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Eine eigenartige Stellung in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts nimmt Jean Sibelius, der Begründer der national-finnischen Kunst musik, ein. Der 1865 in Hämeenlinna (Taveste- hus, Finnland) Geborene sollte eigentlich Jurist werden, studierte jedoch Musik bei M. Wegelius in Helsinki, bei Albert Becker in Berlin und schließlich bei Karl Goldmark und Robert Fuchs K Wien. 1893 kehrte er wieder in die Heimat Jrirück, wirkte zunächst als Theorielehrer an Hel sinkier Musikschulen, bis er sich, da er vom finni schen Staat ein Stipendium auf Lebenszeit er hielt, gänzlich seinem kompositorischen Schaf fen widmen konnte. 37 Kilometer von Helsinki, in Järvenpää, ließ er sich 1904 in herrlichster Landschaft ein Haus bauen, in dem er bis zu seinem Tode im Jahre 1957 lebte und arbeitete. Seit 1929 veröffentlichte Sibelius keine Werke mehr. Er schrieb fortan nur noch Musik, die nie mand, nicht einmal seine Frau, hören durfte. An Stapeln von Notenblättern klebten Etiketten: „Nicht anrühren'' oder „Erst nach meinem Tode zu öffnen". Aber der Nachlaß enthielt kaum Ma erste Komponist, der sich von der schottischen Volksmusik mit der charakteristischen Pentato nik, dem fünfstufigen Tonsystem, sowie der na turhaft-frischen Farbigkeit anregen ließ; Men delssohn hat in seiner „Schottischen Sinfonie" aus diesem Melodienschatz geschöpft, und be reits Haydn und Beethoven komponierten Schottische Lieder. Die Vermutung Wilhelm Alt manns, das Werk sei „durch die Lektüre Walter Scotts angeregt worden", scheint die dunkel gefärbte Rezitativeinleitung in es-Moll, an die sich unmittelbar das von einer großen melodi schen Entwicklung getragene Adagio cantabile in Es-Dur anschließt, nachgerade zu bestätigen (ihm liegt ein schottisches Liebeslied zugrunde), ier zweite Satz (Allegro) besitzt tänzerischen Iharakter; über der leeren Quinte der Hörner erklingt das Tanzmotiv der Solovioline, das aufs vitalste variiert, von der Violine ebenso wir kungsvoll wie kapriziös umspielt wird. Der sich wiederum sofort anschließende dritte Satz, ein ruhiges Andante sostenuto, bringt den Nach weis, wie sehr Bruch bei der Gestaltung seiner Themen nach Sangbarkeit und Eingängigkeit strebte. Ganz auf Durchschlagskraft scheint das Finale konzipiert zu sein, ein Allegro guerriero, das ein schottisches Kriegslied verarbeitet. Gleich zu Beginn stellt es die Solovioline im Fortissimo vor und führt es, nachdem es auch vom Orchester aufgegriffen wurde, in halsbre cherisch-virtuosen Figuren durch alle Klangbe zirke. nuskripte. Der Komponist hatte offenbar alles kurz vor seinem Tode vernichtet. Er sagte ein mal: „Diktatur und Krieg widern mich an. Der bloße Gedanke an Tyrannei und Unterdrückung, Sklavenlager und Menschenverfolgung, Zerstö rung und Massenmord machen mich seelisch und physisch krank. Das ist einer der Gründe, warum ich in über zwanzig Jahren nichts geschaffen habe, was ich mit ruhigem Herzen der Öffent lichkeit hätte geben können. Ich habe manches geschrieben, aber etwas aufführen zu lassen, dazu fehlte mir... ja, das wollte ich eben nicht.“ Zum Bilde Sibelius’ gehört es auch, daß er sich kurz vor und nach der Jahrhundertwende der national-finnischen Freiheitsbewegung gegen die Unterdrückungsmaßnahmen der zaristischen Behörden anschloß. Seine berühmten Tondich tungen nach dem finnischen Nationalepos „Kalewala" oder die sinfonische Dichtung „Fin landia" stehen in engem Zusammenhang mit diesen nationalen Bestrebungen. Zu Sibelius' wichtigsten Werken rechnen neben zahlreichen Liedschöpfungen, Klavierstücken, Volksliederbe arbeitungen, Chören und einer Oper ein Violin konzert, die sinfonischen Dichtungen und vor allem sieben Sinfonien, die den Komponisten als größten finnischen Sinfoniker ausweisen. So sehr auch der Meister von der Mythologie und Natur seines Landes zum Schaffen angeregt wurde, Motive aus der Volksmusik verwendete er nir gends. Gleichwohl ist seine