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ihm gegenüber. Schweigend betrachtete die Kranke die Beiden und machte die Entdeckung, daß ihre Augen eine gar deutliche Sprache redeten, daß ihre stummen Blicke in einander tauchten, wie magnetisch angezogen. Der Doktor erzählte, wie er zufällig mit Eva zu sammengetroffen, doch verschwieg er die Begegnung mit Kloßmann. Die Zeit verstrich nur allzu rasch. Als Sigmund Linde sich endlich verabschiedete, war mehr als eine Stunde vergangen. Eva begleitete ihn bis an die Tür, dort zog er die leise bebende Mädchenhand innig an seine Lippen, dann war er hinaus. — Lange Zeit saß Eva dann schweigend am Bette der Mutter, sie hielt die Hände im Schoß gefaltet, aber um ihre Lippen lag ein glückliches Lächeln. „Warum es dem Doktor nur nicht gefiel auf dem Balle?" dachte sie immer. „Ob es — meinetwegen war? — Ach, Unsinn!" schalt sie sich gleich darauf, „und doch — und doch — könnte es nicht dennoch möglich sein? —O Himmel — wenn es so wäre — wenn ." Weiter kam Eva nicht in ihren Gedanken, sie drehten sich stets um denselben Punkt. Die Mutter wollte das junge Mädchen zu Bett schicken. „Laß mich noch hier," bat Eva, „schlafen kann ich jetzt doch nicht, erzähle mir etwas — was Du willst — doch nein, erzähle mir von — meinem Vater." Eva wußte selbst uicht, weshalb ihr gerade jetzt der Vater einfiel. Sie hatte es bisher beinahe ängstlich vermieden, die Mutter daran zu erinnern, weil diese immer in heftige Aufregung geriet, wenn die Tochter etwas davon erwähnte. Auch heute hatten sich die milden Züge der alten Frau auffallend verändert. In ihren dunklen Augen blitzte es zornig auf, eine drohende Wolke lag auf ihrer Stirn. „Laß das, Kind, Du tust nicht gut daran, die Vergangenheit heraufbeschwören zu wollen. Siehst Du denn nicht, wie ich darunter leide? Ist es nicht genug, daß mein Leben vergiftet wurde, soll ich auch noch Deine frohe Jugend zerstören? Ich sage Dir, laß das, was hinter uns liegt, vergessen sein, rühre nicht daran! Ich habe all das Leid verschlossen in meiner Brust getragen, — um Deinetwillen tat ich es. Laß das ungeheuere Opfer nicht vergebens ge bracht sein, laß die Toten ruhen!" Eva schmiegte ihre weiche Wange an das von tiefen Furchen durchzogene Gesicht der Mutter. „Ich weiß zwar nicht, um was es sich handelt, aber ich habe erkannt, daß viel Schweres und Trauriges hinter Dir liegt. Wäre es nicht besser, Du teiltest Wir zwei gehören doch nun einmal zusammen, und geteilter Schmerz ist halber Schmerz." „Nein, — nein," rief die alte Frau, und streckte wie in heftiger Abwehr beide Hände gegen die Tochter aus, „sage das nicht, mein Kind! Die Last, die ich allein tragen muß, würde durch mein Geständnis nur verdoppelt werden. Laß es sein, Eva, und nun geh' schlafen, es ist die höchste Zeit!" Nur seufzend fügte sich die Tochter, aber stunden lang lag sie noch wach und grübelte darüber nach, wie sie es möglich machen sollte, hinter das Geheimnis zu kommen. rft -ft -ft V. Acht Tage waren vergangen. Die Sonne schien schon warm auf die frühlingsgrüuc Erde herab. Senuebach stand unter seiner Ladentür und ein be hagliches Lächeln lag auf seinen schwnlstigen Lippen, denn in seinem Laden drängten sich wieder einmal die Käuferinnen, so daß die beiden Mädchen, welche die Kundschaft bedienten, alle Hände voll zu tun hatten. Hinter die lange Tafel, an der die Seife eingepackt wurde, trat er schou lange nicht mehr, es fiel auch weder seiner Frau noch Hilda ein, für das Geschäft nur