Volltext Seite (XML)
Beilage zu Nr. 120. Donnerstag, den 11. Oktober 1900. Die Sohne des Eostfen. Eine wahre Geschichte von E. Heinrichs (Fortsetzung.) <Nachdmck verboten.) „Mutter, liebste Mutter, was peinigt Euch so schreck lich ?" fragte Marie, sie angstvoll umschlingend. Sie hatte die starke Frau niemals weinen sehen. „Komm Kind, setz Dich hier neben mich", sprach Mutter Jansen resolut, „ich sehe wohl dumme Gespenster, wo keine sind. Weiß nicht, es kam auf einmal so wunder lich über nach, als sehe ich meinen lieben Jungen nicht wieder." „SollteLorenz es ertragen können, wenn Hans Lootse würde?" fragte Marie leise. „Das ists, was mich auf einmal so unglücklich macht, und auch noch etwas", erwiderte die Mutter, sie traurig aublickend, „ich muß Dir nämlich ein Geheimniß entdecken, mein Kind; höre zu und erschreck nicht darüber." Mit halblauter Stimme erzählte sie nun der ängstlich Horchenden die Geschichte jenes stürmischen Morgens, wo Peter Jansen hinausgesteuert war, um eiu Schiff zu retten, und nur zwei Kinder lebend ans Land gebracht hatte, die sie in ihr Haus ausgenommen und mit gleicher Eltern liebe wie den eigenen Sohn grobgezogen hatten. „Das eine Kind ist Hans", flüsterte Marie mit stocken dem Athcm, „und das andere —" „Bist Du, meine Herzens-Tochter!" sprach Mickler Jansen mit fester Stimme. Da glitt Marie auf die Kniee nieder, küßte die harten Hände der braven Frau und benetzte dieselben mit ihren Thränen. „O, meine Mutter, meine Mutter, Gott segne Euch!" schluchzte das junge Mädchen, welches nach damaliger Sitte die Eltern nicht mit „du" anreden durfte, „haben meine Brüder es gewußt?" „Ja, sie wußten es, auch der Herr Pfarrer und die älteren Gemeiudeglieder, aber wir kamen überein, es Dir erst in Deinem achtzehnten Lebensjahre zu sagen. Wer Deine Eltern waren, kann ich Dir nicht sagen. Hans sagte uns damals, daß sein Vater, der Kapitän des Schiffes, ihm selber erzählt habe, der Herr und die Dame mit dem kleinen Kinde seien aus Frankreich, wo man just alle vor nehmen Leute umbriuge. Deine arme Mutter liegt auf unserem Kirchhof. Du kennst ihr Grab, mein Kind, und hast selber Rosen darauf gepflanzt, auch stets ein Vater unser dort gebetet. Sie ruht schon lang nn Frieden. Marie erhob sich, um die alte Frau mit beiden Armen zu umschlingen. . . „Meine Mutter t>n Himmel wird das Lootsenhaus aus der Birk segnen", sprach sie leise, „wo das arme sranzösische Waisenkind so treue Eltern gesunden Hal." „Ich denke, wir haben Dich immer lieb gehabt, mein Töchterchen", sagte Matter Jansen, ihre Wangen streichelnd. „Deine Mutter im Himmel kann uns beim Herrgott nicht verklagen. Nun weisst Lu auch, daß mein Lorenz nicht Dein Bruder ist. Sag mir also, wer Dir von den beiden als der Beste erscheint, aber sage die Wahrheit, darum bitte ich Dich von ganzem Herzen." „O, das ist und bleibt doch unser Lorenz," erwiderte Marie ohne Zögern, „er war mir auch immer der Liebste, Hans hat mir auch öfters Angst gemacht und war mir widerwärtig." lieber das sorgenvolle Gesicht der Mutter flog es jetzt wie ein Sounenstrahl. , „Golt segne Dich iur dieses Wort, mein liebes Kind", sprach sie aufathmend, „nun kann doch vielleicht noch Alles gut werden, doch wollen wir die Rückkehr unseres guten Lorenz zuerst erwarten." , . Mit etwas leichterem Herzen kehrte Mutter ^ansen mit Marie aus die Birk zurück. Zwei Möven gleich schossen die beiden Kähne über die weite Spielfläche der blauen See. Wie die nervigen Arme mit kräftigen Nnderschlägen die Fahrzeuge regierten und der geübte Blick den richtigen Kurs innchielt, wie die gebräunten