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Rabemuer Anzeiger Erscheint Dienstag, Donnerstag u. Sonnabend. Abonnementspreis einschließlich der illustrirten Beilagen „Gute Geister" u. „Zeitbilder" sowie des illustr. Witzblattes „Seisenblasen" 1,50 Mk. Zeitung fie Wrand) Seiseesdnef. Inserate kosten die Spaltenzeile oder deren Raum 10 Pf., für auSwiirtige Inserenten 15 Pf. Tabellarische Inserate werden doppelt berechnet. Annahme von Anzeigen sür alle Zeitungen. 13. Jahrgang. Nummer 94. Sonnabend, den 11. August 1900. Aus Nah und Fern. — So viel Blumen und Früchte der Sommer er zeugt, so viel leider auch des lästigen Ungeziefers. Welchen Schaden die Millionen Raupen anrichten, kann man sich ungefähr vorstellen, wenn man überlegt, daß eine in einem Tage ungefähr 24 Mal soviel frißt, als sie wiegt. Fressen und Zerstören ist ihre einzige Thätigkeit. Man trete sie todt, wo man nur eine erblickt. Man hat dadurch nicht bloß diese getödtet, sondern auch die große Zahl ihrer Nach kommenschaft, die in ihrer weiteren Vermehrung beträcht lichen Schaden verursachen kann. Besonders nachtheilig sind sie den Obstbäumen. Darum zerstöre man vorzüglich die Nester- — Auf Kosten des V e rs ch ö n e r un gs v e r e ins sind an der Kaiser-Wilhelm-Linde und an der Luther-Eiche auf dem Markte Täfelchen, auf denen Name und Tag der Pflanzung des Baumes verzeichnet sind, angebracht worden, da man befürchtet, es möchte im Laufe der Zeit die Be deutung dieser beiden Bäume, die schon jetzt vielen Ein wohnern unbekannt ist, ganz in Vergessenheit gerathen. Aus dem gleichen Grunde ist auch die Luther-Linde auf dem alten Friedhöfe mit einem Täfelchen versehen worden. — Dem bei unserer Geschäftswelt sich schon seit langer Zeit fühlbar machenden Mißstand, betr. der unzu reichenden Briefkasten im hiesigen Orte, wird nunmehr in den nächsten Tagen abgeholfen werden. Wie wir hören,werden zwei große Briefkasten an den Grundstücken der Herren Aarlh und Palitzsch angebracht. Der kleine Briefkasten an letzterem Grundstücke wird bei Herrn Otto, Bismarckstr., Verwendung finden, desgleichen wird ein weiterer an der „Großen Mühle" aufgestellt — In Weißenfels sind die beiden letztverflossenen Wochen je 11 Kinder, im ersten Lebensjahre stehend, an Brechdurchfall gestorben. Es mahnt diese Thatsache zur größten Vorsicht. — Von der Gesellschaft, welche das elektrische Werk in Seifersdorf gebaut hat, ist dieser Tage die sogenannte Oelmühle angekauft worden, weil man die Kraft auch nach den Gemeinden Groß- und Klein- Oe l s a hinüberführen will. Die nöthigen Masten sind bereits aufgestellt. Nunmehr dürften die letztgenannten Orte in nicht zu ferner Zeit ebenfalls mit elektrischer Kraft und Licht versehen sein. — Dem Eisenbahn-Baubureau Dresden-Neust. III, welches den Bau der elektrischen Straßenbahnlinie Dresden— Radebeul—Kötzscheubroda zu leiten hatte, ist auch wieder der Bau der neuen elektrischen Straßenbahn linien Dresden (Cotta)—Niederwartha—Kötzschenbroda und Dresden(Plauen)—H ainsberg übertragen worden. — Ein bedauerlicher Unglücksfall, welcher durch das unsinnig schnelle Fahren eines Radfahrers entstanden ist, ereignete sich inDeube». Als die Tochter eines dortigen Einwohners Keller in der Nähe der Carolastraße über die Dresdner Straße ging, kam ihr Plötzlich ein im schärfsten Tempo fahrender Radfahrer entgegen. Das Mädchen konnte nicht schnell genug ausweichen und wurde umgerissen, wobei ihr das Rad über das Gesicht