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WSchenNiSi erschnne» drei Nummern. PriinumerationS-Prei- 22j Silbergr. (j THIr.) vierieljähriich, Z Tb». für da? ganze Jahr, ohne Erhöhung, in allen Theilen der Preußischen Monarchie. Magazin für die Pränumerationen werden von jeder Buchhandlung (in Berlin bei Veit ». Comp., Iägerstraße Nr. 28), so wie von allen Königs. Post-Aemteru, angenommen. Literatur des Auslandes. 4/ 11S Berlin, Donnerstag den 25. September L84S. England. Die niederen Volksklaffen in England. °) Als im Jahre 1818 Europa die Waffen liieberlegte, sah man nicht, wie in früheren Jahrhunderten, die aufgelösten Heere als Räuberbanden die Länder überschwemmen und die Früchte des Friedens im Keime vernichten. Eine Million Soldaten kehrte ins bürgerliche Leben zurück, ohne eine Zügellosigkeit zu begehen, und Männer, die bis dahin nur den Säbel oder das Gewehr gehandhabt hatten, widmeten sich den mühevollen, spät lohnenden Arbeiten der Wissenschaft, der Industrie und beS Ackerbaus. Rie war eine so große Umwandlung so friedlich vor sich gegangen : sic geschah im Augenblicke, wie eine Dccorationsveränderuug auf dem Theater. Wenn die Ruhe der Gesell- schäft, wie in Frankreich, einmal gestört wurde, so lag dies an den Re- gierungcn, die im Rausche des Sieges die Besonnenheit verloren, denn die Völker verfolgten ihren Weg so eifrig, daß sie seit dreißig Jahren wunderbare Fortschritte in der Civilisation gemacht haben. England konnte nach den Zetten der Bewegung am schwersten seine poli tische Ruhe wiedergcwinnen. Und dies war ausfallend, denn England hatte die Friedenöbedingungen diktirt und sich an französischem, spanischem und holländischem Gute bereichert; es wurde die erste Macht auf dem Festlandc und zur See, und die Märkte der ganzen Welt waren den Erzeugnissen seiner Industrie geöffnet. Mit dem Kriege hörten die außerordentlichen Abgaben auf, die auf den Steuerpflichtigen lasteten; die StaatS-Ausgaben, die im Jahre 1814 die unerhörte Summe von 106,812,260 Mill. Pfund erreicht hatten, fielen 1818 auf 92, 1816 auf 63 und im darauf folgenden Jahre auf 33 Millionen, also in drei Jahren um 48 Prozent. So glänzend aber auch diese Veränderungen waren, so übten sie doch auf das Schicksal des englischen Volkes keinen merkliche» Einfluß aus, vielmehr wuchs, seitdem der Friebe zurückgekehrt war, die Unzufriedenheit im Lande mit jedem Tage. Der aus wärtige Handel und mit ihm die Fadrikarbeit nahm nicht den Aufschwung, den man anfangs glaubte erwarten zu dürfen. Die Ausfuhr, welche 1814 43 Mill, und 1813 31 Mill. Pfund betrug, fiel 1816 auf 41, 1817 auf Z3 Mill. Zu gleicher Zeit vermehrten sich die Verbrechen in der genannten Periode um 118 Prozent. So plötzliche Verschlimmerungen in der Moralität der Völker deuten stets auf Unordnungen im Staatshaushalte, und, als hätte cs dafür noch anderer Beweise bedurft, brachen auf mehreren Punkten des Königreichs Aufstände aus, und geheime Verbindungen begannen sich unter den Arbeitern zu verbreiten. Man hat behauptet, England sep durch den Krieg zu sehr erschöpft ge wesen, als daß der Friede die Sittlichkeit und das äußere Wohl der Bürger so rasch hätte heben können. Obgleich nicht zuAeugnen ist, daß diese Ursache mitgewirkt hat, die Leiden des Volkes zu verlängern, so