Gesichter glühten und die Augen funkelnden in dem Weitkampf körperlicher Kraft. — Dann gönnten sich die jungen Männer eine kurze Rast, um das von der lürsorglichen Mutter eingepackte Frühstück zu verzehren, Md weiter ging daun die Fahrt nach der freundlichen ^'cidt Sonderburg, die, beschützt von den Düppelcr Höhen, Hx 36 Jahren so blutig gekämpft wurde, jetzt eine «?.. Stadt geworden ist. , mors m Meh das Ziel ihrer Wettfahrt, denn eine solche dni Beziehung, erreichend, zogen sie ihre Kahne l und begaben fick nach einer Wirllffchaft, wo HON der Baler als junger Diann verkehrt hatte. «'m, Hl sie sich aufs Nene mit Speise und Trank, machte" nw „fchmuck« und dann auf den schweren Weg znr LovtstwSehordc, Zukunft entschieden werden sollte. Sw ze glen Bangen, weil sie sich gegenseitig zu fürchten hallen, hing doch wirklich zuviel von der nächsten Stunde av. Beide standen die Prüfung m glänzendster Weise, doch zog Hans oa^ Glucksloos uud wurde sofort in Eid und Pflicht genommen. Der arme Lorenz war sehr bleich geworden, faßte i sich aber und drückte ihm mit kurzem Glückwunsch die ! Hand. Der alte Gastwirth aber erklärte die Sache kurzweg als eiu^schmählichcs Unrecht der Eltern gegen ihren leib lichen Sohu. Die Sache war nun einmal so, das Findelkind hatte den Sieg davongetragen und durfte ernten, was sein Lebensretter im Grunde für den einzigen Sohn doch ge- säet hatte. Lorenz drängte zum Aufbruch, doch Hans wollte sein Glück noch feiern und meinte, daß die Fahrt bei Voll mond erst recht schön wäre. „Die Engländer kreuzen aber wieder herum", meinte ein anwesender Schiffer, „sie würden Euch ohne Gnade mitnehmen." „Ra, die sollten uns nicht fassen, wie, Bruder Loreuz?" lachte Hans spöttisch. „Oder fürchtest Du Dich auch?" „Nein," erwiderte Lorenz kurz, „ich mag nur nicht den Wagehals spielen. Was sollten wir Beide wohl gegen einen solchen Kutter anfangen? Er bohrt uns in den Grnnd." „Unsinn, je kleiner man ist, desto schneller reißt man aus; willst Du aber ohne mich wegfahren —" „Sprich nicht weiter davon", unterbrach ihn Lorenz, „ich werde doch nicht ohne Dich heimkehren, — aber zu- viel trinken dürfen wir nicht, die Fahrt ist lang, wir haben einen scharfen Ausguck zu halten." Der Abend brach an: der Tag war schwül gewesen, dock am Himmel kein Wölkchen zu erblicken. Leuchtend zog der Vollmond seine Bahn und streute seine blinkenden Streifen auf die sich leise kräuselnde See, fröhlich schnellten die Fische aus der Tiefe empor auf die Ober fläche, doch kühlte kein Lufthauch die drückende Schwüle, welche selbst die Nackt zu bannen vermochte. (Fortsetzung folgt.) Der Akuttersohn. Roman aus der Gegenwart von Arthur Zapp. jNachdmck verboten.) (Fortsetzung.) Otto saß regungslos, wie zerschmettert, aus seinem Stuhl, jedes Wort des Bruders traf ihn wie eiu Dolch stoß; der liefe, fassungslose Schmerz des Schwergeprüften wälzte von Neuem einen schweren, dumpfen Druck auf seine Brust: eine siedende Hitze flackerte in ihm auf. „Karl," sagte er und sprang auf seine Füße und eilte zu ihm, „beruhige Dich Karl! Ich will hin, wie heißt der Mann, wo wohnt er? Ich will mit ihm sprechen, ich will ihm sagen —." Karl erfaßte die Hand des Bruders, die auf seiner Schulter ruhte und drückte sie herzlich. „Ick danke Dir, Otto," sagte er, und erhob die in feuchtem Glanz schwim menden Augen zu ihm, „ich danke Dir von Herzen. Ader laß nur! Es würde doch nichts nützen. Die Üeberzeugung, daß ich unschuldig bin, kannst Du ihm ja doch nicht bei bringen, wenn's die Gerichtsverhandlung nicht gethan hat, Dein und der Eltern Zeugnis; vor Gericht. Ja, wenn