ging und schwere Wunden beibrachte. — Die Fürstin Pauline zu Hohenlohe-Oehringen ist infolge eines Schlaganfalles am Donnerstag gestorben. In Tüschnitz bei Koburg erschlug mit einem Ham mer der Korbmacher Ad. Heinrich Weißmann aus Con- currenzneid seinen Bruder Heinrich auf offener Straße. — Im Eisenbahnzuge verstorben ist auf der Strecke zwischen Ellrich und Niedersachswerfen bei Nord hausen ein igjähriges Mädchen aus Naumburg ü. S„ das nach einer durchgemachten Cur in die Heimath zurück wollte. — Aus Possenhain bei Weißenfels ist ein Liebes paar verschwunden, da die Eltern der jungen Braut (15 Jahre alt) das Liebesverhältniß nicht dulden wollten. — Das Schiff „Bessie Whinerah" ist auf der' Fahrt Veckton-Hartlepool in der Nordsee gesunken. Kapitän und vier Mann ertrunken. Die übrige Mannschaft, darunter der Sohn des Kapitän-, durch einen Dampfer gerettet. — Der Onkel Bischof. Von dem Bischof von Münster, der als ein freundlicher Herr bekannt, wird eine allerliebste Geschichte erzählt. Als er zu seinem gewohnten Spaziergange eines Tages aus dem Palais kommt, sieht er an einem Nachbarhause einen kleinen Knirps, der ver geblich sich bemühte, den Klingelzug zu erfassen. In seiner bekannten Liebe zu den Kindern tritt der Bischof hinzu und fragt den Kleinen, ob er mal die Klingel ziehen solle. Freudig sagt der Kleine: „Ja bitte, Onkel Bischof." Der hohe Herr zieht kräftig an dem Klingelzug und wartet einen Augenblick, ob Jemand zum Oeffnen erscheint. Als aber der Kleine im Flur Schritte hört, zieht er den Bischof am Rock und sagt: „Onkel Bischof, nu müssen wir aber laufen, sonst kriegen sie uns", reißt aus und läßt den verblüfften Bischof stehen, der von dem die Thür öffnenden Hausherrn freundlich nach seinem Begehr gefragt wird. — Die Gesammtzahl der Besucher der Pariser Weltausstellung betrug für die Zeit vom 15. April bis 30. Juni 12 483 517. — Das Barczaer Komitat (Ungarn) wurde von fürchterlichen, mit Orkan verbundenen Wolkenbrüchen heim gesucht. Sämmtliche Flüsse sind aus den Ufern getreten und haben großen Schaden angerichtet. Eine größere An zahl Personen ist verunglückt. I - Demüthige Liebe. Novelletle von Franz Jourdain. Deutsch von Wilhelm Thal. —— tNnchdruct verbot«».) I. Der Eintritt des Meisters machte der leisen Unterhaltung e>n Ende und erstickte das lustige Lachen der beiden Lehr- wädchen, die, ohne sich auzusehen, beim Nähen plauderten. „Da, Leokadia," rief Herr Pröbois schon von der Thür her, einen Offiziersdoiman in der Hand haltend, „hier ist uüge Arbeit. Nehmen Sie die Treffen ab und ersetzen Sie sie durch zwei Oberstleutuautsgalous, drei goldene und zwei silberne; irren Sie sich aber nicht." Das angeredete Mädchen erhob sich und nahm das Kleidungsstück entgegen. „Nehmen Sie extrafeine Schnur; vor allem aber be- ulen Sie sich, es ist für Herrn von Martillac, der morgen nach Tonkin abreist. Es liegt mir daran, ihn zufriedeu- znstkllen; Sie wissen, er bezahlt baar." Die Arbeiterin stand unbeweglich und erwiderte nichts. „Na, hören Sie mal, sind Sie etwa taub? Ist das eme Gans! Was stehen Sie denn da und starren mich an? Muß man Ihnen denn ein und dasselbe sechsund- bieißig Mal wiederholen?" „Nein, Herr, ich habe verstanden, aber —" „Was, aber?" „Ich wundere mich, daß Herr von Martillac Oberst leutnant ist." „Sie w undern sich vielleicht, daß der Minister Sie nicht nm Ihre Ansicht gefragt hat, bevor er ihn ernannt hat." Die Werkstatt brach über diesen Witz des