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Wöchentlich erscheinen drei Nummern. Pränumeration«-Preis 22j Silbcrgr. lf Thlr.) vierteljährlich, z Thlr. für da« ganze Jahr, ohne Erhöhung, in allen Theilen der Preußischen Monarchie. Magazin für die Pränumerationen werden von jeder Buchhandlung (in Berlin bei Veit u. Comp., Jägerstraße Nr. 28), so wie von allen König!. Post-Acmtern, angenommen. Literatur des Auslandes. .4/ 43. Berlin, Dienstag den 15. April 1843. England. Das englische Theater im Jahre 1845. I. Das ernste Drama. Wir haben schon oft Gelegenheit gehabt, zu bemerken, daß in der Gegen, wart der Reichthum des englischen Theaters an Dramen nicht größer sey, als der unsrige; aber es dürfte jetzt sogar die Behauptung gewagt werden, daß bei uns, nach Verbesserung der Umstände, die sonst den Theaterdichtern zum Hindernisse waren, viel eher eine Nachblüthe zu erwarten sep, als dort. In England ist man auf denselben falschen Weg gerathen, den man eine Zeit lang auch bei uns einschlug, indem man Dramen verfaßte, die ungespielt blieben, was wider die Natur derselben ist, mag auch der englische Verfasser nachfolgender Notizen dieses Genre noch so sehr in Schutz nehmen. Diese Bemerkungen haben übrigens nur das Verdienst, daß sie uns mit den neueren englischen Dramatikern bekannt machen und ihre Hanptstücke flüchtig charak- tcrifiren, ohne auf Gelehrsamkeit und Genauigkeit Anspruch zu machen. „In einem ideellen Drama müßte sich die Mitwelt mit ihren verschiedenen Neigungen, ihren vorübergehenden Wallungen, ihrem periodischen Enthufias. MUS, ihrer Eintags-Verehrung für diesen oder jenen Mann, für diese oder jene Idee treu abspiegeln. Jeden Tag geschieht dies in einer anderen Gestalt, mit anderen Mitteln und vor einem zahlreicheren Publikum, als ein Theater nur fassen kann. Was in dem Geiste des Jahrhunderts wahrhaft dramatisch ist, kommt nicht auf die Bühne und wird als Roman verarbeitet. Dickens, Hood, MrS. Gore und MrS. Trollope studiren das Leben, wie «S ist, wäh rend unsere dramatischen Schriftsteller dem todten Buchstaben der Tradition ihre Helden, ihre Leidenschaften, ihre so zu sagen vererbte Physiognomie entlehnen. Kann man sagen, daß Sheridan Knowles der einzige Repräsentant des englischen Drama's ist? KeineSwegeS, und nöthigen Falls würde er es selbst cinräumen. Höchstens ist er der Hauptkämpe der sogenannten roman tischen Schule, wie Talfourd der klassischen, und Sir Lytton Bulwer das Muster der eklektischen Dramatiker, denen jede Richtung gleich trefflich scheint, wenn sie nur Erfolg herbeiführt. Neben ihnen, unter ihnen, über ihnen ist nach dem Urtheile mehr als eines Kritikers manche Stelle von Geistern verschiedenen Schlages und Standes besetzt. Indessen geben wir Sheridan Knowles' größere Popularität zu, die ihm eine besondere Uebereinstimmung seines Talents mit den Bestrebungen unserer Zeit verschaffen mußte. Diese Uebereinstimmung haben wir nun in seinem tiefen Gefühle für das Familienleben gefunden, das einem englischen Herzen so theuer ist. Neigung zur Bequemlichkeit, die Bande des Blutes und der Liebe zu den Verwandten fesseln den Engländer an seinen Heerd. Eine so beschaffene Gesellschaft bedarf so zu sagen einer häuslichen Poesie. Sheridan Know les' Dramen, sanfter Gefühle voll, auf natürlichen Neigungen basirt, fern den Ausschweifungen einer allzu lebhaften Phantasie, daher frei von Eraltation, sind den englischen Sitten wunderbar angemessen. Mag der Gegenstand, den er behandelt, und der Ort, den die Bühne darstellt, seyn, welcher er will, Sheridan KnowleS ist stets und vornehmlich der Dichter des Familienlebens. Manchmal scheint der Gegenstand ihn über diese bescheidene Sphäre hinaus und von ihr ab zu führen: er kehrt doch wieder zu ihr zurück. In seinem po pulärsten Stücke, Virginius, beruht das große Interesse, die Anziehung», kraft auf jenem Gefühle. Kostüme, Decorationen, Sceneric, Alles erinnert uns an die Zeiten des römischen HeldenthumS. Aber unter der Tunika schlägt ein wahrhaft englisches Herz-, der Hintergrund zeigt uns zwar ein Kapitol, aber jedes Wort erinnert uns, daß wir in London sind. Die Liebe eines Vaters für seine Tochter, der Stolz, welchen der väterliche Ruhm dem jungen Mädchen einflößt, sind hauptsächlich die Gefühle, die der Dichter enthüllt und die des Publikums Theilnahme erregen. Dasselbe sindet in dem Cajus Gracchus statt. ES werden recht lange Reden über Rom und die Freiheit gehalten: was folgt? wir sehen den Tribun auf das zärtlichste für seine Familie besorgt, und das Publikum zieht solche häusliche Scenen den historischen Details vor. Eben so im Wilhelm Teil. Obwohl die Freiheitsliebe und der Helden- muth der Schweizer vor allen anderen Elementen der Handlung hcrvorstechen müßten, konzentrirt sich die Theilnahme nicht für die Befreiung Helvetiens, die Bestrafung des Tyrannen, sondern für Tell'S Familie und das