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Wlühentlich erschcimn drei Nnmmern. Pr,tnumcration«< Prri« 22; Sgr. (j Thlr.) merieljabrlich, Z Thlr. sür da« ganze Jahr, ohne Er- hbbnng, in allen Theilen der Prcuüischcn Monarchie. Magazin für die Man drZnumeeiel auf diese« Literatur-Blati in Berlin in der Expedition der Wg. Pr. Staats-Zeitung (FriedrichSstr. Nr. 72); in der Provinz so wie im AuSlande bei den Wohllödl. Post Semlern. Literatur des Auslandes. 45 Berlin, Montng den 13. April 1840 England. Literatur-Zustände Großbrüamcns. Von Philaröte Chaslcs. Im Jahre 1688 durchvrang der Protestantismus erst entschei dend die Literatur und die Sitten Grofibritanieus. Dieser pro testantische Genius, dessen Schicksal und Fall Bossuct gewcissagt, dessen lange Erfolge er aber nicht vorausgcsehcn hatte, dicker Genius der freien Analyse und der individuellen Kritik brach sich lebhaft Bahn unter Elisabeth, Jakob 1., Karl I., Karl ll. und Jakob U. Er war aber nur Angriffs- und BertheidigungSwaffe und trat noch nicht als organisches Element aus. Seiner Statur nach schien er selbst allem dem zn widerstreben, was er hervorgcruscn batte; er umfaßte in sich die Verneinung und die Zerstörung. Die Revolution von 1688, mit ihren Erbärmlichkeiten und ihrer Gesetzlichkeits- hcnchclei, brachte ein sonderbares Werk zu Stande; sic söhnte die Unversöhnlichen mit einander aus und orgauisirte das Nichts. Alle Parteien blichen Feinde, koch ermattet von einem tödtlichen Kriege, begnügten sie sich mit einer fortdauernden Feindseligkeit. Indem man die Waffen ablegtc, bewahrte man seinen Haß. Der Katholi zismus allein war verbannt; als gemeinsamer Feind diente er dazu, alle die von einander abweichenden Meinungen, die keine andere Sympathie als die Antipathie hatten, in einem und demselben feind seligen Gefühle zu vereinigen. Wilhelm III. bemächtigt sich des Thrones. Sogleich wird der Ton der Literatur ein anderer; sie macht Unter-Abtheilungen wie der Protestantismus; sie geht ins Besondere, ins Einzelne, sie zer spaltet sich; sie nimmt den Eharakter Holländischer Detailmalcrei, häuslicher Moralität und persönlicher Unabhängigkeit an, den sie früher niemals gehabt batte. Der Protestantismus beherrscht sic; sie bekehrt sich ihrerseits nach der Art und dem RituS, die ihr von der protestantischen Kritik vorgeschricbcn werden. Die moralische Geschichte der Literatur, die man nie geschrieben bat, tritt in England unter besonders interessanten Gestalten hervor. So umfaßt England im I8tcn Jahrhundert, wo es, ohne den Ka tholizismus zu zählen, noch zwanzig religiöse Sekten besaß, in seiner Literatur zwanzig Literaturen, ja, man könnte dreist sagen, die Poesie und bas Drama mehrerer Völker. Pope rcpräscntirt den Hof und die große Welt; bei ihm, wie bei Addison, wird die Zügel losigkeit des alten Hoses durch ein gewisses Anstandsgcfühl und durch guten Ton verbessert; er bewahrt die Eleganz und incidct die Ver derbtheit. Richardson geht sehr viel weiter, er ist Puritaner, Vvlks- frcund, Kalvinist und unerbittlich streng; er kümmert sich wenig darum, ob er euch unterhält, er beobachtet aufs heiligste die genauste Wahrheit bei allen Einzclbcitcn und Vic ängstlichste Regelmäßigkeit. Aus seinen Romanen tritt uns ein ganzes System von Philosophie und Religion entgegen. Fielding hingegen, dieser Friedensrichter, Zwilchen Madeira-Flaschen und Wilvprct-Pasteten so reizende Sachen- schrieb, der Verfasser des „Tom JvneS", der