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Veilage zur „Weißeritz-Zeitung" 100. Jahrgang Dienstag, am 18. September 1934 Nr. 218 Abrechnung mit Sowjet - Rußland Warum die Schweiz gegen die Ausnahme stimmt Genf, 18. September. Nur selten hat man in Genf eine Spannung erlebt wie am Montag, als die Sitzung des Politischen Ausschusses durch den Präsidenten Madariaga eröffnet wurde. Auf der Tagesordnung des Ausschusses steht die Prüfung des Ein tritts der Sowjetunion in den Völkerbund. Der Andrang aus allen Kreisen der in Gens zur Völkerbundstagung ver sammelten internationalen Welt war ungeheuer. Die Trep pen und die Gänge des großen Sitzungssaales waren voller Menschen. Als erster Redner sprach der portugiesische Außen minister DaMata. Er begründete mit deutlichen, aber vor sichtigen Worten die ablehnende Haltung seines Landes. Da Mata erklärte, daß der Eintritt Sowjetrußlands im Gegen satz zu den Ideen der zivilisierten Welt und im Gegensatz zur Idee des Völkerbundes stehen würde. Er sei überzeugt, daß die Sowjetunion nach ihrem Ein tritt jene Propaganda noch wirksamer gestalten könne, deren Ziel es sei, die Grundlagen der Staaken zu zerstören. Noch stärkere Beachtung als die Erklärung des portu giesischen Delegierten fand die anschließende große und mu tige Rede des schweizerischen ersten Delegierten, Bundesrat Motta. Er begann mit der Feststellung, daß die Schweiz sich mit ihrer Ablehnung im Gegensatz zu der Meinung der großen Mehrheit der Delegationen und auch in Gegensatz zu den erklärten Wünschen dreier großer Mächte gesetzt habe. Die Haltung seines Landes bedürfe daher einer Erklärung. Die Schweiz sei stets eine grundsätzliche Anhängerin der Universalität des Völkerbundes gewesen. Schon im Jahre 1920 habe er persönlich dem Wunsch Ausdruck verliehen, daß Rußland einmal, geheilt von seiner Besessenheit und befreit von seinem Unheil, mit dem Völkerbund zusammenarbeiten werde. Die Schweiz habe bei aller Freundschaft zum rus sischen Volk aber niemals das gegenwärtige Regiment an erkennen wollen. Sie sei entschlo jen, auf dieser Haltung der Ablehnung und des Abwartens u beharren. Sie habe nicht vergessen, daß die schweizerische GejandtsciMft in Petersburg im Jahre 1918 geplündert und einer ihrer Beamten ermor det worden sei. Niemals habe man sich deswegen entschul digt. Im Jahre 1918 hätten sowjetrussische Agenten in der Schweiz sich an einem Versuch des Generalstreiks beteiligt und hätten ausgewiesen werden müssen. Die Schweiz habe sich schon deshalb entschließen müssen, den Eintritt Ruhlands ihrerseits abzulehnen, als eine Ja- Stimme gleichbedeutend mit der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen sein mühte. Motta stellte dann die Frage, ob eine Regierung, deren Wesen der expansive und kämpferische Kommunismus sei, die notwendigen Bedingungen erfülle, um in den Kreis der Bölkerbundsmächte ausgenommen zu werden. Man müsse hierbei schon von dem eigentlichen Zweck des Völkerbunds paktes und den ihm zugrundeliegenden Ideen ausgehen. Der russische Kommunismus, so stellte Motta fest, be deutet — aus dem Gebiete der Religion, der Moral der Ge sellschaft, der Politik und der Wirtschaft — die gründlichst« Verneinung aller Ideen, auf denen unser Wesen und uns« Leben beruht. Die meisten Staaten verbieten ja vorweg die kommunistische Propaganda. Alle aber betrachten sie es als Staatsverbrechen, sobald sie ihre Theorie in die Tal umzusehen versuche. Der Sowjekkommunismus bekämpfe die religiöse Idee, die Gewissensfreiheit und löse die Zamilienbande auf, ver werfe die individuelle Initiative, unterdrücke das Privat eigentum, organisiere die Arbeit in Formen, die kaum von Zwangsarbeit zu unterscheiden feien. Dabei erhebe der Kommunismus den Anspruch aus die Durchsetzung in der ganzen Welt. Sein Ziel sei die Weltrevolution. Wenn er darauf verzichte, verleugne er sich selbst, wenn er ihm treu bleibe, werde er der Feind aller. Der Redner schloß mit dem Hinweis, daß er versuch! habe, die Stimme der gewaltigen Mehrheit des Schweizer Volkes sprechen zu lassen. Er wolle nicht anderen eine Be lehrung erteilen-, er habe Wert darauf gelegt, frei zu sprechen. Das