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Wöchentlich nsämnm drei Nunimcrn. PränumeralionS-Preis 22^ Silderzr. (1 THIe.) vierteliädrlich, Z Thlr. für dnS ganze Iöhe, od»e Erböhung. in allen Theilen der Preußischen Monarchie. Magazin für die Pränumerationen werden von jeder Buchhandlung 0" Berlin dei Veit u. Comp„ Jäqerstraße Nr. 28), so wie von allen Königs. Post-Aemlern, angenommen. Literatur des Auslandes. 7 Berlin, Dienstag den 16. Januar 1844. Italien. Oper und Schauspiel in Neapel. Man wirst den Franzosen vor, daß sie eben so rasch vergessen, als sie begeistert waren, die Jtaliäner reichen ihnen in dieser Hinsicht brüderlich die Hand, ja sie übertreffen sie noch um ein Bedeutendes. Dieser Zug des Volks- Charakters äußert sich am schlagendsten in Beziehung ans das Schauspiel. Die Sucht der Franzosen nach neuen Stücken ist mit der der Neapolitaner gar nicht zu vergleichen. Erstere vernachlässigen ihre Puppen wohl, aber sie zerbrechen sie nicht; sie gleichen vielmehr jenen gutherzigen galanten Frauen, die ihre alten Liebhaber in Freunde verwandeln. Die Pariser Theater kommen gern wieder einmal zu den alte» Stücke« zurück, und wenn sich der TageS-Geschmack gar zu weit von ihnen abgewendet hat, so giebt man sie bruchstückweise; das Konservatorium bemächtigt sich derselben, und so gehen die Meisterwerke nicht durchaus unter. In Italien begrüßt man eine schlechte Composition wie ein Wunder, weil sie neu ist; bald aber folgt auch sie den früheren, ohne eine Spur ihres Dasepnö zurückzulaffcn. Die Opernhäuser haben kein Repertoire. Ein oder zwei der neuesten Stücke werden cinstudirt und halten die ganze Saison, dann verschwinden sie wie dürre Blätter. Freilich, so lange sie in der Mode sind, sind Jedermann Motive aus den selben erinnerlich; man hört sie allenthalben, man giebt sie Improvisatoren als Thema, die Musik-Corps der Negimcnter lernen sie auswendig, man braucht sie zu Serenaden, aber mit dem Ablauf des Jahres sind sie unwieder- ruflich todt. Mozart ist nicht einmal dem Namen nach bekannt. Man weiß wohl, daß einmal ei» Mann lebte, der Cimarosa hieß und dessen Stücke zu ihrer Zeit sehr beliebt waren, aber selbst Rossini wäre ohne das Ltsbsi Mieter schon längst so weit wie Gluck in Frankreich. Othello? Der Bar bier von Sevilla? Wie kann man noch so alte Geschichten anhören! sagen die Neapolitaner. Während des letzten Winters bot das Theater San-Carlo für den Fremden durchaus nichts Anziehendes. Die Sänger waren mittelmäßig, theils über ihre Müthenzeit hinaus, theils noch in der Ausbildung zurück; aber dennoch zog mich ein geheimer Zauber nach der Oper. Ich konnte nicht ruhig schlafen, wenn ich Linda (von Donizetti) nicht gehört hatte. So farblos diese Musik auch ist, sie scheint unter Neapels Himmel ein neues Lebe» zu gewinnen. Die südlichen Länder haben die cigenthümlichc Macht, eine für die Künste besonders günstige glückliche Stimmung hervorzurufen. Du bist kaum acht Tage in Neapel, so empfindest du auch wie ein eingeborener Jtaliäner daS Bedürsniß, dich zu üiiettar«, und was man auch eben geben mag, du wanderst nach San-Carlo. Wenn du im Februar bei offenem Fenster dich angeklcidet hast, durchstreifst du die Stadt ohne andere Unbequem lichkeit als ein wenig Staub und schlenderst zum Thore hinaus im angenehm gemäßigten Strahl der Frühlingssonne. Die ganze Thätigkeit der menschlichen Maschine ist rascher und lebendiger, das Blut strömt leichter, die