Volltext Seite (XML)
' Arbeltsloslskeit als volkspolltljche Gefahr Sr. StrgrrwM wer Wstmaßnichmm Berlin, 7. Nov. In einer Vcrtrauensmännervcrsamm- kung der Berliner ZcntriimSpartci sprach heute Reichs- arbeitsmtntster Dr. Sieger wald über die Ärbettslosen- sragc. Er führte u. a. auS: Europa ist heute weniger denn se eine wirtschaftliche Ein heit. Die europäischen Staaten, die nicht am Kriege betei ligt waren, brauchen weniger Steuern zu erheben als die anderen. Der Krieg hat Europa ein Dutzend neuer Staaten gebracht mit 11 NO» Kilometer neuer Zollgrenze. Dazu können wir beobachten, wie mit Ausnahme von England und Deutschland alle Staaten Europas, die am Kriege beteiligt waren, geringwertige Balnten aufzuwcisen haben. Das hat zür Holge, bah in d.tescn Ländern die Lebenshaltung sehr viel billiger ist als in Deutschland. I» der Weltwirtschaft spielt sich gegenwärtig eine un geheure Revolutioa ab. Rustland und grostc Teile des Fernen Ostens mit zusammen SM bis 700 Millionen Einwohnern befinden sich in ständigen politischen Gärungen. In Asien wohnt allein rund die Hälfte der Bevölkerung der Welt. Dieses gewaltige Absatzgebiet be findet sich durch die politischen Gärungen in ständiger wirt schaftlicher Stagnation. Auch auf dem industriellen Roh stofsmarkt ist in den letzten Jahren ein PretSzusammen- bruch ohnegleichen erfolgt. ' Früher war Europa wirtschaft licher Mittelpunkt, heute ist eö weithin Amerika. Krieg und Rcparationsregelung haben bewirkt, dah ein Land in Geld schwimmt und das andere mit Kapitalknappheit zu kämpfen hat. Die Arbettsloscnfrage in Verbindung mit der Repara- tionssrage hat Deutschlands Finanzen nahezu an den Ab grund gebracht. Die Eteuerquellen sind so gut wie reftldS erschöpft. Die Arb«ttSlosenfrage ist für Deutschland also nicht nur ein wkrtschaftltches und finanzielles, son dern auch ein v o l k S w t r t s ch a f t l i ch e s und seelisches Problem. Deutschland ist ein übervölkertes Land: wir best«, den uns heute wieder in derselben Lage, die Caprtvt An fang der Wer Jahre des vorigen Jahrhunderts dahin form»- liert hat, „wir mttsseu Menschen oder Waren ausstthren". Sowohl der Waren- wie -er Menschenausfuhr stehen große Hemmungen entgegen. — Die Arbcjtsloscnsrage berührt auch in einer anderen Hinsicht den Lebensnerv des deutschen Vol kes. Bisher zählt dieses noch zu den fleißigsten Völkern der Welt. Wenn dieser Fleiß durch langandanernde Massen arbeitslosigkeit von der Jugend her augcfresscn wird, dann bedeutet dies den Anfang vom Ende des deutschen Volkes in der Welt. Was kann nun Deutschland tun zur Bewältigung des Arbettslosenproblcms? Das ist eine sehr schwere Frage. Wenn sie einfach wäre, dann wäre unverständlich, warum selbst der wirtschaftliche Sieger des Weltkrieges, Amerika, feines Arbeitslosenheeres von 5 bis 6 Millionen Menschen nicht Herr wird. Dann märe cs unverständlich, warum in England die ehemalige konservative Regierung an der ArbeitSlosensrage gescheitert ist und warum jetzt auch me Labour-Party daran zu scheitern droht. Wir müssen alles aufbieten, was menschenmöglich ist, um der Arbeits losigkeit betzukommcn. Das ist Kern und Sinn des Sanie rungsprogramms der Reichsregterung. Das Entscheidende aber ist: Wer schlägt ein besseres und im Hinblick auf die Ge samtlage Deutschlands auch praktisch durchführbares Pro gramm vor? Dem, der dieses Rezept ohne abenteuerliche Pläne in der Tasche hat, macht die gegenwärtige Regierung in jeder Stunde Plast. Man sagt, bas NegicrungSprogramm sei unsozial. Bren tano hat mehrfach ausgesprochen, was heute Luxus ist, ist Morgen Volksbedürsnis. Was heute unsozial erscheint, kann morgen die größte soziale Tat sein. Wenn