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ßen vom 8. November 1858 an das Preuß. Staatsministerium, in welcher die Orthodoxie scharf gegeißelt wird, „welche mit den Grund anschauungen der evangelischen Kirche unverträglich ist und welche Heuchler in ihrem Gefolge hat," und statt dessen hingewiesen auf das Wesen der „wahren Religiosität, die sich in dem ganzen Verhalten des Menschen zeigt und von äußerem Gebühren und Schaustellungen zu unterscheiden ist." Schon vor 200 Jahren, hebt Baumgarten hervor, hat Spener bewiesen, daß die evangelische Kirche an drei großen Gebrechen leidet: das Grundrecht, welches Christus der Ge meinde verliehen hat, ist durch die Herrschaft des geistlichen Amtes und der consistorialen Regierung unterdrückt, die Bethätigung der christlichen Gesinnung wird durch eine unevangelische, aber weit ver breitete Lehre vom Glauben gehemmt, die Selbstständigkeit und Freiheit des kirchlichen Lebens wird durch das staatliche Kirchen regiment verkümmert und zerstört. Die Theologen, welche gegen wärtig in Deutschland die meisten Lehrstühle inne haben, die Män ner der Mitte erkennen diese Schäden, aber sie schwächen und ver stümmeln jeden Reformversuch, sie flicken den alten Lappen auf das alte Kleid. Anderen, die sich auf Luthers Buchstaben steifen, er scheint alles Neue verdächtig und verwerflich, sie halten unsere Zeit für so gottverlassen, daß sie nur geistig leben könne von dem Odem vergangener Jahrhunderte. Sie werfen die Brandfackel des alten fluchwürdigen Zwistes in die neue Zeit, welche mit ihren besten Kräften an der Einigung der deutschen Volksstämme arbeitet. Gegen diese beiden theologischen Parteien hat sich der Prote stantenverein gebildet, nicht um die Kirche zu zerstören, sondern sie zu erneuern aus ihrem ächten Geist und Wesen. Er will die Ge meinde wieder einsetzen in ihr Christenrecht, sie schützen vor Bevor mundung und Knechtung durch das geistliche Amt. Er heißt Jeden willkommen, der sich zur Kraft des evangelischen Ehristenthums be kennt und will ein Bekenntniß Herstellen nicht im Sinne der kirchlichen Dogmen, sondern im Sinne der neutestamentlichen Vorzeit. Er macht Ernst mit der evangelischen Freiheit dem römischen Papstthum ge genüber, das mit den Kräften und Mitteln des Fanatismus ausge rüstet, ein Werkzeug in den Händen der Jesuiten ist und gegenüber den Verlockungen zu maß- und gewissenloser Ungebundenheit. Der Protestantenverein will die Volkskirche, die ebenso christlich als deutsch ist. Er füllt eine vorhandene Lücke aus und verdient nicht, daß ihm dte Existenz streitig gemacht wird. Er beansprucht kein Vorrecht, er hält sich nicht sür sündlos, noch für unfehlbar, aber er begehrt, daß er auf ehrliche Weise bekämpft werde, daß man ihn nicht grundlos verdächtige, verläumde und verketzere. Baumgarten bittet schließlich den König, er möge verfügen, daß die Urheber des beregten Kirchen verbots zur Rechenschaft gezogen werden, weil sie gegen die biblische Grundordnung der evangelischen Freiheit, Wahrheit und Liebe sich vergangen haben. Ob diese leidenschaftslose Vorstellung, ob dieses muthige Wort etwas fruchten wird? Wir glaubens nÄ)t. Wir erachten es auch nicht für durchaus nöthig, denn die Erneuerung der evange lischen Kirche wird im 19. Jahrhundert eben so wenig, wie die Reformation des 16. Jahrhunderts, von oben er folgen. Jeder, auch der kirchliche Fortschritt, geht von unten aus, von der Gemeinde, vom Volke. Aber gut ist es immer, wenn auch jetzt zuweilen daran erinnert wird, daß Duld samkeit und Versöhnlichkeit das Grundprincip des Evangeliums ist, daß innerhalb des Christenthums verschiedene Richtungen Raum ha ben, die mit geistigen Waffen gegen einander kämpfen sollen und von denen keine Anspruch auf Alleinberechtigung zu erheben hat; gut ist es immer und verdienstlich, wenn von einem unerschrockenen Manne, wie Baumgarten ist, die Mächtigen der Erde daran ge mahnt werden, daß sie keine Macht haben, keine Macht üben sollen über die Gewissen der Menschen. (H. Drfztg.) Die goldene Hochzeit. Erzählung von Ludwig Habicht. (Fortsetzung.)" An dieser glitten aber solche Schmeicheleien wie Regentropfen an einem Spiegel hinunter, sie blieb bei ihrer Weigerung. „So wird auch aus der Kirchenfeier nichts. He Alter," wandte sich der Fleischer an seinen Freund, „bist Du noch dabei?" „Ich möchte wohl, wenn nur die Gustel ihren Schatz kriegt," war dessen beständige Antwort. Die Enkelin kam jetzt auch bei diesen Worten angestürmt und fiel der Großmuutter um den Hals. Das gab ein Bitten und Weinen, doch die Alte blieb unerschütterlich. „Nun, alter Friede, raff Dich auf!" begann jetzt wieder der Fleischer, „sags Deiner Alten einmal, daß Du noch Herr im Hause bist und auch ein Wort mit drein zu reden hast! Du willst, daß dle Beiden ein Paar werden