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Nr. 80 Menst--, 12. Hct-öei 1869 Sächsische DorsMmK Genfta-t» in der Expedi ¬ tion, N.Mtißn. -a Haden. VretSt^ vierteljährlich 12'/»Rgr. Zu beziehen durch alle kgl. Post- Anstalten. Ein unterhaltendes Blatt für den Bürger und Landmann. Erscheint jeden Dienstag'und Freitag früh. Redigirt unter Verantwortlichkeit deS Verlegers C. Heinrich. Politische Weltschau. Ist es uns leider unmöglich, an dieser Stelle ausführlich den Verhandlungen deS vierten deutschen Protestanten tages zu folgen, welcher soeben in Berlin seine Berathungen beendet, so mögen nachstehende Beschlüsse Zeugniß von dem Geiste ablegen, welcher die Versammlung durchwehte. I. Die evangelische Kirche Deutschlands ist hauptsächlich deshalb im Innern zerrissen und erlahmt und gegen römische Angriffe und Uebergriffe theilweis machtlos, weil die freie Entfaltung ihrer Prinzipien und Lebenöbedingungen in weiten Kreisen amtlich verkümmert und gehemmt ist. II. Statt der Konsistorial- und Pastoralkirchen, dieser Verzerrungen protestantischer Lebensge meinschaft, fordern wir die volkstümliche deutsche Gemeindekirche. Die Einrichtungen, wie sie den sechs östlichen preußischen Pro vinzen in einer sogenannten Synodalordnung geboten worden, sind bloße Scheinkonzessionen an da- Gemeindepnnzip. III. Jede Beschränkung der wissenschaftlichen Forschung und der kirchlichen Lehrzeit durch Dogmenzwang ist eine schwere Verletzung der evangelischen Lebensgemeinschaft, deren alleiniger Meister JesuS Christus ist, der Erlöser und Vollender der Menschheit. IV. An dieser Grundwahrheit evangelischen Christenthums hielten wir von jeher und halten wir fest, und legen darum Verwahrung ein gegen Dogmenknechtschaft und Bekenntnißzwang. Wer hierin ein Verleugnen der christlichen Heilswahrhett sieht, und nach Pharisäer- und Schriftgelehittenart unsern Ausschluß von der christlichen Gemeinschaft begehrt, der verleugnet die sittliche Grund wahrheit deS Christenthums — die Liebe. V. Die unbewiesenen Vorwürfe der preußischen Kirchenbeyörden gegen unsern Verein weisen wir mit Entrüstung zurück. Jede dogmatische Ueberzeu- gung ist uns willkommen, die auf dem Einen, alten und un vergänglichen Grunde deS stets sich verjüngenden Christentums mit unS arbeiten will an der Erneuerung und Belebung unserer Kirche im Geiste evangelischer Freiheit und im Einklang mit der gesammten Kulturentwicklung. VI. Alle deutschen Männer, welche mit unS dasselbe wollen, werden von uns hiermit aufs Neue zu gemeinsamer Arbeit, zu gemeinsamem Kampfe gegen alles unprotestantische und hierarchische Wesen und zu gemeinsamem Schutz deS Rechts, der Ehre und der Freiheit unseres deutschen Protestantismus öffentlich und feierlich aufgerufen. Nach einstimmiger Annahme dieser vom Professor vr. Schenkel auS Heidelberg in einer glänzenden Rede verteidigten Thesen, äußerte Präsident Bluntschli im Schlußwort: „Nicht ohne Besorgniß sind wir nach Berlin gekommen. Unser Stand punkt freilich ist vom Boden deS Rechts unangreifbar. Es war auch nicht die Angst vor den Bannstrahlen, im Gegentheil, mich freute e-, daß unS die Kirchen geschloffen wurden, weil ich da ran- die Hoffnung schöpfte, daß uns um so mehr die Herzen Berlin- aufgeschlossen werden würden. Und in der Lhat, man ist für unS eingetretm; anstatt deS Oberkirchenraths hat die Berliner Bürgerschaft unsere Berathungen vor dem Lärmen und Dagengeraffel geschützt, gleichsam als ob diese Turnhalle eine Kirche geworden