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TagesgeschichLe. Dcr Reichs- uud Staats-Anzeiger veröffentlicht einen vom Kaiser Wilhelm unterzeichneten Erlaß, worin derselbe siir alle die ver schiedenartigen, kaum übersehbaren Zeichen dcr Theilnahme und Liebe bei seinem diesjährigen Geburtstage den Gemeinden, Korporationen, Festgenossenschaften, Vereinen und einzelnen Patrioten im In- und Auslände seinen herzlichen kaiserlichen Dank ausdrückt. Kongreß oder nicht? — noch schwankt das Zünglein in der Wage hinüber und herüber. Die englischen und russichen Ansichten darüber platzen mit feindseliger Schärfe auf einander und vielleicht bedenken sich auch Frankreich und Italien wegen ihrer Mittelmeer- Interessen das Siegel ihres Einverständnisses unter den neuen russisch türkischen Friedensvertrag zu setzen, sobald England denselben als nicht zur Verhandlung geeignet erklärt. Der neueste Vermittelungs versuch des Berliner Kabinets. eine Verständigung zwischen England und Rußland herbcizuführen, ist insofern erfolglos geblieben, als die russische Antwort darauf bisher noch aussteht. Sollte diese etwa in der Thatsache enthalten sein, daß sich General Jgnatieff nach der Hauptstadt an der Donau unterwegs befindet? Sem Auftrag könnte dahin lauten, die schwerwiegende Zustimmung des Wiener und Berliner Kabinets zu dem Frieden von St. Stefano für Rußland zu sichern, wenn auch die „europäische Sanktion" desselben vorerst noch in der Schwebe bleibt. Welche Stellung würden aber Rußland und Eng land in diesem Falle einzunehmen haben? Sie müßten beide vom Kopf bis zum Fuß gerüstet breiben, und es fragt sich noch, wer den Druck einer solchen Rüstung am längsten aushalten kann. Käme es, wirklich zu einem aussichtslosen Kriege, so haben weder England noch Rußland Hoffnung, für ihre Sonderinteressen Bundesgenossen gegen einander zu gewinnen. Die Erwägung dieser und anderer Fragen, welche möglicherweise noch aus dem dunklen Schooße der Zukunft hervorgehen könnten, berechtigen zu dem Schlüsse, daß Rußland jetzt durch die größte Mäßigung seiner Forderungen für sich selbst den größten Vortheil erlangen uud ebenso im Interesse des übrigen Europa handeln würde. Ueber die Vorgänge an der Berliner Börse berichtet die „B. B.-Ztg": So lange der Notenwechsel zwischen England und Rußland im Gange war, hatte die Börse mit einer Konsequenz sonder Gleichen an der Idee festgehalten, daß ein englisch-russischer Krieg höchst un wahrscheinlich sei, keine Phase dieses diplomatischen Feldzuges wurde hier und auch bei den andern Börsen ernsthaft genommen, die Kurse behaupteten sich während dessen fortgesetzt uud die Börse konservirte ihre Hausse-Position in der Ueberzeugung, daß jeder Tag die Nach richt vom Beginn des Kongresses und von der Einstellung auch des diplomatischen Krieges bringen könnte. Statt der Friedenstauben durchzieht heute aber etwas wie Pulverrauch und ferner Kanonen donner die Welt, und auch die enragirtesten Optimisten wagen kaum noch auf Erhaltung des Friedens zu hoffen. So kam es, daß die Nachricht vom Rücktritt Derby's eine Panik entfesselte, wie mau sie gestern eigentlich für unmöglich hielt, das ganze Geschäft stand unter der Herrschaft eines alles Maß übersteigenden Schreckens, und die Aufregung war so groß, daß der Verkehr zeitweilig überhaupt stockte. Der Rücktritt des englischen Minister des Aeußern Earl of Derby, zeigt am beredtesten, wie