eigenständige, zwi- schenSpätromantik und neuen musikalischen Be strebungen des 20. Jahrhunderts stehende Mu sik von ausgesprochen nationaler Haltung, in der Stimmung wie im Tonfall. „Die .Weise' sei nes Landes fließt ihm aus dem Herzen in die Feder", sagte Busoni, der zu den ersten auslän dischen Vorkämpfern des großen Finnen ge hörte. Die Eigenart seines elementaren, urgesunden Persönlichkeitsstils fand keine Nachfolge. Wäh rend sein Stil in den Jahren nach der Jahrhun dertwende zu fast klassischer Klärung gelangte bei impressionistischem Einschlag, ist das Schaf fen der neunziger Jahre, dem auch die 1898/99 entstandene 1. Sinfonie e-Moll op. 39 entstammt, durch unmittelbaren Gefühlsreich tum, instrumentale Farbigkeit und blühende Melodik, durch ein höchst subjektives Sturm und-Drang-Pathos charakterisiert. Orchestrale Kraft- und Massenwirkungen werden in reichem Maße genutzt. Die 1. Sinfonie stellt wie die mei sten der Sibelius-Sinfonien eine ins Große ge weitete sinfonische Fantasie dar (das Finale nennt der Komponist selbst „quasi una Fanta sia"). Die rhapsodische Freizügigkeit in der Formbehandlung unterstreicht die subjektive Haltung dieser großartigen Stimmungs- und Ausdrucksmusik, die freilich, wie Sibelius einmal im Hinblick auf seine gesamte Sinfonik äußerte, „als musikalischer Ausdruck ohne jedwede lite rarische Grundlage erdacht und ausgearbeitet worden ist". Dennoch mag der Hörer beim An hören des Werkes an einen anderen Ausspruch des Komponisten denken: „Die Wunder der Natur erhoben mir immer wieder das Herz", denn dieses außerordentliche Naturerlebnis, dessen er fähig war, spiegelt sich auch in seiner 1. Sinfonie wider, in der die Schwermütigkeit, Herbheit finnischer Landschaft musikalischen Ausdruck fand. Eine melancholisch-einsame Weise der Solokla rinette, von dumpfem Paukengrollen unterstützt (Andante ma non troppo), leitet zum Allegro- Hauptteil des ersten Satzes hin, der mit plötz lichem Streichertremolo, energischen, rhythmisch kantigen Motiven eine dramatische Erregung herbeiführt, nach deren Höhepunkt und Abklin gen in den Flöten ein idyllisches, dabei markan tes Thema erscheint. Auf diesem Material baut der Satz auf, dessen starke, rhapsodische Kon trastwirkungen und Kraftausbrüche einen bei ¬ nahe grimmigen Zug besitzen. Elegisch-schwer mütige Stimmungen herrschen im Andante vor. Tröstlichen Gedanken wird nur vorübergehend Raum gelassen, etwa in der leidenschaftlichen Steigerung in der Mitte des Satzes. Grell, robust ist der musikalische Ausdruck des rhythmisch ge spannten Scherzos, dessen Hauptthema auch die Pauken solistisch übernehmen. Eine gewisse Entspannung bringt das schwärmerische, zarte E-Dur-Trio. Die Klarinettenmelodie vom Anfang des ersten Satzes leitet das Finale ein, pathe tisch-breit instrumentiert und den Streichern zu gewiesen. Aus den knappen, spannungsträchti gen Motiven des anschließenden Allegro molto entfaltet sich in den Violinen ein breitströmen des, gesangliches Thema, das bei seiner Wiedag| holung zum machtvollen, krönenden Schluß Sinfonie führt. Diese Coda ist von unerbittlicher kämpferischer Entschlossenheit, von ungebro chener Kraft geprägt. Bezeichnenderweise ist das heroisch-tragische Pathos, die immer wieder durchbrechende trot zig männliche Hatung des Werkes als symbo lisches Bild von Finnlands Kampfbereitschaft ge gen das Zarenregime gedeutet worden. VORANKÜNDIGUNG: Donnerstag, den 25. Dezember 1980, 20.00 Uhr (Freiverk' Freitag, den 26. Dezember 1980, 20.00 Uhr (AK J) Festsaal des Kulturpalastes Dresden 4. AUSSERORDENTLICHES KONZERT Dirigent: Johannes Winkler Solist: Peter Rösel, Dresden, Klavier Werke von Reger, Weber und Tschaikowski Programmblätter der Dresdner Philharmonie Redaktion: Dr. habil. Dieter Härtwig Den Text über die Schottische Fantasie von M. Bruch schrieb E. Schwinger, Berlin. Spielzeit 1980 81 - Chefdirigent: Prof. Herbert Kegel Druck: GGV, Prod.-Stätte Pirna 111-25-12 ItG 69-80 3. AUSSERORDENTLICHES KONZERT 1980/81 EVP: 0,25 M