wäre. (ES waren auf der Straße Tafeln auf- aestellt mit dem bekannten Gebot: Schritt fahren!) Meine Be sorgniß war, daß wir in Berlin In weitesten Kreisen einer ge- «nmnddreißi-fler Jahrgang. IV. Quartal. wissen Gleichgültigkeit begegnen würden, trotzdem sind gerade hier die Früchte des Protestantentages am reifsten geworden. Diese Versammlung kann Zeugniß davon ablegen, daß unsere Erbauung, daß der protestantische Gottesdienst, den wir hier feierten, warm, rein und heilig gewesen ist, wärmer, reiner und heiliger, als in vielen Kirchen., Sie kann bezeugen, daß unsere Verhandlungen keine Spiegelfechtereien mit Worten, sondern ernste Gedanken und reife Erwägungen gebracht und reife Früchte getragen haben. Lassen Sie uns mit Dank scheiden, Dank den städtischen Behörden und der Turnerschaft für diese Räume, Dank den Familien, die uns gastlich ausgenommen. Wir werden mit guten Eindrücken scheiden und dies unsern Freunden mit- theilen, dem aber, was die Gegner sagen, mit Ruhe ent gegensetzen." Deutschland. Preußen. Beide Häuser des Landtags haben ihre früheren Präsidenten, wiedergewählt: das Herrenhaus den Grafen Stolberg-Wernigerode und das Abgeordneten haus v. Forckenbeck. Einen höchst ergötzlichen Beweis von schwarz-weißem Partikularismus lieferte gleich in der ersten Sitzung des Herrenhauses der Er - Justizminister Graf zur Lippe, indem er seine Kollegen zu der Erklärung veranlassen wollte, daß künftig hin der norddeutsche Bund nicht eher Aenderungen an seiner Verfassung, die zugleich das preußische Staatsgrundgesetz berühren, vornehme, als bis hierüber die preußische Landesvertretung gehört worden ist. Der Antragsteller nimmt hauptsächlich Anstoß an der Errichtung eines obersten Handelsgerichtshofes in Leipzig und an dem Gesetz wegen gegenseitiger Gewährung der Rechtshilfe. Das ist nun wirklich hochkomisch, wenn sich Graf zur Lippe als Wächter und Schirmer preußischer Verfassungsrechte aufwerfen will. War er eS doch selbst, der früher als Justizminister die Abgg. Twesten und Frentzel durch alle Instanzen verfolgen liess, trotzdem die Verfassung jeden Abgeordneten vor dem Kriminal richter sicher stellte. War er es doch, der beim Ober-Tribunal die „Hilfsrichter" einschob, um nur gegen den klaren Wortlaut des Gesetzes die Verurtheilung dieser bewen Abgeordneten ermög lichen zu können. Und heut' will derselbe Mann, freilich nur aus Gereiztheit, Verdruß und übler Laune, den Schutzherrn der von ihm selbst verletzten Verfassung spielen! Das ist dock ge wiß urkomisch! Freilich haben seine Lamentationen gar nichts zu bedeuten. — Es bestätigt sich, daß die Gesammtzahl der Vor lagen für den Landtag die Zahl 40 erreicht; darunter befinden sich 9 aus dem Ministerium des Innern, 4 aus dem Kultus ministerium, 6 aus dem landwirthschaftlicken Ministerium, 8 aus dem Justizministerium, 5 aus dem Handelsministerium und 8 aus dem Finanzministerium. Das Budget für daS Jahr 1870 weiset eine Einnahme von 164,311,275 Thlr. und eine Ausgabe von 169,7 l1,275 Thlr., mithin ein Defizit von 5,400,000 Thlr. auf. Zur Deckung deS Defizits soll ein Zuschlag von 25 Prozent zur klassifizirten Einkommensteuer, zur Klassensteuer und zur Mahl- und Schlachtsteuer erhoben werden. Ob das Abgeordnetenhaus diesen Zuschlag bewilligen wird, ist sehr fraglich, da es schon früher darauf hinwie-, daß durch Vereinfachung des Regierungs apparats jährlich eine viel höhere Summe zu erübrigen sei. Das Gesammtdefizit auS den Jahren 1869 und 1870 beträgt gegen- S0