von Deutschen Handwerkern, bei denen noch kein großer Wohlstand eingekehrt ist, mit ihren ganzen Familien, mit Kindern unv Gesinde besucht wird. Die Gesellen spielen bei solcher Gelegenheit die Rolle von Hofmeistern bei den Söhnlein ihres Meisters, um sich des Wohl wollens der Frau Meisterin zu versichern, und tragen auS Galanterie Mantel und Shawl der Letzteren over ihrer ältesten Tochter; die Lehrburschen aber schleppen den Korb mit der Thecmaschine, mit Schnaps und Butterbrob. Die wackere Familie will ihren Thee unter dem Schatten der Bäume von Kreßtowskji Oßtrov sich schmecken lassen, und der Fährmann spedirt eine recht malerische Gruppe hin über: den Meister schmückt ein neuer Leibrock von altem Zuschnitt; die Meisterin ein neumodischer Hut; die Töchter — nun, die mögen sich mustern wie sie wollen; sind sie nur jung und hübsch, so, werden auch die Lorgnetten der Stutzer (wörtlich ver Stieglitze) auf sie gerichtet seyn. Bon drei Uhr nach Mittag beginnt daS Fahren über die Troizker-Brücke und den Großen Prospekt nach Kamennoi Oßtrov (der Stein-Insel), die bis auf den beutigen Tag ihren Ruhm bewahrt und mit aristokratischen Gaben sich schmückt. Das Fahren dauert hier ununterbrochen bis Mitternacht. Hier sieht man schon großstädtisches Leben unv großstädtischen LuxnS: die Equipagen der fremden Gesandten, der Russischen Magnaten, des reichen Adels und der reichen Kaufleute. Einige kommen aus Zarßkoje Selo und Peterhof, um ihre Familien zu besuchen. Andere rollen zum Diner