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Lop>rigbt 1938 bv ^uk^Vilrts-Verlag, Lerlla 8^ 88 21 j Nachdruck verboten Wenn sie sich an den wandte, wenn sie zu dem Freun? ihrer Jugend ginge und ihn um Hilse bäte? Der würde helfen, daran zweifelte sic nicht. Aber zu ihm, gerade zu Prangins konnte sie am allerwenigsten gehen. Es war nicht nur das allein, cs war noch etwas anderes. Tie hatte Nugst vor sich selbst. Wäre er wirklich ihr Freund ge- wcsen, nnc ihr Freund und weiter nichts als das — war cr's? Rein! Es spielte zu viel anderes hinein, Dinge, die sie nicht anriihrcn und eingestehen wollte. Ihr Tiolz bäumte sich aus, den er einmal so verwundet hatte, das; es heute noeb brannte. Tic war dazu verdammt, endlos über daS Eis zu wandern. Es knisterte und gurgelte unter ihren Tchrineu und die Tchichl, die sie trug, war so dünn, das; sic jeden Nngenblick brechen konnte. Wenn sie aber brach, dann gab es nur noch ein Versinken in grundloses Wasser. „ProhaSka!" rief sie durch die offene Tür. Tie Rite kam aus dem Nebenzimmer, wo sie nähend gesessen hatte. „WaS Hal Viszto gesagt?" sragle Earmen. Die Prohaska hob die Schultern und zog den >topf ein >vie ein srierender Vogel. „Weis; ich?" erwiderte sie. „Hab' ihm Geld gegeben, hat genommen. „Hab' gesagt: Fahren s ab und konnnen's nicht wieder." ,Und...? Domini er wirklich nicht wieder?" „Vin ich Prophet?" jagte die Prohaska. „Klann man lagen? Kann man wissen?" „Ich mus; zu ihm, jetzt gleich", sagte Earmen. „Ich mus; wissen, wo er hinsährt: wegen der Tcheidung, Prohaska. Tollte jemand nach mir fragen, so bin ich auSgegangcn, spazieren oder waS weis; ich. Du weiht jedenfalls nicht, wo ich bin. Verstanden?" Die ProhaSka nickte. Teil dem heimlichen Gespräch mit Prangins war sie eingcschüchtcrl und wortkarg. Earmcu halte zwar nichts darüber gesagt, kein einziges Wort. Tie halte die ProhaSka nur angcschaut mit einem Vlick, den die Alic ihr Hetzen lang nicht wieder vergessen würde, auch wenn sic noch hundert Jahre und mehr zu leben Halle. Nnf den Ttragen von Les TapinS war es still nnd heis;. Die Nachmillagshitze brütete. Nm diese Zeit war kaum ein Mensch unterwegs. Nllcs schlief hinter ge schlossenen Fensterläden und dicht verhangenen Gardinen. Nur ein paar Ttras;cnarbeiter hockten auf den Bänken und lungerten faul umher in ihrer Arbeitspause. Kinder spielten im Tand mit bunten Glaskugeln, die in der Tonne glitzerten. Im schmutzig schillernden Wasser des Hafens lag ein schwerer Frachtdampfcr, der eben ein- gclauscn war. Man lud gros;e Tücke aus und schichtete sie am Kai in Ttapeln übereinander. In der grellen Bunt heit der Hünscr mit den schmalen, ungleich hohen Giebeln sing sich die Lichtglut des Nachmittags und strahlte sengend zurück auf Pflaster und Ttcine. Halbwüchsige Mädchen hatten sich untcrgefaßt nnd kicherten. Earmen sah es nicht, als Prangins, der in einem Kasfcehaus am Hafen gesessen hatte, anfstand und ihr folgte. Ei» kleiner Gassenjunge wies Earmen den Weg zum Fischmarkt. „Dort links, Madame, und dann die Ttras;c hinauf und wieder links an der Mairie vorbei und durch die Torfahrt. Dann sind Tic gleich da." Earmen drückte ihm ein paar Tous in die Hand und ging weiter in der beschriebenen Richtung. ES stimmte. Tic fand cs. Prangins blieb in einiger Entfernung hinter ihr. Ter alte Fischmarkt war ein hässlicher, viereckiger Platz, in dessen Mitte Holzbudcn aufgeschlagcn waren, die jetzt leer standen. Es roch nach Fisch. Reste verdorbenen Fleisches gürten in der Tonne, von unzähligen Fliegen umschwirrt. Enge, winklige, dunkle Gassen zweigten von hier ab. Rue Earnot, bei