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Wöchentlich »schein«! drei Nummern. Drünnmeraiion«. Prei« 22j Silbergr. (j Tdlr.) nieneltährlich, Z Thlr. für das a.,n;e Iadr, ohne Erhöhung, aücn Theilen dec Preußische» Monorchie. Magazin für die Pränumerationen werden von leder Buchhandlung (ln Berlin bei Bei« u. Comp., Jägerstraße Nr. 25), s° wie oon allen König!. Poll Aemtern. angenommen. Eitcrntur des Auslandes. . l/ 131 Berlin, Sonnabend den 1. November 184S. England. Lady Esther Stanhope.") An einem Sommertage des Jahres 1788 stand an der Küste von Hastings vor einem angebundenen Kahne ein achtjähriges Mädchen mit blondem Haar, grauen, lebhaften Augen und einer so zarten Haut, daß das bläuliche Ge- zweige der Adern leise hindurchschimmerte. Das Kind sah sich nach allen Seiten um, ob cs nicht bemerkt würde, dann, wie eS sich unbeobachtet glaubte, sprang es in den Kahn, band ihn los, ergriff das Ruder mit ihren Händchen, stieß sich vom User ab und befand sich auf dem Meere. Dieses Kind, das bei seinem Vater den Grafen Adhemar und deffen reichbetreßte Lakaien gesehen hatte und nun geradezu nach Frankreich fahren wollte, um mit eigenen Augen zu beobachten, was dort geschähe, war — Lady Esther Stanhope. Sie war die Enkelin des großen Chatham und eine Tochter von der Schwester William Pitt's und dem Republikaner Lord Stanhope. Ihr Groß vater, Lord Chatham, dem sie in vielen Punkten glich, that nichts so, wie andere Leute. Er war, wie sic, gehcimnißvoll, hcrrschsüchtig, thätig und verführerisch. „Ich habe — sagt sie irgendwo — die grauen Augen und den Ortssinn meines Großvaters. Wenn er einen Stein am Wege liegen sah, so erinnerte er sich dessen wieder, und ich eben so. Sein Auge, das in ruhigen Augenblicken matt und glanzlos war, begann, wie das meinige, zu leuchten, wenn ihn eine Leidenschaft aufregte." Sie erbte noch viele andere Sonderbar- keiten von ihm: von früher Jugcnd an war cS ihr Hauptvcrgnügen, auf sich warten zu lassen, Jeden in Furcht und Ungewißheit zu erhalten und sich in Geheimnisse zu hüllen. Diese Leidenschaft, die wir später im Leben der Lady Esther wiederfinden werden, hätte den Lord Chatham einmal beinahe um eine reiche Erbschaft gebracht. „Er war leidend — erzählt sie selbst — als ein Mann zu Pferde an das Thor des Hotels pocht und den Herrn zu sprechen verlangt. Man verweigert ihm den Eintritt: er läßt sich aber nicht abweiftn und klopft so lange, bis man ihn einläßt. Der Minister lag, den Augen Aller entzogen, in einer dunklen Stube hinter einer spanischen Wand. „Was wollt Ihr?" fragt er. — „Ich will Euch sehen", war die Antwort. Neue Unterhandlungen waren nöthig, ehe dies bewilligt wurde. Als endlich der Mann dem Lord von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, zog er eine Schachtel aus der Tasche, nahm ein Pergament heraus und übergab cs ibm. Es enthielt den Besitztitel auf zwei Güter, die an 14,000 Pfund werth waren und von Sir Edward Poynsenet dem Minister als Zeichen seiner Be wunderung vermacht wurden." Esther hatte die zitternde Stimme Chatham'S, seine Gewalt, die Einbildungskraft Anderer zu fesseln und ihren Willen zu leiten, und trug eben so wenig, als er, Bedenken in der Wahl der Mittel, die sie zu ihrem Ziele führten. Ihr Unglück war, eine Frau zu seyn und bei ihrer Thatkraft, bei ihrer Sehnsucht nach einem bewegten Leben die