Meisters in lautes Lachen aus. „Beunruhigen Sie sich nicht," fuhr Herr Pröbois, aus leinen Erfolg stolz, fort, „sobald ich ihn treffe, werde lviir; Namen wegen seiner Nachlässigkeit Vor- Aeußerst stolz auf das von dieser geistreichen Bemerkung hervorgerufene Gelächter, kehrte Herr Pröbois in den Laden Mück, während Leokadia sich mit blutrothem Gesicht ihrem Platze zuwandte. Sie begann die verblaßten Galous abzutrenneu, die auf den Aermelu des Dolmans glänzten; doch die Scheere blieb unbeweglich in ihrer Hand. Wie hypnotisirt betrachtete sie die auf dem Tische liegeude» Streife», die das scharfe Gaslicht zurückstrahlten. Lange Zeit blieb sie w m unbewußtem Stumpfsinn sitzen, tief erschüttert von kmgeichlununerten Ecinneruugeu, die ein Wort, ein zufällig hmgeworfener Name, in ihr wieder erweckt hatte, und die chr zuriefe»: „Du siehst,wir sind nicht todt, wir kehren wieder." Fast fröhlich — wie der Hund, der stets bereit ist, die Haud zu lecken, die ihn geschlagen hat — beschwor sie die Warzen oder grauen Stunden ihres Lebens herauf, die eme nach der andern vor ihr erschienen. ii. Eine erste Kindheit ohne Traurigkeit und ohne Freuden. Lange, sehr tiefe, kalte und nackte Zimmer, in die die Sonne, von weißen Vorhängen aufgehalten, niemals dringt. Feuchte Höfe, hohe Mauern und verkrüppelte Bäume. In ihrer Umgebung gütige, aber gleichgiltige Wesen ohne Zärt- ; lichkeit. In ihr selbst das Gefühl der Leere und die furcht- - sam5Schüchternheit des Blickes, der irgend ein unerklärliches . Etwas sucht, das man erwartet und das doch nie kommt. Dann erblickt sie den blauen Himmel, die wärmende : und lachende Sonne und den Wind, der den Staub auf« wirbelt. Sie hat das Waisenhaus verlassen, um aufs Land . zu gehen. Warum und wie, das weiß sie nicht. Sie er innert sich nur ganz unklar des ersten Eindrucks, den die > frische Luft auf sie gemacht hat. Noch nie hatte sie etwas so Hübsches gesehen, und sie fing au zu lachen, zu springen und in die Hände zu klatschen. Abends befindet sie sich allein mit einem Mann und einer Fran, die sie nicht kennt, und während sie einschläft, denkt sie an die weiße Haube der Schwester Luise, die sie nicht mehr Wiedersehen wird. Es beginnt für sie ein neues Leben. Bei Tagesanbruch geht sie auf das Feld, beim Regen, der ihr bis auf die Knochen dringt, und bei der glühenden Sonne, die ihr das Fleisch dörrt. Zu Anfang verursachen ihr ihre nackten, von den Dornen und Kieselsteinen zer rissenen Füße furchtbare Schmerzen. Sie beginnt zu weinen, doch der Mann schlägt sie so stark, daß sie sich nie wieder beklagt, selbst wenn man ihr noch so viel Holz auspackt. Nein, nie ist seitdem ein Schluchzen aus ihrer Kehle ge kommen, doch man schlägt sie trotzdem, ohne Vorwand, aus Gewohnheit. Die Frau that ihr nicht sehr weh, höchstens hier und da gab es eine Ohrfeige; dagegen verhinderte sie manchmal ihren Gatten, allzu stark zu schlagen, doch er wurde nicht müde. Noch jetzt erinnert sie sich mit Entsetzen an die Jahrmarktstage, wenn der Mann mit aufgedunsenem Gesicht, blutunterlaufenen Augen und lallender Stimme nach Hause kam, sie mit einem Fußtritt weckte und „Nichtsthuerin" schalt. Mit zurückgezogenem Kopfe, die Arme zusammen drückend, wartete sie den Sturm ab, der sich auf ihre mageren Kindesschultern ergoß, und preßte die Zähne zu sammen, um nicht zu schreien, denn — sie wußte es Mh! — die geringsten Thräneu reizten die Wuth des Trunkenboldes. Eines Abends jedoch empörte