weit die Differenzen zwischen Ruß land und England gediehen sind. Schon bei verschiedenen früheren Gelegenheiten der orientalischen Verwickelungen stand die Demission des Ministers in Aussicht und zwar, wie man sich erinnern wird, namentlich bei der Frage der Absendung der englischen Flotte nach dem Marmarameer, indessen verwirklichte sich dieselbe damals nicht. Jetzt müssen die Berathungeu im Londoner Ministerrathe denn doch einenden Frieden sehr bedrohlichen Verlaus genommen haben, da Earl of Derby als dasjenige Mitglied des Kabinets von St. James gilt, welches den allzu kriegerischen Gelüsten des Premierminister Beaconsfield in seinen Ansichten entgegenstand. Vorläufig wissen wir nur, daß Earl Derby in Folge der Einberufung der Reserven, die demnach Thatsache ist, seine Entlassung verlangt hat. Des Kaisers von Rußland Worte an die Offiziere seiner Armee bei der Ver kündigung der Nachricht vom Waffenstillstände, welche dahin gingen, daß das Ende der Kümpfe vermuthlich noch nicht da sei, scheinen jetzt ihrer Verwirklichung entgegen zu gehen, d. h. der Ausbruch eines Krieges zwischen Rußland und England rückt immer näher heran. Bei diesem Stande der Dinge sei nochmals hervorgehvben, um welche äußerliche Differenzen es sich augenblicklich handelt. Rußland hat erklärt, daß es sich nicht verpflichte, die gesammten 29 Artikel des Präliminarfriedens dem Kongreß zur Berathung vorzulegen, daß auch die Uebersenduug des Dokuments an die Vormächte nicht die Be deutung einer solchen Vorlage haben solle. Es sagt damit, daß es seinem eigenen Ermessen Vorbehalte, zu bestimmen, in welchen Punkten es als Mandatar Europas den Vertrag geschlossen, in welchen es für eigene Rechnung gehandelt habe. England verlangt die Prüfung aller Punkte, um die Möglichkeit zu gewinnen, auch gegen solche russisch-türkische Neuerungen, die vorzüglich englische Interessen ver letzen, auf dem Kongresse diplomatisch zu streiten. Wie sehr auch Rußland einen Krieg zu vermeiden wünscht, es wird sich kaum ent schließen, England diese Möglichkeit zu gewähren, wenn es nicht die Aussicht vorher erhält, daß es für diese Ansprüche auf dem Kongresse Unterstützung finden würde. Dies die Aeußerlichkeiten, welche die Streitfrage bilden, in Wirklichkeit ist es aber hauptsächlich das durch Rußlands Friedensvertrag mit der Türkei geschaffene Uebergewicht des russischen Einflusses im Orient, vor welchem dem englischen Premierminister bangt. Dem entgeqenzutreten und für England zu retten, was noch zu retten ist, ist das Ziel der Politik Earl Beacon- fields, wenigstens kann man dies aus dem bisherigen Verlaufe der Orientwirren zur Genüge ersehen. Um Englands Machtstellung zu rehabilitiren, scheint man in London also vor einem Kriege mit Ruß land nicht zurückzuschrecken, der in seinem Verlaufe bis jetzt ganz un übersehbar ist. Indessen wird von beiden Seiten hierzu mit steigen dem Eifer gerüstet und wir müssen mit der Möglichkeit desselben rech nen. Nach Londoner Mittheilungen sollen zur sofortigen Einschiffung 80,OM Mann bereit stehen, 14 große Kriegsschiffe liegen in Chatham und Portsmouth, wenn erforderlich, zum Auslaufen fertig. Die „Nat. Ztg." erhält aus Wien folgende Depesche: „Unbe schadet des bestürzenden Eindrucks der englischen Nachrichten waltet hier die Ansicht ob, daß England zunächst nicht auf eine Kriegser klärung an Rußland, sondern auf die Schaffung einer