Ohnmachr ihres Geschlechtes fühlen zu müssen. Ihr Vater, Lord Stanhope, ihr Vetter, Lord Eamelford, und Pitt, ihr Oheim, der Größte von diesen Dreien, waren nicht weniger eigenthümliche Menschen. Lord Stanhope, der sich nicht im mindesten um seine Kinder küm merte, war eine zweite Ehe mit einer Grenville eingegangen, einer Mode dame, die ihr Leben in der Oper und auf Bällcn hinbrachte. Esther wuchs also wie eine Wilde auf und bildete sich ihre Lebensansichten allein. Len philosophischen Träumereien des 18. Jahrhunderts nachhängend, schlief Lord Stanhope bei offenem Fenster, aber unter einem Dutzend Decken und in schwarzseidenen Beinkleidern, und frühstückte Schwarzbrot, in einem leichten Morgenrock von indischem Zitz. Als die französische Revolution ausbrach, ging seine Begeisterung für Rousseau s und Mably'S Lehren noch weiter. Denn er vernichtete sein Wappen und verkaufte, weil es ihm zu aristokratisch dünkte, sein silbernes Tischgeschirr und die Tapeten, die der König von Spanien seinem Großvater geschenkt hatte. Ein großer Kummer aber war cS für seine Frau und Familie, daß er, um seinen Uebertritt zur Demokratie vollständig zu machen, seine Equipagen bei Seite schaffte. „Alles machte lange und betrübte Gesichter — erzählt Lady Stanhope — aber ich ließ mich nicht irre machen. Ich kaufte mir ein Paar Stelzen und lief auf ihnen durch den Koth einer Gasse, auf welche daS Fenster meines VaterS hinaus führte. Er bemerkte mich, da er zu gewissen Zeiten mit der Lorgnette an jenem Fenster zu stehen pflegte, und als ich wicderkam, sagte er zu mir: „He, mein ') Nach: tUemoir» ok tlis 8t»»liope, ae relsteü »v llerselt in «ooversatiou» «itt, llar I>!>7«!oia» etc. l-olllla», 1845. Unter Benützung eines Artikels in der Ner <1. ü. 41onSa«. Kind, was soll das heißen; worauf, zum Teufel, bist du so eben gelaufen?" — „O, Papa", crwiederte ich, „da Sie keine Pferde mehr haben, so wollte ich wenigstens auf die bequemste Weise durch den Koth kommen. Mir ist das gleich, aber die arme Lady Stanhope wird sich schwer auf diese Manier ein üben können. Sie ist an ihren Wagen gewöhnt, und Sie wissen, daß sie keine besonders feste Gesundheit hat." — „Ei, was du sagst!" antwortete der Philosoph: „und wenn ich nun für Lady Stanhope einen neuen Wagen kaufte, he?" — „DaS wäre sehr schön und liebenswürdig von Ihnen, lieber Vater." — „Wir wollen sehen, was sich thun läßt; aber das sage ich dir, in keinem Fall mit einem Wappen!" — So kam durch die List ihrer Tochter Lady Stanhope wieder zu einer Equipage. Sie lernte von ihrcn Governesses, die sie übrigens bis zur Wuth ärgerte, viel Französisch und Jtaliänisch, war aber sonst ganz ihrem Willen überlassen und übte auf ihre Umgebung jene unwiderstehliche Gewalt aus, die energischen Gemüthern eigen ist. Am besten von allen, die sie kannte, gefielen ihr Camel, ford, ihr Vetter, und ihr Oheim Pitt. Die Bewunderung, die sie für den Ersteren hegte, scheint der einzige Schimmer von Liebe gewesen zu seyn, der sich in dem Leben dieser Frau zeigte. „Wer es wagt, mich anzurühren", sagte sie, „soll in mir die Muhme Lord Camelford'S finden. Er war ein wahrer Pitt, der Mann!" — Esther denkt mit Stolz an den Eindruck, den sic hervorbrachten, wenn sie Beide mit ihren riesigen Figuren in einen Gesell- schaftSsaal traten. „Die Frauen hatten nicht genug Augen für ihn, die Männer bekamen