sich ihr gemarterter Körper; ein Schmerzensschrei entschlüpfte unwillkürlich ihrem ge schloffenen Munde und unterbrach das Schweigen der Nacht. Wuthentbrannt lief ihr Verfolger nach dem Herde, er griff eine Kohlenschaufel und zerschlug ihr so heftig das Gesicht, daß sie bewußtlos niedersank. Hier verdüstern sich ihre Erinnerungen. Es bleibt ihr eine schon fernliegende Erinnerung von bohrendem Schmerz im Auge, von Hämmern im Schädel, schrecklichem Alpdrücken, ängstlichem Fieberwahn und schlum ¬ merlosen Nächten. Dann empfindet sie nach und nach keinen Schmerz mehr, nichts, als einen leichten Drua unter dem Augenlid, und in ihrem Hospitalbett überkommt sie rill unendliches Wohlbehagen. Erst als man ihr den Apparat wegnimmt, bemerkt sie, daß ihr ein Auge ausgeschlagen ist. Noch zweifelte sie, denn sie hatte niemand gefragt. Bei ihrem ersten Ausgang wird sie in ein hohes, imposantes Gemach geführt, in welchem sie zwischen zwei Gendarmen Jean-Louis erblickte, den Bauern, der sie gemartert hatte. Ein alter Herr in rother Robe fragt sie gütig aus, während ein anderer schwarzgekleideter eine lange Rede hält. Sie begreift kaum, was hier gesprochen wird, doch sie hört das Wort „einäugig", das oft wiederkehrt und ihr das Herz zuschnürt. Von ihr spricht man, sie ist einäugig. Als sie den großen Saal verläßt, umarmt sie eine alte, elegant gekleidete Dame und nennt sie „mein armes Kind." Sie ergreift sie bei der Hand und nimmt sie mit sich nach Hause. Ja, diese Frau, Madame Mangibert, die Wittwe eines Admirals, ist die einzige Person, die sie je geliebt hat. Die ausgezeichnete Frau, die mit der Waise Mitleid gehabt, behält sie bei sich, lehrt sie schreiben und lesen und bringt sie in die Lehre zu dem alten Lieferanten ihres Gatten, zu Herrn Pröbois, dem großen Militäreffekten lieferanten, dessen Namen in goldenen Buchstaben über einem der prächtigsten Läden des Boulevard Haußmann prangt. Welch' schöne Zeit! Man schilt sie wohl ein wenig in den ersten Monaten, weil sie einen harten Kopf hat und nicht geschickt ist. Doch im Grunde genommen ist der Prinzipal nicht böse, er thäte keiner Fliege etwas zu leide. Die Arbeiterinnen haben sich zuerst über sie lustig gemacht; sie haben über die Einäugige, wie man sie nennt, gelacht, haben über ihre rothen Haare, ihre Sommersprossen, ihren zu großen Mund, ihre Stumpfnase und über ihre knochigen Hände gespöttelt; schließlich jedoch haben sie sie in Ruhe ge lassen,und einige behandeln sie aufrichtig als wahreKameradin. Einmal monatlich besucht sie ihre liebe Madame Man gibert, und ein wohlwollender Blick, ein freundliches Wort machten sie auf Tage hinaus glücklich. Wie schade, daß sie todt war, die ausgezeichnete Frau! Welchen Schlag hatte ihr dieser unersetzliche Verlust ver setzt, denn sie war noch nicht siebzehn Jahre alt, als ihre Wohlthäterin für immer von der Erde schied. Ueber ein Jahr hat sie sie aufrichtig beweint, sie war überzeugt, sie würde sich nie trösten, und wollte ewig die Trauer für die Frau beibehalten, die sie geliebt hatte, ohne daß sie wußte, warum. Dennoch hatte die Zeit ihren Schmerz gemildert. Die Zeit? Hatte wirklich nur die Zeit die Wunde ver narbt, oder hatte noch ein anderes Gefühl dabei mitgeholfen ? — Schluß folgt. — — Humoristisches. Fritzchen (nach dem Abendessen zum Vater, der gern ins Wirthshaus gehen möchte): „Du, Papa, bitte löse mir die Rechenaufgabe; ich sag' Dir dann auch, wohin Mama Deine Stiesel versteckt hat!"