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Tagesgeschichtc. Die Stimmung im Reichstage ist nicht glücklich. Es ist jene verdrießliche und gereizte Stimmung, wo Regierung und Parlament, Parteien und ihre Führer allerlei und ziemlich viel gegen einander aus dem Herzen und der Zunge haben, wo jeder dem andern sein Sündenregister vorhält, einer dem andern auf das Wort paßt, um ihn abzutrumpfen und etwas Unangenehmes an den Kopf zu werfen mehr zur eigenen Erleichterung und Genngthuung als zur Klärung und Förderung der Sache. Jst's auch nicht wie in Ungarn und Frank reich, wo sich die Abgeordneten nach der Sitzung mit Pistolen schießen oder mit Degen kitzeln, so ist doch jede Sitzung mehr oder weniger ein scharfes Scharmützel, in welchem Richter mit ziemlich grobem Ge schütz, Bamberger mir eleganteren Waffen kämpft. Es fehlen so viele Abgeordnete entschuldigt oder unentschuldigt, daß das Haus fast regel mäßig ausgezählt werde« muß. Seit ein paar Tagen beratheu die Herren den Reichsetat 1884—85, aber nicht mit Freuden, sondern mit Seufzen und nur, weil es die kaiserliche Botschaft wünscht. Sie halten diese Berathung für verfrüht, vorzeitig, ungrüudlich und in mancherlei Beziehung bedenklich. Die Vorrede zu dieser ungewöhnlichen Arbeit war ziemlich lang und bitter, Bamberger hielt sie. Er vermißte die Gegenwart Bismarcks, der Reichstag kam ihm in seiner jetzigen Lage vor, wie die Feier einer Hochzeit ohne Bräutigam. Er klagte über die Gesetzentwürfe, die immer wieder vorgelegt würden, auch wenn sie mit der größte» Mehrheit abgelehut worden seien; das führe zum „Scheinparlamentarismus", schwäche die Wirksamkeit und das Ansehen des Reichstages; Regierung und Reichstag seien aber keine Gegensätze, Kaiser und Reichstag seien an einem und demselben Tage geboren, wenigstens im Sinne und Geiste des Volles, sie leben und wirken zusammen, einer den andern tragend. Finauzminister Scholz antwortet schneidig, aber doch auch auf vieldeutige Worte sich steifend: Bamberger erstrebe eine parlamentariscbe Regierung, — eine solche sei der Üebergang zur Republik. Die Minister wollen eine kaiserliche Regierung und führten diese nach dem Willen des Monarchen, nicht nach der Mehrheit des Reichstages; die Schuld vieler Unannehmlich keiten liege allein an den Uebergriffen deS Parlamentarismus. Abg. Benda zur Tagesordnung zurückkehrend, spricht sich im Namen der Nationalliberalen gegen die Gründlichkeit und Wahrheit 2jähriger Reichs-Etats aus. Der ganze Etat pro 1884 — 85 wurde nach dem Antrag Richter an die Budgetkommission verwiesen und es wird den liberalen Parteien nicht schwer werden, ihn daselbst in aller Form zu begraben. Ebenso wurden am Dienstag die Holzzölle abgelehnt; alle liberalen Parteien stimmten dagegen. Das Ergebniß der Abstimmung wurde mit langanhaltendem Beifall auf der Linken ausgenommen. Diefe Vorlage ist definitiv beseitigt. Auch die Be- rathungen der Unfallversicherungskommission des Reichstags scheinen einen überraschenden Abschluß zu finden. Seitens des Abg. v. Hert ling (Centrum) ist der Kommission der Antrag zugegaugen, in Form einer Resolution die Ablehnung des vorliegenden Entwurfs zu be schließen und gleichzeitig die Reichsregierung aufzufordern, einen neuen Entwurf vorzulegen, welcher von dem Reichszuschuß absehen, dagegen an der Zwangsversicherung der Arbeiter unter Ausschluß der Privat versicherungsgesellschaften durch korporative Genossenschaften festhalten soll. — Vom 9. bis 21. Mai hält der Reichstag seine Pfingstferien. — In den Foyers des Reichstages wurde viel von dem ungünstigen