einen Finger zu rühren. Lieber Gott, sie hatten es ja auch nicht nötig, sich zu Plagen. Wozu war man denn reich? Die Arbeit konnte man getrost anderen Leuten überlassen. Aus dem gegenüberliegenden Hause trat eben Doktor Linde und grüßte artig herüber. „Na, wohin denn so eilig?" rief Sennebach dem eifrig vorwärts Strebenden zu, „Sie nehmen sich ja kaum noch Zeit, auf unsereinen zu achten, scheinen sehr in Anspruch genommen zu sein, wie geht's Geschäft?" „Danke, ich bin zufrieden, habe in der Tat sehr viel zu tun," gab der Doktor zurück. Er konnte einen leisen Seufzer nicht unterdrücken und mnrmelte für sich etwas von „unangenehmer Nachbarschaft." „Sagt' ich es Ihnen nicht?" triumphierte Senne- bach mit breitem Lachen. „Ja, ja, so 'ne Reklame, die hilft, — ich kenne das! Wenn ich an meine rote Alpeurosenseife denke, dann lacht mir das Herz im Leibe!" Wäre nicht in diesem Augenblicke Fräulein Hilda hinter dem breiten Rücken ihres Vaters anfgetaucht und hätte sie nicht mit ihrem süßesten Lächeln dem „lieben Nachbar" zugerufen, er möge doch etwas näher kommen, — Doktor Linde wäre unfehlbar so rasch als möglich davon geeilt. So aber erforderte es die Höflichkeit, näher zu kommen und die Beiden zu be grüßen. Er tat es denn auch, aber wie es schien, nur widerstrebend. „Eigentlich sollte ich Ihnen böse sein, weil sie neulich auf dem Balle fo — ohne Abschiedswort verschwanden und sich auch seitdem nicht mehr bei uns blicken ließen, trotzdem Mama sich niemals so recht wohl befindet, wie Sie wissen, — aber ich will Ihnen verzeihen, großmütig, wie ich nun einmal bin. Möchte Sie nur für heute Abend einladen; Mama feiert nämlich ihren Geburtstag, selbstverständlich nur im eugsten Kreise. Es gibt eiu kleines Abendessen nnd ein Glas Wein, werden Sie kommen?" Sennebach riß die Augen weit auf und sah seine Tochter erstaunt und ungläubig an. „Mama, sagst Du, — aber —." „Nun, ja freilich, es ist doch alles längst aus gemacht; Du bist in der letzten Zeit etwas vergeßlich, Papa," unterbrach Hilda rasch die Rede des Alten, während sich ihre Wangen purpurrot färbten; zudem gab sie dem erstaunten Vater einen Wink, zu schweigen. Der Doktor, der dies wohl bemerkte, stand mit ziemlich ablehnender Miene dabei. „Ich weiß nicht, ob es mir möglich sein wird, — ob ich es versprechen kann —." „Ach was, Herr Doktor, Ausflüchte gelten nicht. Sie müssen einfach kommen," unterbrach Hilda ihn rasch, während der Alte seiner Tochter zuraunte: „Mama ist doch erst im November geboren, was willst Dn denn jetzt auf einmal mit ihrem Geburtstag?" Hilda tippte rasch in bezeichnender Weise an ihre Stirn, dann rief sie dem Doktor, der Miene machte, sich zu entfernen, eifrig zu: „Also — „uu luvoir," ich erwarte später Ihren Entschluß!" Jetzt konnte Sigmund Linde sich nicht Mehr zurück halten. Er mußte laut lachen. Es war doch zu dumm, wie man in der Familie Sennebach die Fremd wörter handhabte. „uu luvoir" wiederholte er und schüttelte sich vor Lachen, dann eilte er ohne ein weiteres Wort mit raschen Schritten davon. Fräulein Hilda sand das Benehmen des Doktors sehr merkwürdig. „Sollte ich etwas Verkehrtes gesagt haben?" murmelte sie und wollte ins Haus zurückkehren, um ihr französisches Wörterbuch zu Hilfe zu nehmen, als sie eben Eva aus der Tür treten sah, und beschloß, diese zu fragen. Sie war zwar der Freundin seit einigen Tagen gar nicht gewogen. Am Morgen nach dem^Balle ilMiSstmsmMM-jllVll Ms 'M SlkiM und Eva fragte nach dem Verlauf des Festes. „O, es war