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229 In Amerika. kanratlintische Skizze von Richard Michaeli». Im Winter 1862—63 hielt ich mich in B. am MiWvpi auf. Das kleine Städtchen bot wenig BemerkenS- «Mhes, und war ich deshalb um so mehr auf geselligen Umgang bingewiesen. Der Zufall ließ mich die Bekanntschaft eines deutschen Arztes machen, mit welchem ich die langen Abende häufig verplauderte. Wenn dann die Tagesereignisse, der Krieg, die Politik der Reihe nach ventilirt waren, so pflegten wir wohl einige Episoden aus unserem Leben zu "jäkien, und da ich bemerkte, daß de» Doctors Reichtkum an interessanten Erinnerungen meinen Bonath weit übertraf, so bat ich ihn, mir die Geschichte seines vielbewegten LebenS zu erzählen, was er auch mit gewohnter liebenswürdiger Bereit willigkeit that. Ich will mich bemühen, die Erlebnisse meiner Freundes mit derselben Lebendigkeit wicderzugeben, die seine ErzählungSweise charakterisirte; doch werde ich mir gestatten, seiner übergroßen Bescheidenheit mit einigen erläuternden Bemerkungen zu Hülfe zu kommen. An einem Maiabend 1849 stand ein junger Mann von etwa 24 Jahren an dem Parterrefenster eines kleinen Hauses in der 8pnng Street der guten Stadt Newyork. lieber der HauSthür las man mit großen Let tern: ,,vr. 0. Verger. — Ollie«." Diese Office war äußerst einfach eingerichtet. Einige Bücher auf einem Brette und eine Anzahl chirurgischer Instrumente bildeten den beachtenSwerthesten Theil der Ausstellung. Doctor Otto Berger war zwar schlank, doch kräftig gebaut. Sein Gesicht war nickt classisch schön, aber der Ausdruck der blauen Augen, der Hoden Stirn und des festen Zuges um den Mund machten seine Erscheinung angenehm. Aus einer kleinen Universitätsstadt Mitteldeutsch lands gebürtig, hatte er schon während der Knaben jahre ein mächtiges Sehnen in die Ferne gefühlt und mit den Jahren reifte in ibm der Essischluß, in der großen Republik dem Glücke nachzujagen. Die Eltern bekümmerte Anfangs dieser Ent schluß deS Sohnes, allein allmählig gewöhnten sic sich an den Gedanken, und nach abgelegtem Doctor- Examen verließ Otto das Vaterland. Als er daS Schiff bestieg, war in seinem Her zen Alles Sonnenschein. Er zog ja dem Lande seiner Sehnsucht zu, dem Lande seiner goldenen Träume, in welchem jedem Verdienste seine Krone wurde. Schon sah er sich im Geiste von unzähli gen Kranken um Hülfe gebeten, und mit seinem Rukme mehrte sich sein Reichthum. — Es mußte ja so werden, denn bekannt war eS, daß die Me, dicin in Amerika die Kräfte ihrer Jünger nur sehr mittelmäßig ausgebildet hatte. So segelte er frohen Herzens westwärts. Die Wirklichkeit blieb indeß hinter diesen schö nen Träumen zurück. Zwar ging die Seereise glücklich von Statten, allein in Newyork schien man sich gar nicht um die Ankunft deS Herrn Otto Berger zu kümmern, ob gleich er in verschiedenen Zeitungen da» Publicum von seinem Dasein in Kenntniß setzte, und sich bereit erklärte, den Leidenden Hülfe zu leisten. Der Arme wußte noch nicht, was ein Arzt in Newyork für Kunststückchcn machen muß, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Nachdem Otto eine Zeit lang an den Scheiben getrommelt batte, ergriff ihn ein heftiger Unmuth und er beschloß, durch eine Flasche Rheinwein di« Grillen zu verscheuchen, da auch er die Erfahrung gemacht hatte, daß sich der deutsche Rebensaft hierzu im Allgemeinen besser eignet, als schnödes Wasser. Er schlenderte aus der Spring Street in dem Broadway und schritt diesen langsam hinunter. Plötzlich blieb Otto gegenüber ein anständig gekleideter Mann von vielleicht zweiunddreißig Jah ren stehen, Er sah Berger scharf an und als dieser nun auch sein vis-a-vis fixirte, erkannte er in dem selben den früheren Professor der Universität, wel cher wegen Theilnahme an politischen Unruhen flüch tig geworden war, Nachdem sich Beide bewillkommnend die Hände geschüttelt hatten, stiegen sie in einen Rheinwein- keller hinab, um nach alter guter Sitte bei einem Glase deutschen WeineS über ihre Schicksale zu plaudern. — „ES freut mich übrigens, daß es Ihnen gut zu gehen sckcint", begann Otto und ließ einen zu friedenen Blick über daö Aeußere des Professors Thormann schweifen. „Nun ja, eS gebt jetzt ganz gut", meinte die ser, „obgleich mir Anfangs oft der Muth ganz sinken wollte." „AuS Ihrem Erfolge schöpfe ich Kraft zu neuer Ausdauer", entgegnete Otto. „Denn wenn ich auch für einige Monate mit Subsistenzmitteln versehen bin, so sind mir doch schon allerlei unangenehme Gedanken vor die Seele getreten." „Die Hauptsache ist nur: so schnell als mög lich irgend etwas ergreifen, was uns ernährt", sagte Thormann mit Nachdruck. „Nun, was soll man denn noch ergreifen? Haben Sie denn jemals irgend etwas Anderes gethan, als Ihre Praxis versehen?" fragte Otto einigermaßen erstaunt. Thormann lächelte still vor sich hin und ant wortete dann, eine leichte Verlegenheit abschüttelnd: „Mit meiner Praxis ist eS noch immer nicht weit her, und könnte ich, wenn dies mein einziger ErwerbSzweig wäre, getrost dabei verhungern. — Als daher mein mitgebrachtes Geld aufgezehrt war, sah ich mich nothgedrungen nach einer andcrweiten Beschäftigung um und verfiel auf eine allerdings nicht besonders schöne. Ich schnitt nämlich Papp schachteln." „Papp—schach—teln", machte Berger. „Ja wohl", entgegnete Thormann, „und eS