Gesundheitszustand des Reichskanzlers gesprochen. Man wollte wissen, daß der Kanzler sich seit einigen Tagen sehr unwohl fühle, daß er stark abgemagert sei und daß sein Befinden zu ernsten Besorg nissen Anlaß gebe, die bei seiner Umgebung unzweifelhaft zu Tage treten. Für 1884—85 sind im Haushalt des deutschen Reiches Matri- kularbeiträge aufzubriugen 102,593,340 Mark, 10,704538 Mark mehr als im Vorjahre. Berlin. Der König und die Königin von Sachsen werden unmittelbar nach den Feiertagen zum Besuch der Hygieneausstellung eintreffen, mehrere Tage hier verweilen und in dem Königl. Schlosse Aufenthalt nehmen. Berlin. Die Leiche des feit Montag Vormittag vermißten ge richtlichen Häuser-Administrators E. Luhn, Neuenburgerstraße 35, ist Dienstag Vormittag um 9 Uhr im Neuen See am großen Wege im Thiergarten aufgefunden worden. Spuren von Gewalt waren an der Leiche nicht sichtbar, wohl aber war ein Tuch um deu Mund gebunden; auch fehlten goldene Uhr und Kette und außer einem Mes ser und sonstigen geringwerthigen Kleinigkeiten, Notizen und Visiten karten wurde bei der Leiche nur ein Zehnpfeunigstück gefunden. Luhn hatte beim Verlassen seiner Wohnung in einer Geldtasche ca. 28,000 M. mitgenommen, um an verschiedenen Orten größere Zahlungen zu leisten. Durch die sofort eingeleiteten Nachforschungen ist festgestellt, daß er am Montag Mittag den Restaurationsgarten des Spaudancr Bock besucht hat. In dem Abort desselben murde eine Geldtasche mit abgeschnittenem Riemen gefunden, in welcher sich verschiedene Notizen, auf Luhn lautend und andere Papiere befanden. Es ist anznnehmen, daß der gesunde und in guten Verhältnissen lebende Diann, der außer seiner Frau noch 4 Kinder hinterläßt, das Opfer eines Ueberfalles geworden ist. Berlin, 9. Mai. Nach den bisherigen polizeilichen Ermittelungen scheint bezüglich oben gemeldeten Todes des Häuseradministrators Luhn kein Raubmord, sondern ein Selbstmord vorzuliegen. Das freundschaftliche Verhältniß Deutschlands zu Italien hat neuerdings wiederholt eine aller Welt verständliche Bekräftigung ge funden, die nicht wenig dazu beiträgt, das Vertrauen in die Dauer haftigkeit der politischen Kombination zu stärken, welcher Italien als Dritter im Bunde beigetreten ist. Wie die Vermählung des Prinzen Thomas, Herzogs von Genua, mit der Prinzessin Isabella von Bayern als eine Bethätigung der deutsch-italienischen Annäherung auf dyna stischem Boden, fo ist der jüngst erfolgte Abschluß des deutsch italienischen Handelsvertrages als eine Vermählung der kom merziellen Interessen beider Völker zu betrachten und selbst der Erfolg, den Wagner's „Nibelungen" gegenwärtig jenseits der Alpen davontragen, darf, wie die „B. P. N." hervorheben, zum großen Theile aus die Tendenz zurückgeführt werden, mit Deutschland in jeder Beziehung auf besten Fuß zu gelangen. Man kann sagen, daß die von Deutschland zu dem Bau des Gotthardtuuncls reichlich beigesteuerten Hülfsgelder außerordentlich zinsbringeud angelegt worden sind, indem erst zufolge der Durchbrechung der alpinen Scheidewand der Süden und das Centrum des mittleren Europas zu derjenigen Intimität des räumlichen Verkehrs gelangt sind, welche auch auf geistigem Gebiete die Annäh erung im großen Maßstabe ermöglicht und gestattet, den Austausch der Ideen auch für die. mannichfaltigen realen Beziehungen des Völker lebens fruchtbarer, als es je vorher der Fall gewesen ist, zu gestalten. Deutschlands und Italiens politische Wiedergeburt weist ohnedies zu zahlreiche Analogien auf, als daß beide Völker auf die Dauer sich der Erkenntniß verschließen