Cavatine, welche du im Theater deiner Heimat kritisch abschätzen würdest, durchströmt dich mit Entzücken; das Ballet macht dir Freude, du wirst ein Kind init dem Neapolitanischen Parterre und kannst kaum den Augenblick erwarten, bis die Räuber des Ballets von dem jungen Lieutenant besiegt werden, dessen Kopf fast unter dem Federbusch verschwindet. Diese Art zu leben kennst du gar nicht in deinem düsteren Klima, wo du in dich gekehrt am Ofen fitzest und selbst die Luft dich quält, die du einathmcst. Die übrigen Theater, in denen man Opern aufführt, sind neben San- Carlo nicht der Rede wcrth. Das des Fonds ist nur ein Anhängsel zu jenem ; man sieht hier dieselben Stücke von denselben Schauspielern. Das Repertoire des lsslro nuova besteht aus französischen Vaudevilles, die man in schlechte komische Opern verwandelt hat. Das Lustspiel ist in Frankreich natürlichen Todes gestorben. Als es in seiner Blllthe stand, waren hervorragende Originale, lächerliche und schiefe Charaktere genug vorhanden, leicht zu zeichnen und allbekannt, denn sie ge hörten größtenthcilS einer besonderen Cotcrie an, welche den Ton angab. Gegenwärtig hat sich zwar das Lächerliche und Schiefe in Summa nicht ver mindert, weil es sich aber über eine weit größere Anzahl von Individuen auS- dehnt, sind seine Verhältnisse kleinlich geworden und für das Lustspiel verloren gegangen. In Italien dagegen haben sich die bedeutenden Verhältnisse er halten. Der Einfluß gehört Coteriecn und Minoritäten, auf deren Kosten daS Publikum gern lachen würde. DaS Lustspiel könnte unter den günstigsten Verhältnissen auftreten, aber eine höhere Macht schließt ihm den Mund. Des halb behelfen sich die Theater mit Uebersetzungen aus dem Französischen, nach Scribe und Casimir Delavigne, welche durch die unglaubliche Beweglichkeit der Schauspieler möglichst zu Grunde gerichtet werden. Die stets bomba stischen Anschlagezettcl verkündigen „das Glas Wasser" als das geschätzteste Stück der neueren Literatur. Für einen Franzosen, der all das in Paris gut aufgeführt gesehen hat, sind diese Uebersetzungen ein wahrer Jammer. Aber auf den kleinen Theatern, die ihres untergeordneten Ranges wegen keine son derliche Censur zu befahren haben, da blüht das wahre National-Lustspiel, was vom Augenblicke lebt und in seinem kleinen Kreise dem Volke, von deni eö erhalten und beklatscht wird, oft die vortrefflichsten Lehren giebt. An dem Platze del Castello liegt ein ärmliches Haus, welches man für eine Kneipe, aber nimmermehr für ein Theater halten würde. Ein niedriger, gewundener und abschüssiger Gang führt in ein Souterrain, in welchem sich die kleine, aber reinliche und wohl erleuchtete Bühne befindet. Das ist San- Carlino. Zwei Schritte weiter, an demselben Platze, liegt eine andere Boutique ähnlichen Aussehens, das Theater della Fcnice. Nach diesen beiden Winkeln hat sich die komische Muse gerettet, die in Italien nie sterben wird. Hier leben noch die Gelegenhcitsstückc, die volkSthümlichen stehenden komischen Charaktere, die Anreden ans Publikum, wie in alten besseren Zeiten. Hier begann der berühmte Lablache, dessen Andenken in Neapel noch in Ehren steht, seine dramatische Laufbahn. Die Truppe von San-Carlino besteht aus einem Dutzend vortrefflicher Schauspieler, echte Neapolitaner, was Geberdenspiel, Lebendigkeit, gewaltige Kehle und nie versiegendes JmprovisationStalent betrifft. In allen Stücken kehren die vier klassischen Rollen