die Gesamt sanierung von Staat und Wirtschaft in Deutschland gelingt, wenn in absehbarer Zeit wieder eine Million Arbeitslose mehr in den Produktionsprozeß eingegltedert werden können, dann ist das die größte soziale Tat, die gegenwärtig bi« Regierung zu vollbringen in der Lage ist. Im ganzen ist die Generalaufgabe, vor der mir stehen, die Wiederherstellung des Vertrauens zu Staat und Wirtschaft und in Staat und Wirtschaft in Deutschland und in der Welt. Diese General- aufgabc zerfällt u. a. in folgende Einzelausgaben: Jnord- nungbriutzung der Finanzen der öffentlichen Hand in Reich, Ländern und Gemeinden, vernünftige wirt schaftliche Regelung der Reparativ nssrage, Rentabel gestaltung der Landwirtschaft, Senkung der Ge st e h u ü g s ko st e n in der deutschen Wirtschaft, Arbeits beschaffung, eventuell vorübergehende ArbeitSstrcckung und Fürsorge für die Menschen, die arbeiten wollen und nicht arbeiten können. Deutschland hat in den letzten Jahrzehnten schon Schwe rere- durchgemacht als gegenwärtig. Die KriegSjahke 1817/18 und die Jnflattonsjahre 1822/28 haben dem deutschen Volke Opfer auserlegt, die nur wenige andere Völker der Welt zu übcrstehcn vermocht hätten. Auch über die jetzige Situation kommen wir hinweg, wenn wir wolle», und ich bin der festen Uebcrzcugung, daß bas bas deutsche Volk in seiner Mehrheit will. Arbeitszeittürzuny Berliner Brauereien Berlin. 7. Rov. Innerhalb der führenden Berliner Brauereien sind Bestrebungen im Gange, die Arbeitszeit an' s ü n s T a ge in der Woche z» verkürzen. Die Verhandlungen mit den Gewerkschaften werden voraussichtlich am kommende« Montag ausgenommen werden. Diese Bestrebungen ver folgen de« Zweck, durch Arbeitszeitftreckung einen Teil der Arbeitslosen wieder in den Produktionsprozeß übcrzuführcn. VorauSsestung für eine erseUgrcichc Durchführung dieser Maßnahme wird allerdings sein, daß die Gewerkschaften au einen Lohnausgleich verzichte«. Die Stellungnahme der Ge werkschaften in dieser Frage ist noch nicht bekannt. Seien tibtkMlt AmdtWilmita Die Preissenkung für Lebensmittel Berlin» 7. Nov. Neichsernährunasmtntster Dr. h. c. Schiele empfing am Freitag den Präsidenten des Deutschen Städtctages. Mulert, sowie die Oberbürgermeister Adenauer- Köln. Blüher - Dresden, Brauer- Altona, L o h m e n e r - Königsberg, Luppe-Nürnberg und Schar- n a g e l-München. um mit ihnen die geplanten Maßnahmen auf dem Gebiete der Preissenkung für Lebensmittel zu be sprechen. Der Minister berichtete über den Stand der Ver handlungen und legte die Gründe und Ziele der PretS- senknngSaktion im einzelnen klar. Unter Hinweis auf die all gemeine Wirtschaftslage und die zur Zeit bestehenden zum Teil noch überhöhten Spannen zwischen Erzeuger« «nd Ver braucherpreisen richtete der Minister an die Vertreter des Städtetages die Bitte, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln die Bestrebungen der Reichsregterung aus Preissenkung zu unter stützen. Nur durch ein gemeinsames und planmäßiges Vor gehen im ganzen Reich könne das angestrebte Ziel erreicht werden. Die Vertreter des StädtetageS betonten» daß auch sie eine teilweise erhebliche Senkung der Handelsspannen bei Lebensmitteln, insbesondere bei Brot» Fleisch «nd Kartosseln für möglich hielte«. Eine derartige Preissenkung sei überdies unbedingt not wendig, nicht nur mit Rücksicht auf die bereit- durchgeführten und noch bevorstehenden Lohn- und Gehaltskürzungen, son dern auch im Interesse der großen Anzahl von Erwerbslosen, die auf eine Unterstützung durch die Wohlfahrtsämter an- gewiesen seien. Sie begrüßten da» Vorgehen der Neichöregte- rung auf dem Gebiete der Preissenkung und versprachen, die von ihr