herrlich," hatte Hilda versichert. „Doktor Linde tanzte die ganze Nacht mit mir!" „Das ist allerdings sehr seltsam," hatte Eva er widert. „Und warum findest Du das seltsam?" fragte dann Hilda gereizt dagegen. „Nun, weil der Doktor mir sagte, — daß er schon um zehn Uhr den Ball verließ," entgegnete darauf Eva kichernd. Daß er mehr wie eine Stunde bei ihr und ihrer Mutter gesessen, verschwieg sie wohl weislich. Hilda hatte auch nicht gefragt, wie und wo sie dem Doktor begegnet, denn sie schämte sich ihrer offenbaren Lüge und vermied es deshalb, mit Eva zusammenzutreffen, — aber jetzt winkte sie die Freundin doch zu sich. „Du, wie heißt „ auf Wiedersehn" im Französischen ?" fragte Hilda ohne jede Einleitung. „L revoir," erklärte Eva lachend. „Aber wes halb fragst Du darnach?" „Ich, — ich meinte nur," stotterte Hilda, über und über errötend, und setzte dann zerstreut, um nur etwas zu sagen, hinzu: „Wo gehst Du denn hin?" „In die Apotheke, auch möchte ich im Vorüber gehen einen Augenblick nach Frau Linde sehen. Die gute, alte Dame beklagt sich immer, daß ich so selten komme." „Die gute, alte Dame hat Dich wohl sehr ins Herz geschlossen?" spottete Hilda, „aber bemühe Dich nicht, es ist ganz umsonst, — Sigmund ist nicht zu Hause, er sprach eben mit mir, als er wegging." Eva errötete unwillig, doch suchte sie sich zu be zwingen. „Nach Sigmund auszuspähen, das über lasse ich anderen Leuten," lachte sie so übermütig, daß Hilda verwundert auf die Freundin blickte und sagte: „Ich finde Dich sehr verändert, Eva! Ich weiß gar nicht, wie ich es bezeichnen soll! Deine Augen blicken so ganz anders als sonst, Deine gewöhn liche Leichenbittermiene ist völlig verschwunden." Eva errötete heftig unter dem forschenden Blick, mit dem Hilda sie betrachtete. (Fortsetzung folgt). Mannigfaltiges. — Ueber eine häßliche Angewohnheit, der man uicht nur in den Geschäften Berlins begegnet, stimmt in der „Berl. Börsen-Ztg." ein gramerprobter Jung geselle folgende Klage an: „Dieser Tage beschloß ich, um dem schlechten Leben ein Ende zu machen, mal wieder zu Hause Abendbrot zu essen. Zu diesem Zweck begab ich mich zunächst in eine Bäckerei, in eine sehr feine Bäckerei in der Potsdamer Straße und verlangte dort von dem amtierenden schönen Kinde zwei Semmeln. Die Holde sagte: „Sehr gern, mein Herr", begab sich zu dem Haken, an dem die Tüten befestigt waren, leckte sich die Finger ab, öffnete die Tüte, faßte mit den noch nasfen Fingern zwei Semmeln und steckte sie in die Tüte. — Nachdenklich schritt ich weiter zu meinem Freund, dem Butterfritzeu. Von dem verlangte ich ein halbes Viertel Butter, von der besten. „Sehr gerne, Herr Doktor", erwiderte er, leckte sich die Finger ab, riß ein Stück Papier von der Wand, tat die Butter hinein und faltete das Paket höchst sorgfältig so, daß die nasse Stelle des Papieres auf die Butter kani. — Als ich draußen war, beschloß ich, doch lieber nicht zn Hause Abend brot zu essen. Ich schob meine Pakete listig in einen Vorgarten, allwo sich am nächsten Morgen der Portier darüber gefreut haben wird, und ging zu Friedrichs, wo ich abendbrotete und mich festkneipte bis zum nächsten Morgen um sechs. — Die Presse hat doch schon auf so manche Mißstände hiugewiesen und so manches fortgenörgelt. Wie hübsch ist es beispiels weise, daß jetzt in allen Bäckereien steht: „Man bittet, die Backwaren nicht zu berühren", wodurch ich sicher gestellt werde, daß, wenn ich einen Pfannkuchen esse, diesen nicht schon 12 Personen in ihren Fingern