Volltext Seite (XML)
chM MckE Freitag, den 8. Drzrmbcr 1889. 2. Beilage zu No. 97. Tagergeschichte. Den bekannten Erlaß der Königlichen Amtshauptmannschaft zu Chemn itz, welcher die „öffentliche Verrufserklärung" eines Geschäftes unter Umständen unter Strafen stellt, wollen die sozialdemokratischen Abgeord neten zum Gegenstände einer Interpellation in der sächsischen zweiten Kammer machen. Wir zweifeln nicht, daß sic dort die rechte Antwort seitens der Königlichen Regierung schon erhalten werden und daß dies eine ihren Wünschen entsprechende nicht sein wird. Der Boykott, die Berrufserklärung eines geschäftlichen Unternehmens, ist schon an sich einer der häßlichsten Auswüchse am Baume unseres modernen sozialen Lebens, doppelt bedenklich und doppelt verwerflich dann, wenn Parteifanatismus und politische Gehässigkeit die Triebfedern sind. Es tritt dann mit Noth wendigkeit eine vollständige Vergiftung des sozialen Lebens ein, die gegen seitige Erbitterung steigt und es würde endlich ein Kampf Aller gegen Alle heraufbeschworen, der an das „Faustrecht" des Mittelalters erinnert und in seinen Folgen kaum minder bedenklich ist. Zunächst ist es klar, daß Jeder, der durch eine öffentliche Verrufserklärung ohne berechtigten Grund, das heißt, ohne daß er durch seine Geschäftsgebahrung, betrügerische Manipulationen u. s. w. dazu Veranlassung gegeben, betroffen und dadurch in seinen Erwerb geschädigt wird, berechtigt ist, gegen Diejenigen, welche ihn auf diese Weise in Schaden gebracht haben, klagbar zu werden und auf Schadenersatz zu dringen. Ja, nicht bloß berechtigt ist er dazu, son dern in einem gewissen Sinne verpflichtet. Er ist es sich selbst und seiner Ehre und nicht minder seinen Mitbürgern schuldig, insofern zu befürchten steht, daß, wenn wiederholt solcher Unfug ungeahndet bleibt, allmählich eine Störung aller geschäftlichen Interessen stattfindet und durch den Uebermuth und das willkürliche Vorgehen Einzelner die Gesammtheit ge schädigt wird, freilich wird es in den meisten Fällen dieser Art schwer sein, den eigentlichen Schuldigen zu ermitteln und noch schwerer, ihn zur Verantwortung zu ziehen, oft auch dürfte sich herausstellen, daß derselbe Schadenersatz zu leisten außer Stande ist. So mag auch die civilrechtlich Verfolgung des Boykotts in den meisten Fällen unterbleiben. Die Be troffenen fürchten, daß sie vergebens Mühe und Kosten aufwenden und wachsendem Terrorismus der Massen wohl auch dies, daß sie von einer Klage nur noch mehr Unanehmlichkeiten und weitere geschäftliche Nachtheile haben werden. Um so mehr muß es mit Dank begrüßt werden, daß neuerdings die Polizeibehörden cs versucht haben, durch eine entsprechende Verordnung ihrerseits dem wachsenden Uebel entgegenzutreten. In diesem Sinne ist der Erlaß der KöniglichenjAmtshauptmannschaft zu Chemnitz und ein neuerlicher ähnlicher der Königlichen Polizcidirektion zu Dresden auf- zufaffen. Es ist gar keinem Zweifel unterworfen, das die Polzeibehörde, also auch die Amtshauptmannschaft, der die polizeilichen Befugnisse auf dem Lande zustehen, zu solchem Vorgehen dann berechtigt ist, wenn sie die mit einer öffentlichen Verrufserklärung fast nothwendige Störung der öffentlichen Ordnung nicht anders oder nicht besser verhüten zu können glaubt. Daß dann auf eine Uebertrctung ihres Ge- bezw. Verbotes Po- lizristrafen gesetzt werden und daß diese im Uebertretungsfalle unweigerlich zu entrichten sind, ist eben so selbstverständlich. Wir nehmen also an, daß der Landtag und die Königliche Regierung gegen die getroffenen Ver fügungen etwas wesentliches nicht einzuwenden haben. Der Boykott, wenn er unter Umständen erklärt wird, welche eine Störung der öffentlichen Ordnung entweder besorgen lassen oder nachweislich zur Folge haben, kann eben polizeilich nicht geduldet werden. Dagegen ist es Jedem un benommen, für sich allein zu verkehren oder nicht zu verkehren, zu kaufen oder nicht zu kaufen, wo es ihm beliebt. Er kann dabei ganz seinen Neigungen folgen, auch seinen politischen Anschauungen Rechnung tragen, wie es ihm beliebt. Meidet er im letzteren Falle auch ein Geschäft, wo er besser bedient wird oder vortheilhafter einkaust und wendet er sich dafür einem schlechteren zu, so ist das sein Schade. Niemand darf ihn darum schelten. Was aber