geplanten Maßnahmen aus der ganzen Linie mit Nach- druck zu unterstützen. Im Zuge der Preissenkungsaktton der Reichsregterung fanden ferner am Freitag im RctchSrrnährungSmtnisterinm Verhandlungen mit den Vertretern der Berliner Milch- Versorgung statt. Unter Hinweis auf den Ernst der Lage fordert« da» Ministerium «ine Herabsetz« »g der Handelsspanne sttr Milch. Die Verhandlungen werben in den nächsten Tagen fortgesetzt. Das ErnährungSmini- sterium wird sich mit allem Nachdruck dafür ctnsehen, daß den Bestrebungen der Reichsregterung auf eine Ermäßigung der Lebensmtttelpretse auf diesem Gebiete Rechnung getragen wird. Rückgang -er Großhan-elsrichlzahl Berlin, 7. Nov. Im Monatsdurchschnitt Oktober stellte sich die Großhandelsrichtzahl des Statistischen Neichsamtes mit 120,2 um 2,1 v. H. niedriger als im Vormonat <122,8). Ginsparunsen im Reichshaushatt Berlin, 7. Nov. sEigene Drahtmeldung.) Nach lang wiertgen Verhandlungen des Retchssinanzministers mit den NetchSressortS ist eS nunmehr gelungen, eine Einigung über diejenigen Einsparungen im ReichShauShalt durchzuführen, die noch in diesem EtatSjahr zur Durchführung gelangen, l handelt sich dabei um insgesamt 134 Millionen Mark. Aus der setzt vorliegenden Zusammenstellung geht hervor, daß der größte Teil der Summe beim R e t ch S a r b e i t s m i ni ste r t u m eingcspart worden ist, und zwar 84,7 Millionen Mark. Es folgen die allgemeine FtNanzverwaltung mit 10 Millionen, das Reichswehr Ministerium mit 15 Millionen, der Haushalt für Versorgungs- und Ruhegehälter mit 14 Millionen, der Kriegslasten- hauShalt mit 12,7 Millionen und bas ReichSftnanz- Ministerium mit 12,2 Millionen Mark. Vctm Reichs- tnnenmtntsterium werbe« rund 0 Millionen, beim Reichs verkehrSmini st ertum 5 Millionen und beim AüSwärttgen Amt 1.8 Million Mark eingcspart. Deutsch» Schuldscheine an Amerika N-uvork, 8. Nov. Die deutsche Botschaft in Washington )at am Freitag dem amerikanischen Schgtzamt Reichsschuld cheine in der Höhe von 8 108 -00 000 Mark auögehänbigt. Davon entfallen 2 121 000 000 Mark aus verschiedene amerika nische Forderungen auf Grund von Schiedssprüchen und der Rest aus BesatzungSkoste». Brüning aus neuen Wegen Seit dem 14. September, der für die Regierungsparteien eine vernichtende Niederlage brachte, herrschte Im deutschen Blätterwald ein emsiges Rätselraten darüber, wie der große Schweiger Brüning sich nun eigentlich ein ferneres er sprießliches Arbeiten seines Kabinetts dächte, sofern er nicht von vornherein die Ausschaltung des Parlaments, das heißt die diktatorische Negierung mit Hilfe des Artikels 48, beab sichtigte. Die Geheimnisse der Rcgierungssphinx beginnen sich nun aufzuklären. Es zeigte sich, daß Brüning die Weimarer Verfassung nicht nur außerordentlich gut kennt, sondern daß er es versteht, mit dieser Verfassung so geschickt zu seinen Gunsten zu operieren, wie es noch keiner seiner Vorgänger im entferntesten verstanden hat. Der Reichskanzler hat die Tatsache weitgehendst ausgenuht, baß der Reichstag, der zehn Jahre hindurch der ausschließliche Träger der Macht im Staat war, in dieser Zeit den parlamentarischen Gedanken nach Kräften in Mißkredit gebracht hatte. Er weiß, wie gering schätzig man im deutschen Volke vom parlamentarischen System hat denken lernen, und er hat diese Gelegenheit benützt, die BolkSboten nach einer kurzen und unrühmlichen Sitzung unter Ausnützung der sozialdemokratischen Besorg nisseumihreMacht st ellungtn Preußen nach Hause zu schicken. Nachdem er aus diese Weise die Schwäche des Reichstags vor aller Welt bloßgestcllt hatte, ging er einen Schritt weiter, der unter Umständen den A n - fang zu einer grundsätzlichen Wandlung