Furcht und retteten sich. Er war groß, muskulös, hatte ein blasses und strenges Gesicht und neigte den Kopf etwas auf die Schulter. Er kommandirte einmal ein Schiff. Ein verdächtiges Heimlichthun und Murren unter der Mannschaft ließ ibn abnen, daß sic sich empören würde — und ohnc sich zu besinnen, sprengte er mit einem Pistolenschuß den Schädel seines Lieutenants. Man tadelte anfangs sein Betragen sehr, bis ein Auf stand der Matrosen auf den anderen Schiffen zeigte, daß cr allein die Stim mung seiner Leute und die Gefahr der Umständc eingeschen hatte. Sein Hauptvcrgnügen war, in Matrosenkleidern die Kneipen der City zu besuchen. Bemerkte cr dann einen armen Menschen, der ihm anständig schien, so knüpfte er ein Gespräch mit ihm an und forderte ihn auf, ihm seine Geschichte zu er zählen. Er hatte zu viel Takt, sich täuschen zu lassen, und wenn ihm der Mensch gefiel, so steckte cr ihm fünfzig oder hundert Guineen in die Hand und sagte mit strengem Tone: „Nun sprecht nicht davon, oder wenn ich euch wieder begegne, müßt ihr es mir auf eine Weise bezahlen, die euch nicht lieb seyn wird." UcbrigenS machte cr sich durch seine Sonderbarkeiten viele Feinde und zog sich durch seine Tollkühnheit so viel böse Händel zu, daß mein Onkel, obgleich cr ihn lieb hatte, ihn von sich entfernt hielt und nie etwas für ihn gcthan hat." Lady Esther hatte Lust, ibn zu hcirathen, aber die Chatham'S widersetzten sich dem aus einem altcn Groll gegen die Camelford'S. Sie setzte indeß ihrcn Krieg gegen die GoverncffeS fort und mochte noch immer weder von KorsctS noch von cugen Schuhen hören. Zu zwanzig Jahren war sic fast sechs Fuß hoch, und da ihr Gesicht und der übrige Körper dieser Größe entsprachen, so war sie weder nett noch schön. „Trotz ihres männlichen Aeußeren", sagt ein Zeitgenosse von ihr, „mag Keiner je ihre Erscheinung getadelt haben, denn wer sie crblicktc, den schien sie zu beleuchten mit ihrer Stirn und ihren Augen." Die ersten äußeren Eindrücke, die ihr Geist empfing, kamen ihr von dem alt-aristokratischen Leben ihres VaterS, als derselbe noch an Esther Pitt vcr- heiratet war und seine späteren Muster, Raynal und Payne, nicht schon kennen gelernt hatte. Damals übte cr auf seinem Schlosse Chevcning die hohe und niedere Gerichtsbarkeit aus, hatte zweihundert Bediente um sich und verthcilte Gnadengeschenke und Straft«, Kleider, Landgüter und Stellen an die ganzc Grafschaft, während die erste Lady Stanhope ihrerseits den Kranken Arznei, den Armen Almosen brachte, verliebten Burschen lange Reden hielt, jeder Braut eine Mitgift schenkte und für ihrcn Tisch wöchentlich cincn Ochsen und täglich einen Hammel schlachten ließ. Die Erinnerungen an dieses patriarcha- liiche Leben schwebte dem stolzen Geiste der Lady Stanhope immer wie ein lieber Traum vor, und gewiß war cs mit die Sehnsucht, so herrschen und so wohlthun zu können, die sic später nach der Wüste trieb. Währcnddeß ward Pitt Herr des StaatcS und hielt, trotz ftiner Jugend, die Zügel mit sicherer Hand. Als cr die französische Revolution drohen sah, machte cr eS, daß Thron und Adel sich enger an einander schmiegten, und daß Alle der Meinung wurden, auf dem Adel beruhc daS Heil Englands, und wo sich revolutionaire Ideen zeigten, würden sie gefaßt im Interesse Frankreichs. Dadurch machte cr die Aristokratie populär, und dies Manöver war daS ge-