Schicksal des Helden selbst. Je populärer Sheridan Knowles geworden ist, je mehr weiß er seinen Eingebungen zu folgen, und in seinen letzten Productionen hat sich die vorherrschende Eigenschaft seines Talents bei der Schaffung einiger Fraucn- Charaktere mächtig bewiesen, welche durch ihre Aehnlichkeit mit den Erschei nungen, die uns täglich begegnen, uns anziehen. Hat Verleumdung oder Ungerechtigkeit diese Bemerkungen niederge schrieben? Nein. Unsere Absicht war, die Ursache anzugeben, die Sheridan KnowleS zu einem populären Schriftsteller gemacht hat. Wenn er unter den Dramatikern, deren Stücke über die Bühne gehen, den ersten Platz einnimmt, so stellte ihn vor seinen Mitbewerbern nicht größere Erfindungsgabe, tiefere Kenntniß der Charaktere, mehr praktische Geschicklichkeit dahin, sondern die Uebereinstimmung seines Genies mit den moralischen Neigungen und Gewohn heiten des Publikums und mehr noch sein Einfluß als Schauspieler. Er hat das menschliche Herz durchwühlt, nicht in seinen geheimsten Tiefen, sondern in seinen verborgenen Falten. Daher zeigt er seine ganze Stärke in den Scenen, wo der Dialog dazu dient, nach und nach ein Gefühl zu enthüllen, und noch mehr gefällt er sich aus diesem Grunde in der zarten Darlegung weib licher Charaktere. Sheridan KnowleS ist auf seinen Lorbeern nicht eingeschlasen. Vir ginius, Cajus Gracchus, Wilhelm Lell bezeugen mehr die Geschick lichkeit eines Schriftstellers, als das Talent eines wahrhaft dramatischen Dichters; damals mußte sich Sheridan KnowleS unter einem zwiefachen Joche beugen: dem Geschmacke deS Publikums und den Forderungen des Theater- Direktors. Seine Stücke modelten sich nach der gegebenen Vorschrift. Er faßt lebende Bilder, Gefechte, feierliche Aufzüge in einen Rahmen; er spricht in der alten Sprache; er braucht die faden und plumpen Scherze der ClanS; er reiht Scenen an einander, wie die Tradition sie lehrt, die Menge be klatscht und Theater.Unternehmer sie am liebsten sehen. Doch schon in dem Buckligen emanzipirte sich der Dichter, und in dem Charakter der Julia ergeht er sich in dem instinktmäßigen Studium der Leidenschaften. Der Plan des Stückes ist absurd, die Composition plump; das psychologische Studium zeigt sich häufig oberflächlich und dürftig, und der Styl ist nicht frei von Lächerlichkeiten. Im Ganzen jedoch fand das Stück bei dem Publikum Bei fall, denn Julia redete die Sprache, die Vom Herzen kommt und zum Herzen geht. Je mehr Sheridan KnowleS in seiner Laufbahn vorrückt, je auffallender wird seine Unerfahrenheit. Daß seine drei oder vier letzten Stücke weniger Erfolg gehabt haben, bewirkten die Mängel ihrer Composition. Doch dafür enthalten sie mehrere schöne poetische Stellen, Fragmente zum Lesen und zum Behalten, wie sie kaum in den Werken zu finden, denen der Dichter seinen Ruf verdankt. Rechnen wir Alles zusammen und stellen jede Vergleichung bei Seite — mit Shakspeare oder mit anderen großen Namen der Epoche Elisabeth'S ver glichen, wirst der seinige einen minder Hellen Glanz und überstrahlt nur die untergeordnete Pleiade der Rowe, Southern und Murphy —, so bleibt Sheridan Knowles ein wahrer Dichter und würdig der ihm erwiesenen Ehren. Auch noch in anderer Beziehung: seit 25 oder 30 Jahren ringen er und Macready gegen die Gleichgültigkeit deS Publikums und die Unfruchtbarkeit der Schrift steller mit wunderbarer Hartnäckigkeit. Sheridan Knowles war im Anfang seiner Laufbahn Schauspieler, und erst vor wenigen Jahren hat er die Bühne verlassen. Man liebt ihn wegen seines stets gleichen Temperaments, seiner Lustigkeit» seiner Laune und irländischen UnterhaltnngSgabc- Ein warmes Herz schlägt in seiner Brust, und keine Sorge, keine Unruhe stört das Gleich gewicht dieser glücklichen Constitution. Thomas Noon Talfourd, mehr bekannt unter seinem Amtstitel — Serjeant Talfourd — hat, um sich der dramatischen Poesie zu widmen, gegen Hindernisse aller Art gerungen. Seine Aeltern gehörten der strengen Sekte der Independenten an, und er selber war für eine Laufbahn be stimmt, deren ernste Forderungen unverträglich mit Melpomcnens Dienst schienen. Lord Brougham, der ihn kurz nach der Herausgabe seiner ersten Poefieen (?oem8 on varioud subject«, I8ll) kennen lernte, führte ihn auf die Betrachtung, daß sich die Literatur mit der Jurisprudenz verbinden lasse. Er schrieb für Journale, und seine loyale Kritik deutete zuerst auf das Ver dienst der Poefieen WordSworth's hin. Er war zugleich Redner, Dichter und Kriminalist. Die Tragödie Jon schrieb er, als er Serjeant at Isve (Rc- gierungS-Advokat) geworden war. Im Jahre 1834 schickte ihn Reading, seine Geburtsstadt, in das Parlament und wählte ihn 1839 aufs neue, 1841 jedoch lehnte er die Stimmen ab, die ihm zum drittcnmale das Parlament eröffnen wollten. Seine Reden über „das literarische Eigenthum" und über „die Vormundschaft der Kinder" find ausgezeichnet, und ihm