ge knautscht oder gegen ihre Nasen geführt haben. Und könnten nun nicht die Herren Prinzipale in Bäckereien, Kolonialwarenhandlungen, Fleischereien ihren Ange stellten einfach verbieten, das Einwickelpapier erst naß zu machen! — Smiling Charley, das lächelnde Karlchen, nennen die spitznamenliebenden Amerikaner den Leiter des Stahlringes, Karl Schwab, dessen Millionen geschäfte so viel Aufsehen machten und dessen geschäft licher und gesundheitlicher Niedergang jetzt in aller Mund ist. Er ging hinauf wie eine Rakete und er kam herab wie ein Stock. Karl Schwab, der all mächtige Direktor des gewaltigen Stahltrusts und Günstling Andrew Carnegies, des Stahlkönigs, war in der Tat eine solche Rakete. In Loretto, dem fried lichen pennsylvanischen Landstädtchen, begann er seine Laufbahn in einem bescheidenen Viktualienladen. Sein Wochengehalt betrug 3,50 Dollar. Dafür mußte Charley mit Kisten und Kasten hantieren und die Kunden bedienen. Aber die Stahlwerke von Andrew Carnegie er eine ganz untergeordnete Stelle in dem Stahlwerke zu Braddock erhielt. Ganze 6 Dollar verdiente er die Woche. Charley hatte rote Backen und lachte bei jeder Gelegenheit. So bekam er von den Arbeitern den Beinamen „Smiling Charley". Zehn Meilen von dem Stahlwerke zu Braddock liegt Pittsburg. Dort thronte Carnegie, der Stahlkönig. Er ließ Captain Jones, den Vorsteher des Stahlwerks, öfter nach Pittsburg kommen, um über Braddock Auskunft zu erhalten. Jones, dem rastlos Tätigen, behagte das wenig. Zu Carnegie sagte er: „Da ist eiu junger Mann in meinen Diensten namens Schwab. Der kennt das ganze Stahlwerk in- und auswendig. Den will ich Ihnen schicken. Nebenbei kann er Ihnen noch etwas auf dem Harmonium Vorspielen. Er spielt ausgezeichnet." Carnegie war's zufrieden. Schwab kam, rotbäckig, lächelnd. Der große Stahlkönig ver suchte ihn in Verlegenheit zu bringen. Es mißlang. Der junge Mann mit den roten Backen (deutsches Erbteil) beantwortete lächelnd die kniffigsten Fragen mit tödlicher Sicherheit. Carnegie schmunzelte. Daun wollte Se. Majestät der Stahlkönig etwas vorgespielt haben. Lächelnd setzte sich Schwab ans Harmonium und spielte. Carnegie, dem leidenschaftlichen Musik- Verehrer, ging das Herz auf. Nun spielte Schwab schottische Weisen, alte, liebe Lieder aus des Stahl königs wilder, erster Heimat, aus seiner Kindheit. Carnegie, der getreue Sohn des schottischen Hochlandes, zerfloß in Wehmut und in Lust, wie Uhland das aus drückte, Schwabs Glück war gemacht. Das war der Mann nach dem Sinne Carnegies: rote Backen, lächelnd, ein Heller Junge, scharf wie ein Rasiermesser und bei all dem ein Mensch, der Musik liebte, also für Höheres sich begeistern konnte. Ein solcher war ja der junge Carnegie auch einmal gewesen, als er aus Schottland nach Amerika kam. Nach Captain Jones'Tode wurde der Rotbgckige Geueralsuperintendent des Stahlwerks mit einem Jahresgehalt von 35000 Dollars. Er war dreißig Jahre alt. Die Rakete stieg. Rapid ging es in die Höhe. Als Carnegie den Stahltrust zusammenschweißte, wurde Schwab Direktor. Noch immer hatte er rote Backen, noch immer lächelte er, noch immer sah er mit seinem ameri kanisch glatten Gesicht aus wie eiu Jüngling. Mit der in Amerika üblichen Schnelligkeit wurde er Mil lionär. Sein Name wurde im ganzen Lande bekannt. Bald kannte ihn auch Europa. Während seiner Reisen durch die alte Welt wurden ihm' Aufmerksamkeiten erwiesen, wie sie nur den hervorragendsten Persönlich keiten zuteil werden. Hier war wieder einmal ein