Ropin: hier! Prangins verbarg sich am Ende der Gasse. Er sah sie eintrctcn. Carmen schob einen Perlcnvorhang zur Teile, der klingelnd hinter ihr wieder zusammcnfiel, und stand in einem halb erleuchteten Vorraum, dessen rote Ttcinsliescn einen feuchten Modergeruch anSströmIcn. Rechts und links war eine Tür, in der Mitte führte eine Treppe hinab in den Keller. Tic ösfnetc auf gut Glück die Tür linker Hand und betrat einen niedrigen Raum, ebenfalls mit Ttcinsliescn, einer langen Bank längs der Wände, mehreren Tischen und einer Theke alt der Tchmnljcitc. Nn cincm Tisch sahen zwei Männer. Zwischen ihnen stand eine Karaffe mit Wein, zwei Gläser und ein Korb mit weißem Brot. Tie hatten einen Lcdcrbcchcr und würfelten. Der eine von beiden schaute auf nnd sah Earmen von oben bis unten an; dann sties; er den andern mit dem Ellbogen an. Ter grinste. Carmen durchquerte das Zimmer bis zu der Theke, an der ein älterer, einäugiger Mann Gläser spülte. Ei trug ein Hemd mit hochgestrciftcn Aermcln und musterte sie mit schiefem Vlick. „Ich möchte Herrn Petura sprechen", sagte sie. „Jsi . hier?" Der Einäugige warf einen schnellen Blick an Carin, vorbei zu dem Tisch mit den beiden Männern hinüb. ehe er antwortete. „Ich weih nicht, hab' ihn heute g. nicht gesehen. Ist vielleicht abgereist." „Wohnt er nicht bei Ihnen?" „Oben", sagte er und deutele mit dem nassen Daum rückwärts gegen die Decke, „nicht hier." Er sah Carin mihtrauisch an und spülte weiter. „Könnten Tie einmal nachsehen, ob er noch da ist fragte sie zögernd. „Oder mir sagen, wo sein Zimmer i damit ich hiuaufgehcn kann?" „Ich zeige es Ihnen", brummte er, nahm e; schmutziges Handtuch von dec Wand und trocknete Nru und Hände ab. Dann kam er hinter dem Tisch hervor u: ging ihr voraus zur Tür. Die beiden Männer schäm, kur; auf und würfelten stumpfsinnig weiter. Der Einäugige öffnete die gegenüberliegende Tür m ging durch ein Zimmer hindurch. Dahinter lag ein dnnki Flur, von dem aus eine Holztreppc nach oben sühn Ohne sich nach Carmen umzndrchen, stieg er die knarre den Ttusen empor, wandte sich dann oben nach rechts uu klopfte an eine Tür. Niemand antwortete. Er klopfte noch einmal lauter. Wieder rührte sich nicht „Wird nicht da sein", sagte er, drückte die Klinke niedc nnd drehte sich dann nach Carmen um. Tic Tür war per schlossen. Der Tchlüssel steckte nicht. „Und — Tic wisscn nicht, wo er jetzt sein kann?" fragt, sie. „Oder — ob er wirtlich schon abgercist ist?" Er schüttelte den Kopf. Dann tapple er die Treppe wieder hinunter. „Kann ich vielleicht hier warten?" fragte Carmen. Wieder streifte sie der schiefe Vlick. „Bitte", sagte ei und lies; sie wieder in das erste Zimmer cinlrcten. Tie setzte sich an einen Tisch und bat den Einäugigen um einen Cinzano. Er brachte ihn schweigend. Als das Glas aber dann vor ihr stand, brachte sic es nicht über sich, es anzurühren. Die beiden Männer von vorhin sahen noch immer. Der Mann an der Theke spülte seine Glüscr. Eine Wasser leitung tropfte eintönig. Tie Würfel klangen knöchern im Becher aneinander und rollten dann leise polternd über das Holz des Tisches. Einmal kam ein kleines Mädchen herein, ging zn dem Einäugigen und lies; sich ein Ttück Brot geben. Jemand öffnete die Tür, streckte seinen Kopf herein, rief ein paar Worte und verschwand wieder. Am Ausgang der Gasse drangen wartete Prangins. Er kannte das Hans nicht, in das Carmen gegangen war. Was konnte sie hier wollen? Er ging aus und ab nn? schaute in die Gasse hinein, die eng and hoch war, nur von wenigen Menschen belebt. Die Zeit rückte vor. Prangins sah ans die Uhr; die