wieder; Pancrazio, Polichinello, der Stotterer mit der gewaltigen Brille und die alte Donna Pangratia, welche jederzeit fest überzeugt ist, daß die jungen Männer sie anbeten. Diese vier Personen haben das Privilegium, das Parterre lachen zu machen. Sie sprechen den neapolitanischen Dialekt, während die anderen Rollen nach den Stücken wech seln und gewöhnlich italiänisch geschrieben sind. Der alte Don Pancrazio repräsentirt die reine Natürlichkeit, Gutmüthigkcit, leichtgläubige Dummheit; Polichinello dagegen die Durchtriebenheit, die Leckerhaftigkeit, die Renom misterei und alle grobsinnlichen Neigungen. Der alte Stotterer mit der großen Brille ist entweder Pancrazio's guter Freund und Bruder oder stellt die Gerichtsschreiber, die Schulzen oder die Polizei-Kommissarien vor. Der Charakter der Alten ist derselbe wie Pancrazio's, nur kommen noch die Schwächen des schönen Geschlechts dazu. Oft spinnen diese vier Rollen eine komische Jntrigue unter sich ab, welche in eine andere ernsthaftere eingefugt ist, der Anschlagzettel verkündet dann die doppelte Jntrigue unter doppeltem Titel. Don Pancrazio und sein Geselle, der Stotterer, tragen ein schwarzes Beinkleid und eine glatte, ungepudcrte Zopfperücke. Der Polichinello ist nicht mißgestaltet wie der des Marionetten-Theaters. Er trägt ein Kamisol und weite faltige Beinkleider aus weißem Leinen. Seine weißleincne Mütze steht aufrecht wie eine Bischofsmütze. Eine schwarze halbe Maske mit langer Nase verbirgt die Hälfte des Gesichts und bewirkt einen vortheilhaften Gegensatz des Starren und des Beweglichen. Die umfangreiche und geschminkte Alte affektirt die Frische und den Reiz der Jugend; sie überlädt die Finger mit Ringen und den Hals mit Halsbändern. In San-Carlino werden diese Cha raktere, namentlich Pancrazio und die Alte, von äußerst begabten und ge wandten Schauspielern dargestellt. Selbst ihre übertriebensten Possen erreichen nie den Punkt, wo Lachen und Lust sich in Uebcrdruß und Ekel verwandeln. Auch der Rest der Truppe zählt noch verdiente Schauspieler; einen tüch tigen ersten Liebhaber, eine liebenswürdige neapolitanische Brünette und eine vorzügliche Kammerzofe. Aber die Seele des Ganzen ist Altavilla, der Moliere der Gesellschaft. Seit mehreren Jahren, obgleich er selbst kaum fünfunddreißig Jahr alt scheint, spielt man nur seine Stücke; und cs ist keine kleine Aufgabe, daS Theater San-Carlino zu versorgen. Den ganzen Winter hindurch giebt eS jeden Sonnabend ein neues Stück. In derselben Woche wird ein Lustspiel ge dichtet und cinstudirt und das der vergangenen Woche nebenbei gespielt. Selbst Lope de Vega wäre dieser Arbeit müde geworden und hätte seine Entlassung cingereicht. Altavilla ist am Sonnabend eben so frisch und munter als am Montag- Es begreift sich, daß ein Stück in so kurzer Zeit nicht sorgfältig aus gearbeitet, ja daß es nicht einmal vollständig ausgeschrieben werden kann. Nur der Plan wird hinreichend angegeben, und einige Scencn werden leicht ausgc- führt, das Uebrige giebt sich gesprächsweise und bei den Proben. Der Jmpro« visation bleibt ein weites Feld offen. Die Schauspieler wissen ungefähr, in welcher Ordnung die Scene» auf einander folgen. Der Sonnabend konimt, das Publikum ist versammelt, der Vorhang geht auf, Pancrazio erscheint, das Parterre schüttet sich vor Lachen aus. Der Souffleur ist geschickt, die Erpo- sition gelingt, jeder begreift seine Rolle. Man unterstützt sich gegenseitig.