militärischen Thatsache, etwa eine weitere Flottcnbcwegnng im Bosporus zur Sperrung der Pontuseinfahrt bedacht sei, um abzuwarten, ob Ruß land dies als Kriegsfall ansehen werde." Die „N. Pr. Ztg." hebt hervor, daß die Gefahr einer krieger ischen Entladung der Gewitterluft nahe liege. Bisher, schreibt das Blatt, gedachte England nur einen Finanzkrieg gegen Rußland zu führen, d. h. dasselbe zu fortdauernden Rüstungen zu nöthigen und hierdurch finanziell zu ruiniren. Diesem Manöver scheint Rußland, das durch eine Verschleppung, bez. durch eine „Versumpfung" der orientalischen Frage in eine ziemlich üble Lage gerathen könnte, durch ein weiteres aktuelles Vorgehen begegnen zu wollen, und so sieht sich England genöthigt, aus dem Dunkel, welches über seinen Plänen schwebte, mehr herauszutreten und sich in volle Kampfesverfassung zu setzen. Wie und wo England und Rußland sich einander wirksam zu fassen vermöchten, welches also in einem Kriege zwischen beiden Mächten die strategischen Zielpunkte sein könnten, das läßt sich nicht mit Sicherheit erkennen und darum auch jetzt noch keine volle Klarheit über die eigentlichen Absichten Englands gewinnen. Ob Lord Bea consfield vor dem endgiltigen Bruche sich die Tragweite, die ein Krieg haben könnte, noch einmal überlegt und zu einer ruhigeren Erwägung der Vortheile einer friedlichen Verständigung gelangt', oder ob er zu diesem Bruche bewußt und entschieden hi'ndrängt, daß muß einstweilen dahingestellt bleiben. . In Bezug auf einen Krieg mit England schreibt das russische Blatt „Nowoje Wremja": England hat einen wunden Fleck — seinen Sechandel und die Herrschaft über Ostindien. England auf diesen beiden Gebieten Niederlagen beizubringen, ist für Rußland nicht nur vollständig möglich, sondern beinahe nur ihm allein zugänglich, denn keine andere Macht kann auf trockenem Laude nach Indien gelangen. Wir brauchen dorthin nur eine Armee von 100,000 Mann zu senden, unsere tapferen Krieger werden dann schon das Ihrige thun, daran ist nicht dcr geringste Zweifel möglich. — Ein Zug nach Indien bringt Rußland unberechenbare Vortheile. Wir machen die Invasion nicht als Eroberer, sondern zur Befreiung der Völker und Staaten vom englischen Joch, und können dann eine enorme Kriegsentschädigung erheben, theils von den von uns befreiten Ländern und Herrschern, hauptsächlich aber allerorts durch gewaltsame Annexion aller der eng lischen Regierung und englischen Kompagnien oder Privatleuten ge hörigen Besitzungen und Institutionen, um sie dann den Regierungen und Privatpersonen aller Nationalitäten zu verkaufen. Damit kann Rußland seine Staatsschulden bezahlen nud eine Eisenbahn nach Indien bauen. Dann geht die Welthandelsstraße durch Rußland und eine ueue Aera der Macht und Blüthe bricht für Rußland an. Dieses eine große Ziel, von der Nothwendigkeit, den englischen Hoch muth zu brechen, gar nicht zu reden, verdient schon, daß ein Zug nach Indien unternommen und dahin nicht nur 100,MO Mann, sondern, wenn nvthig, auch mehr gesandt werden. Was aber die Nieder werfung der englischen Handelsflotte und des Seehandel- betrifft, so ist die Sache so einfach und leicht ausführbar, daß man sich darüber gar nicht auszulassen braucht. Wenn wir aus anderen Staaten, be sonders Amerika, Privatkreuzer kommen lassen, die das Recht erhalten, unter der russischen Reichsflagge überall englische Handelsschiffe zu kapern und zu