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— 207 - Nuclis erste Schlittenfahrt. Von Oskar Bergien. Immer stand er — mal da, mal dort — am Wege, wenn wir, den Berg her unterkommend, vorbeiflitzten und sah' uns sehnsüchtig nach. Et hatte keinen Schlitten, der Rudi; seine Eltern hatten das Geld nicht für einen solchen. Er tat mir leid, wenn ich ihn so stehen sah, aber ich selbst hatte auch keinen Schlitten-; meine Elter« konnten mir auch keinen kaufen. Ich wurde nur mit genommen, mal hier, mal dort. Einmal bat ich den Heini: „Nimm ihn doch auch einmal mit, den Rudi, ich sehe dafür aus. Doch der Heini tat es nicht. Er meinte, ich könne auch gut fahren, aber der Rudi? Und deshalb nähme er eben nur mich mit, die wir vom Tannenbaum „gepflückt" hatten, durften gespenstisch flackern. Und dann ging's los: Stürmisch bewegte Zwiegespräche im Höllental wurden unterbrochen von dem Zischen, Fauchen, Heulen und Toben der Hexen, die von Berg zu Tal und wieder zu Berg fuhren. Nachdem der Nacht wächter „ein Uhr" gerufen hatte, sollten Hexen und Teufel unter Stöhnen, Jam mern und dämonischem Gelächter zur Hölle fahren. Aber es kam nicht zum großen Schlußeffekt! Lieschen, unser Dienstmädchen, das wie die Eltern keine Ahnung hatte, daß wir in der erst am Vormittag peinlich gesäuberten „guten Stube" unser Wesen trieben, erschien und wollte plötzlichen Besuch herein lassen. Oh Schreck! Sie drohte uns wahrhaftig mit dem Besenstiel und keifte schlimmer als unsere Hexen auf dem Blocksberg. Unbarmherzig warf sie Bau und Hexen, Tod und Teufel und ausge pustete Weihnachtslichtlein bunt durch einander, und weinend zogen wir mit unserem Theater in die Verbannung. Sehr oft haben wir aber später noch mit unserem Theater friedlich gespielt und viel Freude daran gehabt. Ja, in der Erinnerung scheint es mir, als sei es mein schönstes Spielzeug gewesen. Ich vergaß ihn dann wieder, den Rudi. Machte mir keine Gedanken mehr um ihn. Ich war glücklich, daß ich nicht auch am Wege zu stehen brauchte und freute mich über unseren Schlitten — es war ein ganz neuer — und über die herrliche Bahn. Und rodelte, vor Freude laut „Juchhe" rufend, ein übers andere Mal die fast zwei Kilometer lange Strecke ab. Doch da — ich sah den Rudi wieder. Im Vorbeijagen. Wie sehnsüchtig er guckte und wie unsagbar traurig. Wie leid er mir tat! Da — ich hatte mich umgedreht, ganz vergessen, daß ich auf einem dahin sausenden Schlitten saß — da — bums! — lag ich unten. Ich kollerte eine Weile über die glatte Bahn, und dann blieb ich im Schnee liegen. Da war Rudi auch schon bei mir. „Hast dir Weh getan? Sag', hast dir Weh getan?" dannt beugte er sich über mich. Ich konnte nur mit dem Kopfe nicken» denn alle Rippen taten mir Weh. Und ich fing an zu heulen. Rudi sorgte sich wie eine Mutter um mich, während die anderen, die mit ihre« Schlitten wieder vom Tal herauf kamen» vorbeizogen. Da wußte ich, daß ich in Rudi eine« guten Freund, gefunden. Nach einer Weile konnte ich dann wie der aufstehen und Schmerzen hatte ich auch fast keine mehr. Da sah ich einen, der mit seinem Schlitten jetzt erst von zu Hanse kam» einen Apfel essen und kriegte auch Hun ger nach einem solchen. „Hast du noch einen?" fragte ich ihn» denn wir nannten uns Freunde. „Nä," meinte er. „Lüg' doch nicht," schrie der Rudi das und zeigte auf dessen Hand. Ja — er hatte noch mehr Apfel, aber er gab keinen her. Da sagte Rudi zu mir: „Wart' — ich hol' dir eine«, ich hab' noch einen zu Hauke," und eh' ich mich's versah, war Rudi auch schon verschwunden. Nach einer Weile kam er dann keuchend! z«rück. „Da," sagte er, „den hab' ich vorige Woche geschenkt gekriegt. Wollt« ch« «och ei« hchchen verwahren,"