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WM MRW Beilage zu No. 76. Freitag, den 21. September 1888. Auf sicherer Fährte. Criminal-Roman von Emilie Heinrichs. (Nachdruck verboten.) (Fortsetzung.) Er war verschwunden und der Pfarrer wandte sich zu der Gesell schaft. Stevenson, welcher ihn forschend anblickte, bemerkte sogleich, daß sein Antlitz ungewöhnlich blaß war und eine tiefe Erregung in seinen Zügen arbeitete. „Hier ist also die Unglücksstelle?" fragte der Commerzienrath, schau dernd in die Tiefe hinabblickend, „arme Frau, weshalb begab sie sich in eine solche Gefahr?" „Darin muß ich Ihnen beistimmen, mein Herr!" sprach der Pfarrer, „jede Unnatur im Leben bestraft sich — und jede Tollkühnheit, besonders abseiten einer Frau, ist unnatürlich und frevelhaft." „Freilich, freilich, ihre ganze Ehe war eine Unnatur," seufzte Hilberg. „Ich hörte davon," fuhr der Pfarrer fort, „das Paar befand sich auf der Hochzeitsreise?" „Lieber Himmel ja, ich sah niemals ein glücklicheres Paar, Herr Pfarrer!" „Trotz der Unnatur ihrer Ehe?" fragte dieser kopfschüttelnd. „Trotz derselben, Hochwürden; ich weiß, daß der junge Ehemann seine alternde Gattin leidenschaftlich liebte." „Desto besser, desto besser", sprach der Pfarrer mit einem so tiefen Athemzuge, als löse sich ein Alp von seiner Brust, „ich bin aufrichtig er freut über Ihre Versicherung." „Welche Sie als einen Zeugeneid annehmen dürfen, Herr Pfarrer!" sprach Hilberg feierlich, indem er seinen Blick mit einer Art Herausforder ung auf den Amerikaner richtete, der denselben mit ruhigem Lächeln er widerte. „Wie geht's dem armen Knaben?" fragte der geistliche Herr. „Diese junge Dame ist jetzt seine Erzieherin und Pflegerin." „Ah, die andere Dame ist also fort?" „Ja", sprach Fräulein Hagen, „sie ging freiwillig als man ihr Vor würfe machte. Was den Knaben anbetrifft, so ist er immer noch unzu rechnungsfähig, sieht im Wachen und im Schlaf die Dame hinabstürzsn und schreit, daß er sie retten wolle vor ihrem Mörder." Der Pfarrer zuckte unwillkürlich zusammen, während sein Antlitz noch blässer wurde. „Fieberträume", sprach er halblaut, wobei seine Augen mit starrem Ausdruck in der Ferne hingen. „Natürlich", rief Hilberg, „der Junge ist im eiligen Stolpern über einen Stein gefallen und hat sich den Kopf verletzt, etwas Gehirnerschütterung bringt dergleichen Angstbilder hervor." „Freilich, freilich — eine Gehirnerschütterung — armes Kind, es war zu Viel für ein junges Gemüth." „Bah, den facht wohl so leicht kein Gefühl an, Hochwürden", meinte der Commerzienrath achselzuckend, „ein Bursche von Eisen und Stahl, auf den nichts Eindruck macht, als die scharfe Felskante." Während dieses kurzen Gesprächs war Fräulein Hagen so dicht an den Rand der Kluft getreten, daß Stevenson rasch Ihren Arm ergriff. „Glauben Sie an eine Vorsehung, welche die Thaten der Menschen schonMienieden mit gleichem Maße mißt?" fragte sie leise, den Blick fest in die Tiefe richtend. „Ich glaube an eine Vergeltung, so sicher wie an das gewaltsame Ende dieser Frau, um deretwillen eine Wittwe mit ihren Waisen dem Elend überantwortet worden ist", versetzte der Amerikaner ebenso leise. Clara Hagen trat rasch zurück, ihr reizendes Antlitz war sehr blaß geworden, doch in den grauen Augen spiegelte sich eine düstere Entschlossenheit. Sie wollte etwas sagen, schwieg aber und folgte rasch den beiden Herren, welche langsam im Gespräche der Berghöhe zuschritten. „Fräulein!" begann Stevenson auf's Neue, „eilen Sie nicht so sehr; wenn Sie sich für jene geheimnißvolle Tragödie wirklich interessiren, dann finden Sie in mir einen Verbündeten, welcher den Willen, die Ausdauer , und auch die Mittel besitzt, derselben nachzuspüren und dem Räuber die Beute zu entreißen." Clara