ist es doch nicht die einzige. Der Kampf gegen die französische Revolution hatte von 1806—18 dem Lande zwar über hundert Millionen Pfund gekostet, aber seitdem haben sich seine Geldmittel allmälig wieder vermehrt, und dennoch sind die Wunden nicht vernarbt, und die Aufregung besteht fort. Der Grund des Uebels muß also im Augenblicke noch nicht beseitigt sepn, denn läge er so fern als die französischen Kriege, so hätte die Zeit seine Spuren bereits verwischt. Er liegt aber in der Ungerechtigkeit, mit welcher die englische Verwaltung die niederen Klassen des Volkes behandelt. Die Menge beklagt sich selten über die Entbehrungen, die ihr aufgelegt find, wenn sie die Häupter de» Landes auch einen Theil der Bürde tragen sieht; aber eS wäre ihrer Geduld und Ge- fügigkeit zu viel zugemuthet, wollte man die ganze Last auf ihre Schultern wälzen. Als durch den Frieden die StaatS-Ausgaben verringert waren, gingen Ministet und Parlament damit um, die Auflagen um ein Bedeutendes herabzusetzen. Aber anstatt die von sämmtlichen Klassen des Volkes ge tragenen Steuern für Gegenstände des täglichen Bedarfes zu ermäßigen, hob man lieber die invome-tax auf, die von den Einkünften erhoben wurde und daher die untersten Stände wenig berührte. Hierdurch wuchsen die Einkünfte des Adels um so viel, als die Tare betragen hatte, also um 10 Prozent, und so kam eS, daß diejenigen Stände, welche die meisten Vorrechte ge nossen, vcrhältnißmäßig das Geringste zu den Lasten des StaateS beitrugen. Die Grundbesitzer aber, denn ihnen kam die Aufhebung der Einkommen- Steuer am meisten zu Gute, waren mit dieser bloßen Ersparniß noch nicht zufrieden und wollten von ihren belasteten Mitbrüdcrn auch einen reellen Vor- theil ziehen. Vor dem Jahre 1813 durfte ausländisches Getraide frei nach »1 Nach Leon Zauche,'« «tun«, „r I-z°,I«t«rre. 2 Bde. Pari«, >245. England eingeführt werden. Damals kostete der Quarter 68 Shill. Seitdem es aber die Grundbesitzer durchsetzten, daß das eingeführte Korn besteuert wurde, stieg der Quarter auf den Preis von 80 Shill-, wodurch natürlich der Pachtzins und somit der Werth des Landbesitzes erhöht wurde. Die eng- lische Aristokratie hat sich also selbst die Aufregung zuzuschrciben, die seit dreißig Jahren im Königreiche herrscht. Die Ordnung wäre gewiß nie ge. stört worden, wenn die regierende Kaste weniger Eigennutz und mehr Gercch. tigkeit dem Volke gegenüber gezeigt hätte. Gewiß, England ist in keiner Revolution begriffen. Seine Verfassung wurzelt in einem Zeitraum von zweihundert Jahren, und wenn dort die Dinge auch ihre Außenseite ändern, so bleibt ihr Wesen dennoch stets dasselbe. Das englische Volk ist von Natur orthodox urd hierarchisch; und nur ein solches konnte heutzutage den Ade! der Geburt eben so hoch und noch höher achten, als den deS Geistes oder Charakters, und sich mit einer Ungleichheit der Stände auch eine Ungleichheit der Rechte gefallen lassen. In einem so beschaffenen Lande nun muß die Macht sehr gemißbraucht werden, wenn es dahin kommen soll, daß sich die Bande des Gehorsams lockern, ja selbst lösen. Aber von allen Seiten wurde dahin gewirkt, daß demokratische Neigungen im Volke erwachten. Die Tyrannei der Grundbesitzer und Fabrikherrcn und die Verfolgungssucht der Priester haben an vielen Punkten