sollen, nicht wahr?" „Freilich will ichs," sagte dieser, seine ganzen Kräfte zusammen nehmend, während ihm seine Frau einen grimmigen Blick zuschleu derte und wüthend aus der Stube stürzen wollte. Aber der Fleischer ließ sie nicht entkommen. Er faßte seine Gevatterin am Arme, drückte sie auf den Stuhl zurück und hielt ihr nun eine Standrede, daß sie trotz ihrer sonstigen Zungenfertigkeit nicht zu Worte kommen konnte und nur immer schlucken mußte, um nicht an der in ihrer Kehle aufsteigenden Gegenantwort, die sich durchaus nicht Luft machen konnte, zu ersticken. Der alte Fleischer führte ihr die alte Freundschaft zu Gemüth, und wenn Alle so dächten, wie sie, bekämen die armen Tuchmacher gar keine Weiber und hier ginge ja Alles flöten durch ihren Eigen sinn, — die goldne Hochzeitsfeier, die alte Freundschaft, der eheliche Frieden; — aber die alte Röstel stand wie die Garde bei Waaterloo und beharrte bei ihrer Weigerung. Da rückte der Fleischer zwar schweren aber dennoch muthigen Herzens seine letzten Reserven ins Gefecht; er versprach dem Wil helm, der nun einmal fein Liebling war, baare 500 Thaler zum Anfang eines eigenen Geschäfts zu geben und dahin zu wirken, daß er das Haus seines Vaters erhalte, der ohnehin immer krank sei. Da endlich wankte die Granitkoloune und die Großmutter Röstet sagte: „Nun, mags sein, aber Wenns schlimm herum reicht, dann tretet Ihr vor die Lücke." Das gab nun einen Jubel! Der Wilhelm war wie ein Blitz bei der Hand, der Fleischer warf sich in Positur, sprach bedeutungsvolle, gewichtige Worte, aus denen die jungen Leute nur entnahmen, daß sie verlobt seien, und selbst die alte Röstel, die es eben nur von praktischer Seite aufgefaßt hatte, wurde von dieser Freude und Se ligkeit ganz gerührt, sie mußte mit der Schürze in die Augen fahren; dann aber segelte sie hinaus, um Alles zur goldenen Hochzeit fertig zu machen, denn das war vorerst die Hauptsache. Wilhelm umarmte seinen Großvater, dessen breite Brust dies mal den Freudenstrom des jungen Mannes bald nicht ausgehalten hätte; er gab ihm dafür aus überguellender großväterlicher Zärtlich keit ein festes Kopfstück und sagte: „Siehst Du, Junge! Aber es war eine Rohdearbeit, ich will lieber einen Centner Rindfleisch mürbe klopfen, als das noch einmal durchwachen." Gustchen hatte sich an ihren Großvater angcschmiegt und ihm unter Freudenthrünen gedankt. Der Alte weinte und schluchzte fleißig mit und stieß dann nur in einzelnen Absätzen hervor: „Siehst Du, Gustel, Dein alter Großvater ist immer noch da! Ja, der hats durchgesetzt," und dabei fuhr seine zitternde Hand lieb kosend über den blonden Kopf der Enkelin. „Da weinen die Beiden wie alte Spitalweiber," rief der Flei scher lachend, der jetzt die Gruppe bemerkte, „statt sich zu freuen, wie es einen rechten Christen geziemt! Aber jetzt, Frau Gevatterin," rief er der wieder Eintretenden zu, „jetzt Wein und Gebäck her, daß wir goldene Hochzeit, Verlobung und Alles in Allem feiern können." „Ich dächte, damit pressirte es nicht so sehr ," entgegnete diese ärgerlich. „Wir wollen jetzt nur frühstücken und dann in die Kirche fah ren," beschwichtigte der Fleischer. In die Kirche fahren! Das waren versöhnliche Worte. (Fortsetzung folgt.) Vermischtes. * Aus Gratz wird geschrieben, daß dieser Tage in Thalerhof ein Mann vom Regiment Deutschmeister, der auf der Wache stand, bei 18 Grad Kälte erfroren ist. * In der Stadt Rheims spielt der wunderlichste Strike, den die Welt jemals gesehen hat. Es feiern nämlich die Polizeidiener und Stadtsergeanten, sie haben den Diensthut mit der Cocarde abgelegt und wollen ihn erst wieder aufsetzen, wenn ihnen die Stadt 15 Cen times Zulage giebt. Böse Menschen behaupten, der Prüftet habe die Sinkenden heimlich aufgeputscht, um die Stadtverwaltung zu ärgern. * Vor den Pariser Assisen. Präsident: „Sie gestehen also ein, daß Sie falsches Geld fabricirt haben?" — Angeklagter: „Mein Gott, was sollt ich machen? Gutes Geld halt' ich nicht." * In Frankfurt fiel eine junge Dame in den Schnabel eines Herrenschlittschuhes und verlor ein Auge. Kirchennachrichten aus Wilsdruff. Am Sonntage Estomihi predigt Vormittags: Herr Pastor Schmidt. Nachmittags: Herr Rector Beck. Amtliche Bekanntmachungen und Anzeigen vermischten Inhalts. Von dem unterzeichneten Gerichtsamt soll dc» ZV. März 187V das dem Handarbeiter Carl Gottlieb Janke in Wilsdruff zugehörige Hausgrundstück No. 140 des Catasters No. 192 des Grund- und Hhpothekenbuchs für Wilsdruff, welches Grundstück am 21. Januar 1870 ohne Berücksichtigung der Oblasten auf 614 Thlr. —- —- gewürdert worden ist, nothwendiger Weise versteigert werden, was unter Bezugnahme auf den an hiesiger Gerichtsstelle aushängenden Anschlag hierdurch bekannt gemacht wird. Köuigl. Gerichtsamt Wilsdruff, am 24 Januar 1870. Leonhardi.