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— 202 — durch den Sinn, das Tierlern möchte sich verletzt haben und nun nicht mehr laufen können. Und richtig, so war es auch. Das Reh versuchte aufzustehen, als Hansel jetzt vorsichtig durch die Zweige kroch, aber kraftlos fiel es auf seine Beinchen zurück und bot ein Bild hilf losen Jammers. Der Knabe kniete neben dem Tierchen nieder und streichelte es zart, sah auch, daß das Reh schon das ganze Moos auf dem kleinen grünen Fleck abgefressen hatte, sicher hatte es schon länger hier gelegen, hilflos und elend und litt Hun ger. Hans war ein mitleidiger, aber auch ein kluger Knabe. Er wußte sofort, daß er das Rehlein, so gern er dies getan hätte, nicht mit nach Haus nehmen durfte. Denn der Förster hatte schon einmal arg gescholten mit einem Schul- knabcn, der ein angeschossenes Häslein mit in seinen Kaninchenstall gesetzt hatte. Aber der Förster, der schon ein zahmes Reh besaß, würde wohl am besten wissen, wie er dies Tierlein heilen könnte. Ja, aber wie sollte das Reh jetzt znm Forsthaus kommen, Hansel mußte doch zur Patin, wo er sein Christkiiidlcin empfangen durfte! Da kam der Kleine in Not. Hier lag das hilflose Reh, das schon ganz matt schien-und den Hansel mit seinen schö nen, traurige» Angen anstelle: Hilf mir doch! und auf der anderen Seite lockte der Gabentisch bei der Patin, die er be stimmt heute nicht mehr erreichen würde, wenn er das Reh zu der fern- gelegenen Försterei trug. Vorerst kam ihm ein guter Gedanke. Er sprang zu der Waldlichtung hinüber, wo, wie er wußte, die große Wildfntter- stelle war. Dort raffte er einen Arm über oen ferne» zog schon die ointerliche Dämmerung herauf da Takte Hansel, einen dicken, roten Woll- chal umgeschlungen, durch die beschnei en Tannen. Der Weg, den er entlang- ichritt, kam vom Dorf herauf, das tief »unten wie ein Spielzeug aus Zucker m Tale lag. Hansel aber sollte heute, im Heiligabend, zu seiner Patin kom- nen, die drüben im Nachbardorf wohnte »nd ihm bestimmt ein paar nette Christ- ,eschenke aufbauen wollte, da die Mutter mmer kränklich war und nur wenig Seid zu unnützen Ausgaben übrig »hielt. Wie der kleine Bursche nun so durch icn Schnee dahinstapfte, ging es ihm »urch den Sinn, was die Patin ihm vohl bescheren möchte! Gar zu gern )ätte er ein dickes Buch gehabt, in dem illerlei schöne Geschichten standen. Von »r Mutter hatte Hansel nur hier und m einmal ein paar Bilder oder eine Ge schichte aus einem Kinderblatt erhalten, klber die Kinder in der Schule, die einen Onkel oder eine Tante in der Stadt be- äßen, hatten oft schöne Märchenbücher zeschenkt bekommen. Plötzlich blieb Hansel stehen. Durch ne Stille des Waldes hatte er deutlich -in Knacken im Gezweig vernommen, furchtsam war Hans gar nicht, vielleicht lesen die Krähen im Holz herum. Aber ,a war das Knacken wieder, und noch :inmal lauter. Jetzt hielt es den kleinen Neugierigen nicht mehr, er bog mit den rotgefrorenen Händen die Schneezwcige auseinander und spähte ins Gebüsch. 'Da lag auf einem winzigen Moosflcck rm kleines Reh, das sorglich seinen Vor derlauf beleckte und ängstlich zu dem BuLen hinüberäugte. Hansel ging es