Hagen blieb stehen, um ihren Begleiter fest anzublicken. „Woraus schließen Sie, daß gerade ich ein besonderes Interesse für die Tragödie haben sollte?" fragte sie langsam. „Aus Ihrer Aehnlichkeit mit der Schwester des verstorbenen Lampert und Ihren Glauben an ein Verbrechen und eine Vergeltung." Das junge Mädchen konnte ein Erblassen und sichtliches Erschrecken nicht unterdrücken. „Sie combiniren wie ein Staatsanwalt", erwiderte sie mit leiser, bebender Stimme, „wer oder was sind Sie, mein Herr? — Mit welchem Recht —" „Bitte, mein verehrtes Fräulein!" unterbrach sie der Amerikaner, „ich besitze selbstverständlich nicht einen Schatten von Recht, mich Ihnen aufzudrängen. Ich bin Amerikaner und von deutscher Herkunft, meine Eltern wohnten an dem Ufer des Rheins —" „Ach, dort bin ich auch einheimisch —" „Ich vernahm es vorhin aus Ihrem eigenen Munde, Sie sind eine Kölnerin, — haben Sie dort vielleicht einen Doktor Helbach gekannt?" Das junge Mädchen blickte ihn überrascht an. „O gewiß", versetzte sie, „er war Arzt und unser nächster Nachbar. Ich erinnere mich seiner sehr gut, weil ich mich stets vor ihm fürchtete, er sah so finster aus. Seine Stieftochter war meine Gespielin." Des Amerikaners Augen starrten in die wilde Schlucht, sein Gesicht war sehr düster, während sich Tiefe Falten auf seiner Stirn gebildet und ihn um viel älter erscheinen ließen. Clara blickte ihn überrascht an. „Wissen Sie, daß Sie jetzt dem Doctor Helhach sehr ähnlich sehen?" sprach sie plötzlich haublaut. Er fuhr wie aus einem Traume empor. „Mag sein", erwiderte er mit gezwungenem Lächeln, „vr. Helbach war mein Onkel, ich hörte in Köln von seinem unglücklichen Ende, er ist im Rhein — verunglückt." „Ja, auch seine Frau starb bald, er hatte die Arme ganz unbemittelt zurückgelassen." „Ihre verdiente Strafe", sprach Stevenson kalt und hart, „mein Onkel war ein sehr vermögender Mann, sie soll ihn durch ihre Verschwendung ruinirt und in Tod getrieben haben. Doch wo mag wohl die Tochter geblieben sein?" setzte er nach einer Weile hinzu. „Entfernt wohnende Verwandte der Frau nahmen sich ihrer an, — ich habe seitdem nichts wieder von ihr gehört, wurde aber seltsamerweise durch meine Vorgängerin bei Herrn Waldorf, jene Erzieherin, welche das Unglück mit dem Knaben hatte, daran erinnert." „Ah, Fräulein Born, die junge Dame mit den dämonisch schwarzen Augen fragte Stevenson sichtlich erregt. „Dieselbe", erwiderte Clara, „Ingeborg Kronau war die Gespielin meiner Jugend, welche mich allerdings ein wenig tyrannisirte —" „Das kann ich mir denken", fiel der Amerikaner bitter lächend ein, sie glich doch sichtlicher ihrer Mutter." „Das that sie allerdings, sie war war ein bildschönes, aber fürchterlich despotisches Kind mit dem ausgeprägtesten Eigenwillen. Nun, es ist merkwürdig, wie Fräulein Born dieser Ingeborg ähnelt, ich hätte darauf schwören mögen, daß sie es sein müsse, obgleich sie meine Frage ob sie am Rhein geboren sei, sehr kurz verneinte." Stevenson nickte mehrere Male nachdenklich vor sich hin. „Ich werde diesen Fingerzeig zur Auffindung meiner Cousine jeden falls benutzen", sprach er mit entschlossener Miene, „und danke Ihnen aufrichtig für Ihre Mittheilung, Fräulein Hagen! Möchte sie aber jetzt, da diese ungestörte Unteredung bald ein Ende nehmen wird, aufrichtig bitten, mir nicht zu mißtrauen, da mir sehr viel daran liegt, mit Ihnen in schriftlicher Verbindung zu bleiben. Ich reise in kürzester Zeit, vielleicht schon morgen von Meran ab, um mich direkt nach der Stadt x. in Westfalen zu begeben." „Ach, nach dem Wohnort des Commerzienraths —" „Und des Herrn von Santen", setzte der Amerikaner hinzu, „mich wundert es in der That, mein Fräulein, daß sie Hilbergs verlassen haben, der Aufenthalt in L. wäre jedenfalls