vernichten, so werden sich zu einem solchen Unternehmen Hunderte von Liebhabern finden — und England wird eine solche Kriegführung nicht einmal ein Jahr aushalten. Die Krämer werden erzittern und ihre Regierung zum sofortigen Friedensschluß zwingen. Dann ist die Reihe an uns, England zum Kongreß zu zitiren, und zum Kongreß nicht der europäischen Mächte allein, sondern auch Amerikas, Persiens, Chinas, Indiens uud anderer Staaten, um die vielen wirklichen Weltfragen zu lösen. Dann wird es sich um die Annexion Gibraltars, Maltas, des Suezkanals, vieler Besitzungen in Asien und Afrika handeln, um die Vergiftung Chinas mit Opium u. s. w. Sobald die Macht Englands erschüttert ist, werden alle Nationen begeistert gegen dasselbe austreten, um es für alle Sünden büßen zu lassen. König Humbert hat, wie dem Mailänder „Secolo" unter dem 15. v. aus Rom telegraphirt wird, eine Verordnung erlassen, der zu folge es nicht mehr nothwendig ist, bei Vorstellungen im Königlichen Palaste im schwarzen Frack und mit weißer Cravatte, eventuell auch mit Orden zu erscheinen, und das einfache bürgerliche Kleid mit schwarzer Cravatte schon genügt. Vivat soguous! Oertliche und sächsische Angelegenheiten. Wilsdruff. Der Zauberkünstler Herr I. Jolowicz giebt am 7. d. M. im Saale des „goldenen Löwen" zu Wilsdruff eine Vor stellung in der höheren Magie. Diesem Herrn geht ein sehr guter Ruf voraus, indem er nicht nur ein experter Professor in der Zauber kunst, sondern auch wissenschaftlich vielseitig gebildet ist und ver schiedene Sprachen geläufig spricht. Herr Jolowicz wird die neuesten Erfindungen auf dem Gebiete der Magie, Chemie, Physik, Optik, Galvanismus, Spiritualismus und Hydraulik vorkührcn und ver spricht diese Vorstellung deshalb nicht nur recht unterhaltend zu werden, sondern auch lehrreich. Dieselbe sei daher dem Publikum angelegent- lichst empfohlen. Die neulich von verschiedenen Blättern (auch von uns) gebrachte Notiz, daß im laufenden Jahre neben der Gewerbe- und Per- sonalsteucr noch 11 Simpla der Einkommensteuer zu entrichten seien, ist dahin zu ergänzen, daß nach dem vorläufigen Finanzgesetz vom 13. Dezember 1877 nur 6 Simpla der Einkommensteuer, wie im Vor jahre, zur Erhebung kommen, da die Regierungsvorlage, welche aller dings 11 Simpla forderte, noch nicht die Genehmigung der Stände erlangt hat. Der erste Termin für Entrichtung der Gewerbe- und Personalsteuer ist der 5. April (nicht, wie früher, dcr 15. April), der spätere ist noch nicht festgestellt. Die Einkommensteuer wird fällig am 1. Juli und 1. November. Jedoch sind Veränderungen durch das zu verabschiedende endgiltige Finanzgcsetz ausdrücklich Vorbehalten. Zur Frage Les gesetzlichen Impfzwanges ist es vielleicht von Interesse zu erfahren, daß in der königl. Charite in Berlin seit dem Juni 1876, also seit fast zwei Jahren, kein einziger Fall von Pockcn- crkrankung mebr zur Behandlung gekommen ist. Man wird diese auffallend günstige Erscheinung, wenn auch nur theilweise, mit der Zwangsimpfung in ursächlichen Zusammenhang bringen können. Ein Oelsnitzer Fabrikgeschäft hat von der großen Manufaktur- waarenhandlung Rudolph Hertzog in Berlin Anweisung erhalten, für ibre Rechnung sofort 1M0 Mark an die verschiedenen Ortsgeist lichen in der Umgegend mit der Bestimmung zu senden, das Geld als Unterstützung unter die nothleidenden und seit vielen Wochen ar beitslosen Flanellweber zu vertheilen.