man den Schurken fassen könnte, — den Dieb, — der's gethan hat, — sür dessen feige, gemeine That ich soviel leiden muß, — wenn man den fassen und überführen könnte! Ja, dann! — Du Otto, Du hast schon soviel für mich gethan — damals auf dem Gericht — Du weißt ja nicht, wie mir zumuthe war! Auf den Knieen hält' ich Dir für Deine Worte danken mögen — das vergeh' ich Dir nie, Otto — nie in meinem ganzen Leben!" Er schlang, überwältigt von seinem Gefühl, den Arm um seines Bruders Hals und zog seinen Kopf zu sich herab. Dock Otto riß sich heftig los, gerade, als Karls Lippen seine Wangen streiften. Der kalte Schweiß, den ihm die Seelenfolter erpreßte, stand ihm auf der Stirn; wie ein Schandmal, das ihm mit glühenden Eisen auf gedruckt worden, brannte ihn des. Arglosen Kuß. „Nein, nein," schrie er auf, unfähig, länger noch Stand zu halten, er riß hastig seinen Hut an sich und stürmte davon. 14. Kapitel. Der Assessor Otto Köster hatte bei einem größeren Bankinstitut eine für seine Verhältnisse glänzend bezahlte Stellung als juristischer Berather und Vertreter erhalten. Das erste war, daß er seinen Eltern fortan einen monat lichen Betrag bezahlte, der den Werth der von ihnen em pfangenen Verpflegung weit überstieg; dann ging er mit sich zurathe, wie er an Karl einen Theil der schweren Schuld, die er ihm gegenüber auf dem Herzen hatte, ab- lragen könnte. Die Frage war nicht fo leicht zu lösen, denn der früher so muntere, offenherzige, lebensfrohe Manu hatte sich in einen verschlossenen, mißtrauischen und unzugäng lichen Grillenfänger verwandelt. Die Schatten des Ver brechens, unter dessen Verdacht er in der Untersuchungs haft gesessen hatte, verdüsterten sein Leben. Die trübe Erfahrung von der er seinen Bruder iu so verzweifelter Stimmung berichtet, hatte einen so verbitterten und arg wöhnischen Seelenzustand in ihm erzeugt, daß er sich überall, auch da, wo es gar nicht der Fall war, von Vor eingenommenheit, Mißtrauen und Gehässigkeit umgeben sah. ' Die Folge davon war, daß Karl sich scheu vou jedem gesellschaftlichen Verkehr zurückzog; er mied den Umgang seiner Verwandten und Freunde, in deren Mienen er Ge ringschätzung oder mindestens einen beleidigenden Zweifel zu lesen glaubte; sah er auf der Straße in seiner Nach barschaft zwei Leute nebeneinander stehen uud sprechen, so huschte er mit scheuem Blick vorüber, denn seine krank hafte Einbildung spiegelte ihm vor, daß von ihm und dem auf ihm lastenden Verdacht die Rede war. Folgte einer seiner Gehilfen in der Werkstatt nicht blindlings seinen Anweisungen, so legte er das, was oft nur Unachtsamkeit oder nur Saumseligkeit war, für mangeln den Respekt vor seiner Person ans. Auch seine geschäftlichen Beziehungen wurden durch die traurige Geschichte unleidlich gemacht. Die Reisenden der Konkurrenz entblödeten sich nicht, den Fall Köster zum Schaden des Unglücklichen auszubeuten; sie erzählten bei allen ihren Kunden, bei denen sie vorsprachen, achselzuckend die Geschichte von der Freisprechung Karl Kösters. Er sei ja aus der Haft entlassen, freilich, aber so ganz rein und zweifelsohne sei die Geschichte doch nicht; ein Frei spruch wegen mangelnder Beweise, das sei eigentlich gar kein Freispruch. Jedenfalls thäte mau gut, sich von jeder gesckäftlichen Verbindung mit einem Manne fern zu halten, der eigentlich noch immer unter einem entehrenden Ver dacht stände. Wenn dann Karl bei den Kunden vorsprach, um nach Bestellungen zu fragen, so sah er scheele, unfreund liche Mienen uud hörte mehr als einmal anzügliche Reden. In solchen Fällen pflegte er zornig zu werden und grob