sich langweilte, beständig die puritanische Psalmodie zu hören, blieb den altcn bür gerlichen Sitten des Vaterlandes treu, die viel heiterer und duld- samer waren; cr verfolgt bis aufs Aeußcrste die Heuchelei und das Kaudcrwalsch. Wieder Andere rcpräsentircn die skeptische Philo- fophie, das Quäkcrthum, die Anglikanische Kirche, die Irländische und die Schottische Nationalität. Je weiter die Zeit vorrückt, desto mehr dehnt sich das Werk der Zersplitterung nach allen Nichlnngen hm aus. JakobttlsmnS, Toryismus, Whiggismus, Alles findet sein Echo. Eine Menge von Revuen und Magazinen wenden sich an jede der socialen Fraktionen, und je nach der Verschiedenheit der Beschäftigung oder des Geschmacks zerfallen sic noch in Untcr-Ab- theilungen. Der Blumen- und der Pferdezüchter, der Borer, der Jäger, alle finden ihre getreuen Organe. Es besteht keine noch so kleine Gesellschaft von Billarbspielern, die nicht danach strebte, ihr Daseyn durch die Prcne bestätigen zu lassen. Diese Fluth von Besonderheiten konnte nur mittelmäßigen Menschen genügen; große Geister sind immer hcldenmllthig und be kämpfen ihr Jahrhundert; das ist ihre Bestimmung. Die allgemeinen synthetischen Ideen wurden ihnen immer theurer, je mehr man aus diese bis ins Unendliche gehende Unterschcidungswuth und aus die beschränktesten Spezialitäten lvssteuertc. So erzeugte sich Burke'S, Walter Scott's, DurnS'S, Byron's, Godwm's, Southey's und WvrdS- wvrth's Charakter. Sie alle haben sich an dir ganze Menschheit ge- wrndet, besonders Walter Scott, der weniger durch seine Erhaben heit und durch sein Kolorit, als durch sein bezauberndes unbcgränzkcS Mitgefühl für die Menschheit so anziehend ist. Das ist sein Ruhm, wie es der Ruhm Goethe s ist. °) Crabbe und Cowper sind seltene Geister und bewundernswürdige Dichter, aber von beschränkterem Genius. Man ist Bulwcr die ehrende Anerkennung schuldig, daß auch cr nach Allgemeinheit der Ansichten strebt. Eine Menge von untergeordneten Talenten aber, denen man seit einigen Jahren Beifall gespcnvet, haben sich auf die engsten und unfruchtbarsten Wege ver irrt; der Eine hat weiter nichts als ein Schiff, der Andere nur Ge fängnisse beschrieben; diese Dame will nur ihr Kind, jene nur die Bibel besingen. Daraus sind nur kurze, flüchtige Erfolge, der Lohn unvollkommener Arbeiten, entsprossen, ein matter Ruhmesglanz, der von einem Haupte auf das andere übergeht. England erblickt nun die letzten Resultate dieser endlosen Analyse. Eine geistige Bewegung steht nur dann still, wenn sic erschöpft ist. Die protestantische Analyse aber, die alle diese Besonderheiten hcrvorricf und die Ver- thcilung der Arbeit auf die GcistcSwerke anwandte, hat die großen philosophischen Werke zerstört. °°) So besitzt denn nun England, statt einer großen Literatur, an hundert verschiedene literarische Gattungen. Die Literatur der Bilder und die komische Literatur erfreuen sich ganz besonders der allge meinen Gunst. Don Zeit zu Zeit taucht noch eine Trümmer der See-Literatur wieder aus, wie zum Beispiel der „Spitfire", ein ziemlich guter Roman des Capitain Chamier; aber Hood's Calem- vourgS und die Späße Cruikshank'S und seiner Akolyten gefallen doch weit besser. Eine ganze Revue, der „Humorist", beutet den Scherz zum Bortheil eines Buchhändlers aus; cs giebt einen „Komischen Almanach", ein „Komisches Jahrbuch", eine „Komische Revuc" und, sollte man eS wohl glauben, sogar eine „Komische Lateinische Grammatik." Man hat