interessant für Sie gewesen." „Das ging über meine Kräfte", erwiderte Clara ruhig, „auch die Duldungsfähigkeit einer Gesellschafterin hat ihre Grenzen. Ich bin un bemittelt, gebieterisch darauf angewiesen, mein Brod mir selber zu verdienen, doch nicht im Stande, mich wie eine Sklavin behandeln zu lassen. Auch dürfte es ziemlich gleichgültig für mich sein, wohin das Schicksal mich verschlägt." „Sie sollten nach Amerika gehen mein Fräulein!" sprach Stevenson, sie mit warmer Theilnahme betrachtend, „es würde Ihnen nicht schwer fallen, sich dort eine glückliche Zukunft zu gestalten. Was in meinen Kräften stände —" „Ich danke Ihnen, Herr Stevenson!" unterbrach ihn Clara, vor seinem Blick erröthend das Auge senkend, noch ist das alte Vaterland mir nicht so verhaßt, um es mit der neuen Welt zu vertauschen. Doch ver zeihen Sie, daß ich Ihnen mein Erstaunen darüber ausbrücke, weshalb Sie sich für Herrn von Santen so sehr interessiren." „Nun, das will ich Ihnen gern sagen, mein liebes Fräulein!" ver setzte der Amerikaer lächelnd, „ich bin Jurist —" „Sehen Sie, daß ich vorhin recht hatte, als ich Sie mit einem Staats anwalt verglich!" rief das junge Mädchen lebhaft. „Allerdings, obwohl ich noch weit davon entfernt bin", lachte Ste venson, „nun gut, als Jurist muß mich dieser Fall ganz besonders in- teressiren, zumal in mir nicht sowohl ein Advokat, als vielmehr ein Stück von Criminalisten steckt. — Das Lampert'sche Haus in L., die Tragödie hier imGebirge, der trostlose junge Wittwer, die dämonische Erzieherin, der phantasirende Knabe, ei, mein Fräulein, liegt hierin nicht Alles, was einen Mann von meinem Metier wahrhaft electrisiren kann ? Abgesehen von den räthselhaften Aehnlichkeiten, welche sich in Ihrer Persönlichkeit sowohl, wie auch in Fräulein Born verkörpern sollen." „Mein Himmel, ich bekomme wirklich ein gelindes Grauen vor Ihnen, mein Herr!" bemerkte Clara mit einem geisterhaften Lächeln, „Sie zeichnen geflissentlich die nöthige Sensation hinein." „Ich skizzire nur vorhandene Thatsachen," sprach Stevenson sehr ernst, „sträuben Sie sich nicht länger gegen die Erkenntniß, daß die Vorsehung uns zusammengeführt hat, um Vergeltung zu üben. Ich bin überzeugt, in dieser dunkeln Geschichte Ihnen ganz besonders dienen zu können und werde es mit oder ohne Ihre Erlaubniß thun. Nur versprechen Sie mir eins, schenken Sie mir insofern Vertrauen, als Sie mich dann und wann von dem Zustande des kleinen Waldorf in Kenntniß setzen, wie überhaupt von Ihrem Verbleib." „Und wohin sollte ich diese Mittheilungen gelangen lassen?" „Nack X. post i-Wkuicks oder postlagernd, wie Herr von Stephan es jetzt im deutschen Reiche verlangt." „Gut, ich verspreche es Ihnen," sprach Clara nach kurzem Zögern. „Ich danke Ihnen, liebes Fräulein! Ihr Vertrauen soll Sie nie gereuen. Und nun Ihre Hand zu treuem Bündniß!" Sie blickte ihn an und senkte dann erröthend die schönen Augen, legte aber ihre kleine Rechte in seine weiße kräftige Hand, welche die ihre mit festem Druck umfaßte. „Dank!" Das war Alles, was er sagte, worauf sie schweigend und rascher als vorher dem Commerzienrath und dem Geistlichen folgten, welche bereits die Höhe erreicht hatten und jetzt dem Pfarrhause von Pfelders zuschritten. VI. Der Amerikaner, Mr. Stevenson, hatte am nächsten Tage von dem Waldorf'schen Ehepaar Abschied genommen, dem noch immer phantasiren- den Knaben mitleidig die Wange gestreichelt und einen verstohlenen Hände druck mit Clara getauscht, welcher ihr starkes Herzklopfen verursacht und ihn in eine fast übermüthige Stimmung versetzt hatte. Sodann war er in den Besitz der versprochenen Hilberg'schen Empfehlungskarte gelangt und vom Commerzienrath nach Bozen begleitet worden, um hier den Zug nach Innsbruck zu benutzen.