Filmvorstellnng musste längst begonnen haben. Scheinbar halte Earmen sie vergessen, oder sie wollte nicht gehen Ihm selbst lag nichts daran. Er blieb. Carmen sas; di innen nnd wartete. Die Lust war un erträglich und kaum zn atmen. Ein schmaler Sonnenstrahl siel schräg ins Zimmer herein und kroch langsam, langsam über die roten Ttcinsliescn. Carmcn hatte die Zeit ver gessen. Laszko kam nicht. Einmal ging der Einäugige hinaus. Carmcn hörte oben Schritte. Er kam wieder, trat zu de» und brachte daun eine Karaffe mit Wein. Nichts geschah. Ekel packle Carmen. Ekel vor dieser Umgcvung, vor diesem Haus und vor sich selbst. Daß sic hier saß und aus Laszko wartete. War er überhaupt noch da oder wirklich schon fori? Und wenn er fort war, war cs dann nicht am besten so? ES hatte keinen Sinn, bicr zu warten. Wer sagte ihr denn, das; er nicht doch oben in seinem Zimmer war und nur nicht hcrunterkam, weil cs ihm aus irgendeinem Grunde nicht paßte? Daß er aus das Klopfen nicht ge antwortet hatte, besagte nichts. Hier war alles möglich und vorstellbar. Tie rasslc sich auf, trat zu dem Einäugigen, bezahlte und ging. Trotzdem die Luft in der Gasse stickig und dumpf war. atmete Carmen auf. alS sie wieder draußen stand. Zurück nach Cap d'Aigle! Tic war mit einem Male entsetzlich müde und zerbrochen. Als Prangins Carmcn aus der Gisse erblickte, drückte er sich schnell in eine Tür nnd verbarg sich. Pon dort sah er, wie sie aus dem Platz drüben ein Taxi anricf und davonfuhr. Prangins blieb zögernd stehen, ging ein Ttück in die Gasse hinein und auf das Haus zu. In diesem Augenblick kam ein Manu aus der Haustür. Tchncll trat Prangins ein paar Schritte näher auf ihn tu- „Verzeihen Tie", sagte er böslich. „Eben war Frau Casini hier. War sie bei Ihnen?" Der Mann stutzte, wich unwillkürlich einen Schritt zurück und fuhr sich mit der Hand über den glatten Scheitel. Dann lächelte er mit gelben Zähnen. „Tvt mir leid", sagte er und wollte sich entfernen. Prangins ging ihm einen Schritt nach und zwang ihn, stehenzubleiben. „Bei wem war Frau Casini?" beharrte er. „Ich kenne die Dame nicht", sagte der Mann. Er hatte es offenbar eilig, fortzukommen. „Und Sie wissen auch nicht, was sie hier wollte?* fragte Prangins, indem er plötzlich seine Brieftasche zog. Der Mann übersah es. „Tut mir leid", sagte er noch einmal, grüßte kurz und ging mit schnellen Schritten davon. Prangins sah ihm nach, ehe er selbst fortging. * Materne saß auf der Bank im Schatten neben dem Hotel und döste. Er konnte stundenlang untätig so sitzen. Rach einer Weile kam die Sonne herum und fiel auf sein Gesicht. Er rückte ein Stück weiter nach rechts. Ter Marquis war wieder einmal sortgegangcn und ivch nicht zurück. Materne sand, daß sein Herr sich, seit r hier war, plötzlich verändert habe. Er kannte ihn stets uhig, gleichmäßig und freundlich. Hier in Les Sapins wer war er vom ersten Tage an nervös und unstet ge- vescn, ging aus, kam wieder, ging wieder fort, blieb aus. cr hörte nicht hin, wenn man mit ihm sprach, antwortete urz, zerstreut und ungeduldig, und hatte Materne zum cstcn Male iu seinem Leben richtig angcpfiffen, daß dem och die Ohren sausten. Entweder bekam ihm das Klima icht, oder die Hitze, oder das Essen. Die Wette siel Materne plötzlich ein: seine Wette mit .m Kutscher Jean, die die Heiratsfrage betraf. Sollte cr Marquis am Ende...? Ach, Unsinn! Materne sehnte sich nach Hause zurück, »ach seinem .ihlcn Zimmer, der Küche, dem ganzen geordneten Leben, ein Rußbaum — und seiner Frau; ja, auch nach der. Penn er die Augen schloß, sah er im Geist das alles vor ch, lauter freundliche