auf das Gerundium ein Wort spiel gemacht und dem absoluten Ablativ eine Karnevals-Maske umgebängt. Es giebt kein deutlicheres Zeichen von dem literarischen Verfall, der auf die fruchtbare Epoche der Walter Scott's und Byron'S folgte. Swifl's Satire ist lodt; Niemand hebt das Scepter jenes mächtigen Spottes und jener kühnen und zarten Einbildungs kraft auf, welches Sterne an Charles Lamb hinterlassen hatte; mit den geistreichen Epigrammen vom Thomas Moore ist die Liste der kaustischen Beobachter geschlossen. Ein Anonymus, der sich kürzlich auf diesem Felde versuchte und ganz abscheuliche „Mond-Beobach tungen" verausgab, die höchstens für die Mondhcwohner geschrieben seyn konnten, verdient kaum angeführt zu werden. Der alte Southey, der, wie Jean Paul Richter, die Trümmer seiner Belescnhcit und die Abschnitzel seiner Gelehrsamkeit sammelte, hat fünf Bände Allerlei zusammengctragen, die für die Freunde litera rischer Merkwürdigkeiten von großem Werth sind. Hartley-Coleridge, Croker und Wilson haben nach einander die Aufmerksamkeit des Publi kums auf sich gezogen, welches gern das Gcheimniß des anonymen Werkes enthüllen möchte; allgemein schreibt man aber doch Southey diese unterhaltenden Bände zu. Robert Southey ist ein seltener Geist; von Natur fruchtbar, feurig und tief, ist cr durch eine un- ') Man siebt, daß auch in Frankreich die Meinungen über Goethe's in- nersteS Wesen eben so gelbeilt sind wie in Deutschland. Wahrend George Sand neulich gerade dies al« einen Mangel seine« Genius darsieurc, daß sein Her; nicht warm genug für die Memchheil geschlagen, findet Philaröte Cbas- lcs, daß die s»mvachetischen Gcmhle Lenrlben der Hauotvorzug des großen Dichters sc»en. "I Philarote Ebaslcs vbUoiovb,rt hier,tüchtig ins Blaue. Der Pro- testanliSmuS soll die Philosovbic und die große, ummssende Lebensanschauung vernichtet haben! Wo aber hat sich denn die Philosohvie, wo hat sich die Dicht kunst in neuerer Zeit reicher und sreier entwickelt, als in dem vrotestantischen Deutschland? Unsere größten Dichter und Philosophen waicn Protestanten, und war es in England , anders? Wenn Ler Katholizismus die Glanzcpochc seiner Kunst und Poesie in Italien und Svanien gehabt hatte, so war es dem Protestantismus »ordehalten, unter den Germanischen Nationen des Nordens neue geistige Plüthcn zu entwickeln. Seltsam ist es auch, Lag der sonst so geist reiche Vertaner des obigen Artikels in der Mannigfaltigkeit der Richtungen einen Nachwelt sür die Literatur erblicken will! Aber der Grund dieses Neich- thums an individueller Gestaltung mochte Loch wohl weniger in Len verschie- Lencn religiösen,Sekten Englands zu suchen sc»n, als in dem reichen Srga- niSmus seiner Staatsversanung, deren vielsacbe. naturwüchsige Gliederung in der Nation sich wiegelt- Abstrakte Emsörmiakeit, wie sie zuerst durch Lud wig XIV. dem Französischen Staate einqeimvst worden, ist gewiß nicht Las günstigste Terrain für die echte Poesie und Weltweisheit. Auch geht i» Las Streben Ler bedeutendsten Dichter, Künstler und Philosophen des neiieren Frankrcicbs offenbar dahin, sich von jener hohlen Allacmeinhelt z» betreten und Ler Fülle des konkreten Lebens zu bemächtigen. Wenn e« übrigens Eng land an großen vbilosoohischen Werke» fehlt, so liegt Lie Ursache wiederum schwerlich im Protestantismus oder, wie der Verfasser sagt, i,i der proiksiamt- fcben Analvse, sondern in Ler vorherrschend praktischen Tendenz des Englischen National-Charaktcrs.