nicht geduldet werden kann, das ist, daß durch öffent liche Verrufserklärung eine Art Schreckensherrschaft ausgcübt und der Kamps Aller gegen Alle organisirt werde. Berlin. Der Kaiser hat gestern Vormittag eine Reise nach Dessau angetrcten. Die Kaiserin begleitete ihren Gemahl nicht, da sie sich un päßlich fühlte. Zur Angelegenheit des Sozialistengesetzes findet sich in der „Post" eine anscheinend offiziöse Mittheilung, aus welcher zwischen den Zeilen herausgelesen werden kann, daß der Reichskanzler noch nicht zu Zuge ständnissen bezüglich des Sozialistengesetzes geneigt ist, so daß der schließ liche Ausgang dieser Frage noch immer abzuwartcn bleibt. Die erneut sich geltend machende Bewegung unter den Bergarbei tern in Westfalen und im Saargebiete zieht immer weitere Kreise und es ist nicht unwahrscheinlich, daß sie zu Anfang des nächsten Jahres einen abermaligen Ausstand der Bergleute hervorruft. Die Bergleute des Saar-Reviers wollen dieser Tage eine Deputation nach Berlin senden, welche daselst an allerhöchster Stelle die Beschwerden der Bergarbeiter vor ragen soll; der Kaiser hat sich bereit erklärt, die Deputation zu empfangen. Der Feiertag, welcher als Demonstration für die Erkämpfung der achtstündigen Arbeitszeit am 1. Mai nächsten Jahres ins Werk gesetzt werden soll, hat, nach der „C. C.", wie in einer sozialdemokratischen Ver sammlung kürzlich ausgeplaudert worden ist, noch den Zweck für die Führer, eine Heerschau über die zur unbedingten Folgcleistung bereiten „Arbeiter- bataillone" abzuhalten. In einer Resolution, welche in der gedachten Versammlung gefaßt wurde, heißt es nämlich: „Die Versammlung be schließt ferner am 1. Mai n. I. die Arbeit ruhen zu lassen, um zu sehen, wie viele von den Kollegen gewillt sind, für die Besserstellung unserer gedrückten Lage einzutreten." Man wird in der That auf die bevorstehende Demonstration gespannt sein dürfen. Daß die Arbeitgeber, wie nian auf einzelnm Seiten vermuthet uud wohl auch wünscht, diesem „Feier tage" mit Erfolg entgegentreten könnten, ist unter den gegenwärtigen Verhältnissen kaum anzunehmen; sie würden, in sich gespalten wie sie einmal sind, gegenüber der wohlorganisirten kompakten Arbeitermasse den kürzeren ziehen. Es ist aber zu hoffen, daß auch die Arbeitgeber sich endlich klar werden, daß e- hohe Zeit ist, auch ihrerseits sich eine Orga nisation zu geben, um der drohenden Unterjochung durch die Sozialdemo kratie einen Damm entgegenzusetzen. In Petersburg scheint jetzt die halbe Stadt krank zu sein. Dort leiden 150 000 Personen aus allen Schickten der Bevölkerung vom Kaiser bi« zu den Arbeitern an einer, wenn auch nicht gehrlichen, so doch pei nigenden und lähmenden Grippe. Nicht das raube Klima oder ein besonders strenger Winter, im Gegentbeil eine für diese Zeit des Jahres besonders milde Witterung soll die Ursache der Massen-Erkältungen sein. ES handelt sich um heftiges Schnupfenfieber. New-Jork. Das Redaktionsgebäude in Minnicapolis (Minnesota) sowie die Druckereigebäude geriethen in Brand. 20 Personen sind umge kommen, darnnter Prof. Olsen, der Präsident der Universität von Süd-Dacota. Vaterländischer. Wilsdruff. Wir unterlassen nicht, auch an dieser Stelle darauf aufmerksam zu machen, daß der kiesige Gewerbeverein nächsten Mon tag, den 9. Dezember, im Löwensaale zum Besten der Casse des Fraucnvereins das beliebte Lustspiel „Der Vetter" zur Aufführung bringen wird. Im Interesse des guten Zweckes ist ein recht allgemeiner Besuch dieser Vorstellung zu wünschen. — Meißen. Auf Anordnung des König!. Ministeriums des Jnnem und des Landwirthsckaftlicken Kreisvereins Dresden werden auch während der diesjährigen Weihnachtsfcrien an der hiesigen Landwirtbsckaftlichen Schul« je nach der Stärcke der Anmeldungen ein oder zwei Reblauskurse, und zwar am 27. und 28. Dezember, bezw. 3. und 4. Januar k. I. von dem Direktor derselben abgehalten werden. Der Unterrickt, Welcker für die Theilnehmer an den Kursen dank der Fürsorge des König!. Ministerium« des Innern mit keinerlei Unkosten verknüpft ist, erstreckt sich auf die Lebens weise der Reblaus, ihre Erkennung und auf die Maßregeln zu ibrer Ver tilgung. Hand in Hand mit ihm "gehen praktische Uebungen im Auffindcn der Rebläuse an befallenem Wurzelmaterial und die Herstellung mikrosko