Bilder. Es war so still rings um 'n, das; diese Bilder mählich in ein Träumen übergingen, nd Materne schlief ein. Plötzlich fnhr er auf: wieder hatte ihn diese ver- nnschte Tonne geweckt, die rücksichtslos auf sein Gesicht hien. Er fluchte leise, blinzelte ins Licht, rieb sich die igcn und stand auf. Vor ihm stand Colettes Mnttcr: Frau Latour. „Wo ist der Marquis? Ja, ja, ich bin eben an- ciommcn. Ich suche den Marquis. Er ist nicht da." Matei ne war völlig traumbesangen und verwirrt und begann zu stottern. In diesem Augenblick kam Colette ans den Hotcl- ingang zu. Louise Latour eilte ihr entgegen. „Colette, mein Kind! Wo ist Onkel Theodore? Ich wollte euch überraschen. Meine Kösser sind am Bahnhof. Man muß sic holcn lassen. Wo ist der Zettel?" Tie umarmte Colette und kramte in , ihrer Tasche nach dem Gepäckschein. Endlich sand sic ihn. „Warum hast du nicht geschrieben, Alaina?" fragte Colette. Erstens halte Frau Latour cs nicht vorher gewusst, daß sie fahren würde, sic hatte sich ganz plötzlich entschlossen und nnn war sic cbcn da, obgleich sie um ein Haar den Zi»g versäumt hätte. Zweitens sollte cs eine Uebcr- raschnng sein. Und dann hatte sic im Zuge unterwegs ein Ehepaar tenncngelernl, reizende Menschen, die nach Italien gereist waren, was ein Jammer war, denn nm liebsten hätte Frau Latour sic mit hicrhcrgcbracht. Materne sollte übrigens auspassen, wenn er jetzt ihre Kösser von der Bahn Holle, die Hntschachtel schlösse nicht richtig nnd ginge immer ans, da siele leicht alles heraus; und der große Kösser, der mit den Lederriemen, sei sehr schwer, sic hätte ihn eigentlich gar nicht erst mitnchmcn wollen, aber der andere wäre eben doch schließlich zu klein ge wesen, denn sie brauchte ja doch Kleider, nicht wahr? Sie hätte das rote Kleid mitgenommen, weil das schwarze gerade bei der Acnderung war. Die Schneiderin haste sie natürlich wieder einmal sitzengelassen, wie konnte inan das auch anders erwarten? Und jetzt wollte sie sogleich nnd ans dem schnellsten Wege Carmen Casini kcnncnlcrnen, nnd Eccil natürlich anch. Sic sei ja so nengierig nnd gespannt. Und abermals schloß Frau Latour Colette gerührt in die Arme. Tie gingen hinein. Es ergab sich gottlob, das; ein lcid- ! lichcS Zimmer sür Frau Latour vor kurzer Zeit frei gc- ! worden war. Materne trottele davon, um die Koffer zu holen. Dann kam er beladen zurück. Colette hals ihrer Mutter beim Umkleiden. Lonisc Latour war da! * Little Vit hatte seine Ersparnisse angcgrifscn, nm sstq eine Karte für die Vorstcllnng des Films „Die MaSke des Nnhms" zu erstehen. Tagelang vorher hatte cr den Portier um Urlaub sür diese Zeit gebeten und heimlich gezittert, das; »och etwas dazwischcnkommen könnte. Er hatte ihn bekommen. Jetzt sas; er blaß, erwartungsvoll imd aufgeregt nnf seinem Platz und harrte der Tinge, die da kommen sollten. In den Händen hielt cr krampfhaft seine Eintrittskarte fest, als fürchtete cr, sic könne ihm jetzt »och entrisse» werden. Das Programm hatte er natürlich auch gekauft, es steckte in seiner Tasche; er würde es mit nach Hause nehmen und aushebcii. Ob cr wohl auch einmal den Mnt ausbrtngcn würde, Carmcn Casini um ein Autogramm zu bitten? Vielleicht, wenn sie jetzt hicrhertam. Das Kino füllte sich ziemlich schnell. Es war das grösste Kinothcatcr in Les Tapins, aber das wollte nicht viel heißen. Es war ein rechteckiger, himbeerrot gepolsterter Raum mit einer kleinen golden und weiß verzierten Galerie aus halber Höhe, von der der Ttnck stellenweise abgeplatzi war, nnd die großartig als „Rang" bezeichne» wurde. Darauf befanden sich die „Logen" <Zor,s. folgt)