könnten, daß sie bezüglich gewisser Even tualitäten naturgemäß auf einander angewiesen sind. Es kommt hinzu, daß die Interessen des modernen Königreichs Italien mit jenen des modernen Deutschen Reichs in keinem einzigen Punkt kollidiren, mit hin Rivalitätsbestrebungen beiderseits absolut ausgeschlossen sind. Je größere Fortschritte die politische Reise beider Nationen machen wird, desto allgemeiner wird die Erkenntniß der deutsch-italienischen Jn- teressensolidarität sich verbreiten. Schulze-Delitzsch's Begräbniß in Potsdam war sehr würdig und feierlich. Der Reichstag in Mehrzahl mit zwei Präsidenten hatten sich eingefunden und Abgesandte aus dem ganzen deutschen Reiche. Auch die Sozialdemokraten waren vertreten. Hofprediger Rogge be tonte in seiner Grabrede die Wirksamkeit des Heimgegangenen für das Allgemeinwohl, welche ihn den Besten feiner Zeit und seines Volkes an die Seite stelle, er beleuchtete das Streben des Heimgegangenen zur Lösung der Arbeiterfrage, wie er, die Gefahren der Zukunft vor- ausseheud, mit Selbstverleugnung auf Hebung des Arbeiterstandes ge wirkt habe, nicht nur für feine materielle Lage, sondern zur Hebung seines sittlichen Wirkens und Familienlebens, durch Ermahnung zur Ordnung, Sparsamkeit, guter Sitte und Zucht. In seiner Wirksamkeit für das deutsche Volk, für welche 3500 genossenschaftliche Vereine sprächen, sei er segensreichen Volksmännern wie Ernst Moritz Arndt an die Seite zu stellen. In seiner 35jährigen parlamentarischen Thä- tigkeit sei er sich stets treu geblieben, und nicht nach eiuzelnen Redens arten dürfe der Mann beurtheilt werden, der, wenn er auch seine eigenen Wege gegangen, doch treu zu Kaiser und Reich gestanden habe. Das Endurtheil über den Heimgegangenen sei der Geschichte Vorbe halten, den Zeitgenossen aber bleibe er ein Vorbild edelsten Strebens für die Wohlfahrt des Volkes und das Heil seines Vaterlandes. Eine entsetzliche Schiffskatastrophe ereignete sich vor einigen Tagen in der Nähe des Hafenorts Bute in der Provinz British-Co bia. Nahezu schon im Angesichte des Städtchens brannte draußen auf der See der Dampfer „Grappler", welcher mehr als hundert Passa giere, zumeist chinesische Arbeiter, an Bord hatte, total nieder, ohne daß dem rasch fortschreitenden Feuer auch nur der geringste Einhalt geboten werden konnte. Viele Passagiere sprangen verzweiflungsvoll und wie wahnsinnig in die Fluthen, um sich dem schrecklichen Tode des Verbrennens zu entziehen, von dem feuchten Elemente Erbarmen erhoffend. Bis jetzt ist die Zahl der Verunglückten noch nicht festge stellt, jedoch kann schon jetzt mit Gewißheit angegeben werden, daß mehr als die Hälfte Passagiere zu Grunde ging. In Loudon ist in der Nacht auf den 4. Mai der prachtvolle Tempel der englischen Freimaurer vollständig niedergebrannt. Der großartig angelegte und mit dem Reichsten und Kostbarsten in seinem Innern geschmückte Bau dürfte kaum von einem anderen Tempel der Welt an Glanz und Prunk erreicht, geschweige denn übertroffen worden sein. Leider konnte von all den kunstvollen, vielleicht einzigen Schätzen, welche in demselben aufgespeichert waren, Nichts gerettet werden. Geradezu unersetzlich aber ist die Galerie lebensgroßer, von den ersten Künstlern Englands angefertigter Bilder der bisherigen Großmeister des englischen Freimaurerordens, welche, ein Hauptschmuck des Tempels, durch den Brand gleichfalls gänzlich vernichtet wurde. Ein Erdbeben zerstörte am 2. d. M. einen Theil von Täbris (Hauptstadt der Provinz Aserbeidschan in Persien). Außer vielen Häusern wurde auch der große Bazar in