unseres ganzen parlamentarischen Systems bilden kann. Mit offensichtlicher Betonung wurde der Neichsrat, die Vertretung der Länder bet der Reichsregie rung, der bisher eine durchaus untergeordnete Rolle gespielt hatte, in bas volle Rampenlicht der Oeffentlichkeit gestellt. Was bisher nur dem Reichstag widerfuhr, nämlich der Ort zu sein, an dem Regierungsprogramme in großer Auf machung verkündet, beraten und schließlich entschieden wur den, diese Ehre wurde nun ostentativ dem Reichsrat zuteil, während umgekehrt der Reichstag ein bescheidenes, halb unfreiwilliges Feriendascin fristete. Kein Zweifel, Brü ning will alle verfassungsmäßigen Möglichkeiten ausnützen, um den Reichsrat aus seiner bis herigen mehr formalen Bedeutung zu dem Rang einer „ersten Kammer" zu erheben und da durch zugleich den Reichstag, der nach Ansicht des Kabinetts in seiner Arbeitsfähigkeit stark behindert ist, in den Hinter grund drängen. Die Ansicht vieler Anhänger des par lamentarischen Systems, man müsse das Parlament um der Rettung der Demokratie willen nach Möglichkeit ausschalten, soll hier auf verfassungsmäßigem Wege versucht werden. Man weiß, daß zahlreiche Demokratien, wie England, vor allem aber Frankreich und Amerika, das Zweikammersystem kennen, das sich in der Praxis auch als eine gewisse wechselseitige Korrektur gegen die Auswüchse des parlamentarischen Systems durchaus bewährt hatte. Nun besitzt Deutschland in der Vertretung der Länder, dem Neichsrat, der gegenüber dem unttarischen Gedanken» wie er sich im Reichstag verkörpert, das föderalistische Moment vertreten soll, durchaus bas Instrument, eine erste Kammer heranzubildcn, die, ähnlich wie Ser französische oder der amerikanische Senat, ein maß gebliches Mttbestimmungsrecht auf die Gesetzgebung ansübcn kann. Der Reichsrat hat nämlich nicht unbedeutende Möglich keiten der Einflußnahme auf die Gesetzgebung. So bedarf nach Artike' 08 der Verfassung die Regierung zur Einbringung einer Gesetzesvorlage der Zustimmung des Rcichsrates. Kommt diese Uebereinstimmung nicht zustande, so kann die Regierung zwar ihre Gesctzesvorlage trotzdem vor den Reichstag bringen, muß aber die abweichende Auf fassung des Rcichsrates vorlegen. Umgekehrt kann der Rcichs- rat eine Gesctzesvorlage verlangen, auch wenn die Reichs- rcgierung nicht damit einverstanden ist. Ja, der Neichsrat ist sogar in der Lage, nach Artikel 74 der Rcichsversassung mit einfacher Mehrheit Einspruch gegen ein vom Reichs tag beschlossenes Gesetz zu erheben, »nd dann kann — was sehr bedeutungsvoll tst — dieses Gesetz vom Reichstag nur mit Zweidrittelmehrheit znm Beschluß er hoben werden. Diese nicht unbeträchtlichen Rechte des Rctchs- rates hatten bisher nur formalen Charakter getragen. Im Halbdunkel fertigte der Neichsrat die Gesetze aus, die vorher im wechselseitigen Verhältnis von Parlament und Regierung beschlossen wurden. Der RetchSrat wurde so lange zu dieser Aschenbrödelrolle verdammt, solange sich die Rctchs- rcgterungen ausschließlich aus die Mehrheit des Reichstags stützten. Erst der Regierung Brüning blieb eS. aus der Not eine Tugend machend, Vorbehalten, die Möglichkeiten, die dem Neichsrat durch die Verfassung gegeben werden, unter klüg- Itchcr Ausnützung der augenblicklichen Schwäche des Par lamentes. betont in den Vordergrund zu rücken. Deshalb >>at -er Kanzler auch der RcichsratSsitzung nach außen ein besonderes Gepräge dadurch verliehen, daß außer ihm, im Beisein fast des ganzen ReichSkabincttS, der Vizekanzler und Ftnanzmtntster Dietrich sowie der Arbeitsminister Steger- wald programmatische Ausführungen machten. Ein Bild. wis e» sonst der Reichstag nur an ganz großen Tagen sah. Für