pischer Präparate. Da das weitere Umsichgreifen der ReblauSkrankbeit und die Versckleppung der Läuse nur durck rechtzeitige Aufdeckung der Reblaus- herde verhindert werden kann, ferner die VernicktungSarbeiten durck mög lichst frühzeitiges Auffinden der Läuse wesentlich erleicktert und verbilligt werden, das Erkennen des Vorhandenseins dieses gefährlichsten Rebenseinde« aber eine genaue Kenntniß seiner Lebensweise zur Voraussetzung hat, so ist in erster Linie im eigenen Interesse der Weinbauer und des Weiteren in dem unseres heimischen Weinbaues dringend zu wünscken, daßsick reckt viele Weinbergsbesitzer an den benannten Kursen nickt nur selbst betheiligen, sondern auch ihre Winzer zum Besuche derselben auffordern und anbaltcn. Der Unterrickt beginnt an beiden Tagen früh 9 Uhr und dauert bis 12 Uhr. An ihn schließen sich an, von Nachmittags 1 Uhr an die mikroskopischen Uekungen und praktischen Demonstrationen. Anmeldungen für den einen oder anderen Kursus sind bei dem Direktor der Landwirthschaftlicken Schule, A. Endler, zu bewirken und bittet derselbe, dies mögl'ckst bald zu tbun, damit von ihm die nöthigen Vorkehrungen rechtzeitig getroffen werden können. Nach der Anmeldung wird noch eine nähere auf die Kurse bezügliche Bi- kanntgebung an die Theilnehmer' erfolgen. — Dresden, 2. Dezember. Gestern Abmd brach in einer Wohnung der 4. Etage auf der Dippoldiswalder Gasse Feuer aus. Unter Andere« wurde das Bett eines 9jährigen Knaben, der arglos in demselben schlief, jedoch gerettet wurde, vollständig vernichtet. Vor dem Schlafengehen hatte des Kind unter das Bett 'geleuchtet^ und" war7jedenfalls hierbei der Brand verursacht worden. — Mit dem Preisaufschlag auf Dreierbrötchen und andere Bäcker - Weißwaare wird die Bäckerinnung in Dresden allem Anschein nach schliffbacken. Die Hausfrauen und namentlch auch dir Dienstmädchen empfinden cs schr unangenehm, daß sie künftig nicht mehr, wie es seit Jahren geschehen, zwei Dreierbrötchen oder zwei Dreiersemmeln für 5 Pfg. bekommen, sondern 6 zahlen sollen und daß die sog. Zugabe ganz wegfällt. Wie zu erwarten, haben sich in allen Theilen der Stadt einzelne Bäcker gefunden, die sich an den Beschluß der Innung nicht kehren und nachwievor sich mit einem Fünfpfennigcr für zwei Dreierbrötchen begnügen. Sie haben natür lich sehr viel mehr Zulauf als die anderen Bäcker. Aber auch von diesen, die in der Innung sind und den betr. Beschluß mit gefaßt haben, sind nicht elwa alle so eifrig gewesen, die 30 Mk. Conventionalstrafe, die auf Nicht-Innehaltung des Beschlusses gesetzt ist, zu zahlen. Sie warten es rnhig ab. In der Oppelvorstadt soll es gar nicht zu dem Versuch gekommen sein, den Preisanfschlag einzuführen. Es erwies sich dies als unmöglich. Dem Anscheine nach wird sich der Preisaufschlag auch in anderen Stadt- theilen nickt halten. — Die Diphtheritis hat von ihrer schrecklichen Gewalt immer noch nichts verloren. So hat sie binnen wenigen Wochen aus der Familie des Herrn Kunstgärtners Sckäme in Striesen nicht weniger als vier Kinder hinweggerafft. An einem Nachmittage wurden zwei Geschwister, Opfer dieser schrecklichen Krankheit, begraben. — Der König!. Musikdirektor a. D. Herr A. Trenkler wurde von den städtischen Kollegien in Meerane einstimmig zum dortigen Stadtmusik direktor gewählt. Wie verlautet, tritt Musikdirektor Trenkler diese Stellung bereits am 1. Januar 1890 an. — In Wurzen versuchte am Dienstag Nachmittag der von seiner Frau getrennt lebende Arbeiter Fickert sich zu erschießen. Er war vor der Wohnung der Frau erschienen und hatte Einlaß begehrt. Da ihm dieser verweigert wurde, schoß er drei Schüsse auf sich ab, von denen ihm aber keiner schwere Verletzungen beigebracht haben konnte, denn er entfloh. Abends ist er zurückgekehrt und hat Aufnahme im Stadtkrankenhause gefunden. — In Kamenz haben die Stadtverordneten mit großer Mojoritit beschlossen, das Wohnungsgeld der verheiratheten Lehrer vom 1. Januar ab von 150 auf 200 Mk. zu erhöhen. Ueber dieses Weihnachtsgeschenk herrscht natürlich unter den Lehren sehr dankbar-freudige Stimmung. — Vorgestern früh nack 8 Uhr ereignete sich zwischen Bautzen und Kubschütz auf der sächsich-schlesischen Bahnlinie eine aufregende Scene. Beim Herannahen des um 6 Uhr von Dresden abgegangenen Personen-