des Königreichs nach Ort und Zeit verschiedene Aufstände hervorgerufen, die wir jetzt etwas näher betrachten wollen, um uns ^genauer davon zu unterrichten, was die unteren Klassen in England verlangen und was sie zu erwarten haben. I. Herne-Hill. Im Frühling des Jahres 18.18, wenige Monate vor der Krönung der Königin, zeigte sich unter den Bauern in der Umgegend von Canterbury eine außergewöhnliche Aufregung. Diese Leute, die bis dahin friedlich ihre Felder bebaut hatten, schienen plötzlich von einem religiösen Fieber ergriffen. An- fangS kamen sie nur zusammen, um zu beten, Kirchenlieder zu singen, oder im Walde, das Abendmahl zu nehmen. Als aber ihr Prediger ihre erhitzten Gemüther zum Haffe gegen die gesellschaftliche Ordnung reizte, wurden aus den Schwärmern Rebellen. Am 27. Mai versammelte sich ein Hause von Bauern im Dorfe Boughton um eine weiß und blau gestreifte Fahne, auf deren Spitze ein Brod befestigt war. Die Versammlung wandte sich nach dem Gehölz von Bleane unter der Anführung eines Mannes von hohem Wüchse, der bei den Bauern in großer Verehrung zu stehen schien. Als man auf einem Gemcindcfelde angekommen war, zog der Anführer seine Schuhe aus und rief: „Jetzt bin ich auf meinem Eigenthum!" Augen scheinlich hatten die Aufwiegler auf diesem Punkte die Ausführung ihrer Pläne beginnen wollen. Von drei Konstablern, die herbeigekommen waren, um sic zu verhaften, wurde einer getödtet, während die beiden anderen ent- flohen. Daraus rückten zwei Compagnieen Soldaten heran, die Aufruhr-Akte wurde verlesen und der Haufe aufgefordcrt, sich zu zerstreuen. Als aber ein Lieutenant Hand an den Anführer legen wollte, wurde er von einem Pistolen schuß getroffen. Auf dieses Zeichen stürzten sich die Bauern, ohne andere Waffen als ihre Stöcke, auf das Detachement. Die Soldaten waren gezwungen, sich zu vertheidige», tödtcten acht, verwundeten sieben und nahmen siebenund. zwanzig von den Rebellen gefangen. Der Held des Gefechtes wurde unter den Leichen an seiner hohen Gestalt und seinem herkulischen Baue erkannt. Die Verehrung seiner Anhänger überlebte ihn. Die Weiber rissen sich um die Locken seines Haares und die Lappen seines blutigen Hemdes. Eine von den Frauen wurde dabei betroffen, wie sie sich Mühe gab, einige Tropfen Wasser in seinen Mund zu bringen, denn er hatte gesagt, wenn ihm dies geschähe, so würde er in einem Monate auferstehcn. Als er begraben wurde, folgten die Bauern mit einer dumpfen Verzweiflung seinem Sarge, die von den an wesenden Soldaten kaum konnte in Zaum gehalten werden. Seit jener Zeit lebt sein Andenken in der Grafschaft Kent, wie das eines zweiten Messias, und die an seiner Seite fielen und ihn mit ihren Leibern deckten, werden wie Heilige verehrt. Woher kam der unglaubliche Einfluß, den dieser Mensch auSgcübt hatte? Wie konnte sich eine Scene des vierzehnten Jahrhunderts im Schatten der rechtgläubigen Hauptstadt der drei Königreiche, auf der großen Straße von London nach Paris in unseren Tagen wiederholen? Der vorgebliche Messias, der eigentlich John Nicholl Thoms hicß, später aber den weniger plebejischen Namen Sir William Courtenay annahm, war aus einem Jrrenhausc entsprungen. Er besaß nicht gewöhnliche äußere Vor züge, sprach geläufig und hatte — was vorzugsweise auf die Bauern wirkte