aufzufahren. Zu einem Geschäftsabschluß kam es unter diesen Umständen natürlich nur selten. Ueberhaupt ge wöhnte sich der sonst gutmüthige Mann jetzt ein eigen- thümlich kurzangebundenes, barsches Wesen an, hinter dem sich die Scham und der Schmerz seiner reinen, empfindenden Seele barg. Die Wirkung all dieser Verdrießlichkeiten und nieder drückenden Erfahrungen war, daß Karl feinen ganzen Waarenvorrath zum Herstellungspreise losschlug, Wohnung und Werkstatt kündigte und an das entgegengesetzte Ende Berlins, in die Bergmannstraße, unweit des Halleschen Thores, übersiedelte. Hier durfte er hoffen, freier auf- athmen zu können, denn wenn man auch von dem Prozeß wegen des ihm zur Last gelegten Diebstahls aus den Zeitungen wußte, so war doch kaum anzunehmen, daß man sich hier, wo man ihu nicht persönlich kannte, seines Namens erinnern würde. Zugleich warf er sich auf eine neue Fabrikationsbranche. Den Meteorbrcnner legte er vor läufig bei Seite. Er wollte vor der Haud seufzend mit seiner Vergangenheit brechen und sich einen neuen Kunden kreis, der ihn noch nicht kannte, erwerben. Freilich, mit dem schönen Traum von schnellem Emporkommen, von Wohlhabenheit und Erreichung hoher, ehrgeiziger Ziele war es vorläufig vorbei. Nun hieß es noch einmal von vorn anfangen. Im Hintergrund aller Wünsche uud Zukunftshoff nungen stand bei Karl immer das Eine: den Thäter, den wirklichen Dieb einst entdeckt zu sehen; erst dann durfte er hoffen, wieder völlig rehabilitirt zu werden, gesellschaft lich und geschäftlich; erst dann würde der furchtbare Alp, der ihm jedes freiere Aufathmcu uud Regen wehrte, der ihm jede Lebensfreude verkümmerte, von ihm weichen; er durfte wieder zu Jedermann die Augen aufscklagen und unter ehrlichen Menschen sich frei bewegen als ehrlicher Mann. Leider konnte er nichts, gar nichts thun, um diese Hoffnung zu verwirklichen, um dieses Glück, nach dem er sich mit allen Fibern seiner Seele sehnte, herbeizurufen; ganz geduldig mußte er abwarten, bis Zeit und Zufall es ihm bescheeren würden. Nicht am wenigsten verdroß es ihn, daß Otto seit ihrem letzten Zusammensein sich wochenlang nicht mehr sehen ließ. Wie eilig war Otto damals davongestürmt, wie heftig hatte er sich von ihm losgemacht! Wünschte er keine allzu freundlichen Beziehungen mehr zu ihm? War der Funke des Mißtrauens nun auch schon in des Bruders Seele gefallen, war es nur ein allgemein menschliches Mitleid und Erbarmen gewesen, daß man auch dem Elendesten nicht versagt, das Otto damals zu ihm ge führt, vielleicht nur die Rücksicht auf Helene, auf den kleinen Fritz? So quälte und marterte Karl sich selbst, ohne eine Ahnung davon zu haben, daß es das böse Gewißen war, das den Bruder so lange von ihm fern hielt. Endlich, eines Tages erschien Otto wieder einmal bei dem Bruder. Aber es war eine für beide Theile gleich peinliche und beklemmende Situation. Während auf der einen Seite die Furcht, eine Erneuerung jener aufregungsvollen Scene heraufzube- schwöreu, jeden herzlichen Gefühlsausbruch hemmte, nährte in dem anderen Bruder der stillnagende Argwohn, daß Otto an ihm zweifle, eine geheime, verschüchternde, verstockende Erbitterung. Mühsam nur quälte sich die Unterhaltung hin, die sich mit den gleichgiltigsten Gegenständen beschäftigte und ängstlich gerade das Nächstliegende vermied- Erst ganz zum Schluß, während er Miene machte, aufzubrechen, warf Otto scheinbar gleichgültig die Be merkung hin: „Eh' ich's aber vergesse, wir haben noch miteinander abzurechnen, Karl," „Abzurechnen?" „Na ja. Es ist doch endlich einmal Zeit, daß ich meine Schulden bezahle."