Trümmer gelegt, Hunderte von Menschen sind umgekommen. Baterlän-ifcheS. Wilsdruff. In letzter Sitzung hiesigen Kirchenvorstandes wurde auf Antrag des Herrn Pastor Dr. Wahl beschlossen, einen Kirchen heizungsfond zu gründen, der seine Einnahmen zunächst aus Haus sammlungen, Coucerten eventuell einer Kirchencollecte, andern Veran staltungen und freiwilligen sonstigen Beiträgen schöpfen soll. Je mehr das Bedürfniß unleugbar vorhanden ist, der eisigen Kälte in unserer Kirche zu wehren und dadurch den Kirchenbefuch im Winter zu heben, desto Wünschenswerther wäre es, wenn man diese Angelegenheit in der Gemeinde nicht blos freudig begrüßte, sondern auch außerhalb des Kirchenvorstandes allerseits unterstützte wo und wie man nur kann; auf solche rege Beihülfe von vielen Seiten richtet man auch haupt sächlich seine Hoffnung, daß der Kirchenheizungsfond schnell wachsen werde, zumal da wegen der noch abzutragenden Schuld für den neuen Gottesacker Vie Kirchgemeinde als solche zunächst nicht in Anspruch genommen werden kann. Möchten Privatleute, Vereine nnd Korpora tionen unsrer Gemeinde doch die Absicht des Kirchenvorstaudes unter stützen und zu der ihren machen. — In Anbetracht der bevorstehenden Pfingstfeiertage sei darauf aufmerksam gemacht, daß die königl. Generaldirection der sächsischen Staats-Eiseubahnen wie alljährlich eine Verlängerung der Giltigkeit der Tagesbillets eintreten läßt. Es behalten die Tagesbillets, welche Sonnabend vor Pfingsten oder an den beiden Festtagen selbst gelöst werden, Giltigkeit bis Freitag den 18. Mai. Es ist dies für die am Sonnabend den 12. Mai gelösten Billets eine 7tägige Giltigkeitsdauer, für die an den Festtagen gelösten eine 6- bez. 5tägige Giltigkeitsdauer. — Dresden. DieKunde von einem neuen entsetzlichen Raub mord in nächster Nähe setzt die Residenz und deren Umgebung in hochgradige Aufregung. Der Thatbestand ist folgender: Am Sonn abend Nachmittags 5 Uhr verließ der Arbeiter Schmidt aus Schull witz bei Pillnitz den hiesigen schlesischen Bahnhof, um im Auftrage der Herren Ingenieure Gutmann u. Wernecke für die zur Auszahlung der Arbeiter bestimmten Lohngelder nach der auf dem Schenkhübel hinter Dorf Weißig gelegenen Dresdner Dynamitfabrik zu überbringen. Dort wartete man jedoch vergeblich auf den als ordentlichen, gewissen haften und sogar etwas bemittelten Mann, fo daß man, als dieser um 8 Uhr Abens noch nicht eingetroffen war, sofort auf die Möglichkeit eines Verbrechens schloß. Die alsbald angestellten Recherchen sollten leider die Vermuthung bestätigen. Sonntag früh 9 Uhr fand man nach längerem Suchen und durch Fuß-, Schleif- und Blutspuren ge leitet, den Arbeiter Schmidt am Eingang des Waldes bei Großerk mannsdorf ermordet, beraubt und in die Erde verscharrt auf. Aus der sandigen Erdoberfläche ragte noch ein Theil der blutigen Hand des Unglücklichen heraus, welche zum Verräther der höllischen That wurde. Die Aufhebung der Leiche geschah bald nach Entdeckung der selben. Der unglückliche Mann war schrecklich zugerichtet, sein Schädel mittelst eines nachher aufgefundenen und zweifellos zu der furchtbaren That vorher zubereiteten Knüppels vollständig eingeschlagen; am Hals und Rumpf zeigten sich mehrere tödtliche Messerstiche. Der Raub mörder hat sein Opfer vollständig der Baarschaft von 717 Mk. Silber geld, der Uhr und der Lohnliste, ferner eines Briefes und einer Zeit schrift beraubt. Mau vermuthet übrigens mehrere Thäter. Schmidt war kinderlos und hinterläßt eine Wittwe. Der Verdacht der Thäter- schaft fällt auf einen einige Tage vorher entlassenen Arbeiter,