Schweizer Volk werde die Entscheidung mit ruhigem Blute und der guten demokratischen Disziplin ent- gegennehmen, die seiner vielhundertjährigen Ueberlieferung entspricht. Es sei ja auch nicht verboten, darauf zu hoffen, daß di« Zusammenarbeit Sowjetrußlands im Schoße des Völkerbun- des eine Entwicklung fördere, dis für alle und für Moskau selbst wohltuend werde. Die Regierungen Frankreichs Großbritanniens und Italiens hätten dem Bundesrat solch« Anschauungen zur Kenntnis gebracht. Aber wenn die Schweiz auch die Gesichtspunkte der Großmächte verstehe, so müss« sie doch notwendigerweise ihrem eigenen inneren Gesetz soll gen. Der Opportunismus könne für die Schweiz nicht in Be tracht kommen-, sie könne mit anderen Staaten nur im stren gen Bemühen um sittliche Größe wetteifern. Die Bundesregierung könne nicht an die Entwicklung des bolschewistischen Regimes glauben. Rei allen patriotisch un national gesinnten Schweizern herrsche der Eindruck, daß der Völkerbund etwas Gefährliches unternehme, wenn er Wasser und Feuer versöhnen wolle Wan könne der Sowjet union, trotzdem sie aufhöre, den Völkerbund zu beschimpfen, trotzdem nicht trauen. Nunmehr seien -die Würfel gefallen, und die Schweiz zähle daraus, daß alle anderen Staaten in Genf verhindern würden, daß Gens ein Herd zersetzender Propaganda wird. Sodann sprach der Redner die Hoffnung aus, daß auch nach der Aufnahme der Völkerbund die Unabhängigkeit Geor giens, das Schicksal Armeniens und der Ukraine und anderer Länder im Auge behalten werde, und daß man von den Somjetvertretern im Namen des menschlichen Gewissens Aufklärung verlangen werde. Die Rede Mottas wurde von einem großen Teil der Delegierten und der Tribüne mit starkem demonstrativem Beifall ausgenommen / - Nachdem der belgische Ministerpräsident Jaspar, der holländische Außenminister de Graeff und der erste Dele gierte Argentiniens, Cantilo, ebenfalls ihre Bedenken und Einwände gegen die Ausnahme der Sowjetunion dargelegt hatten, versuchte der französische Außenminister Barthou, vor einer zum Teil sehr kritischen Versammlung die franzö sische Haltung im Hinblick auf den Eintritt der Sowjetunion zu verteidigen. Es war bezeichnend, daß der französische Außenminister gezwungen war. wiederholt auf die Erklä rung Sowjetrußlands in dessen Antwort auf die Einladung der Völkerbundsmächte zurückzukommen, in der die Russen sich verpflichteten, sich den Bestimmungen des Völkerbunds paktes zu unterwerfen. Eden als Vertreter Großbritanniens brachte die Zu stimmung seiner Regierung zur Aufnahme Sowjetrußlands in den Völkerbund in nüchternen Worten zum Ausdruck. Aloisi gab für Italien eine ganz kurze Erklärung ab, in der er feststellte, daß sein Land den Standpunkt Frank reichs und Englands teile. Der polnische Außenminister Beck stimmte ebenfalls dem Eintritt Sowjetrußlands zu. Der tschechoslowakische Außenminister Benesch gab der Meinung Ausdruck, daß ein so wichtiger Teil Europas nicht außerhalb des Völkerbundes bleiben dürfe. Die Tsche- choflowakei sei bereit, loyaler Weise mit Sowjetrußland zusammenzuarbeiten. Der kanadische Ministerpräsident Bennett beklagte sich über die Propaganda der Dritten Internationale in Kanada erklärte aber, daß sein Land trotzdem im Interesse des internationalen Friedens für die Zulassung Sowjetruß lands stimmen werde. Der türkische Außenminister TewfikRufchdi Bey sprach für Rußlands Aufnahme, in der er in jeder Bezie hung einen Vorteil erblicke. Die Abstimmung Madariaga erklärte für Spanien die Zustimmung zur Aufnahme Sowjetrußlands und schlug eine Entschlie ßung vor, in der zum Ausdruck gebracht wird, daß die Sechste Kommission in Erwägung der an Rußland durch vierunddreißig Staaten ergangene Einladung und in Wür digung der russischen Antwort, in der die Sowjetunion sich zur Erfüllung der für alle Völkerbundsmächte geltenden internationalen Verpflichtungen bereiterklärt, der Vollver sammlung die Aufnahme Sowjetrußlands in den Völker bund empfiehlt. Diele Entschließung wurde in namentlicher Abstim mung mit 3S Ja- Stimmen gegen A Rein-Stimmen und bei 7 Stimmenthaltungen angenommen. Dagegen stimten die Schweiz, Portugal und Holland; der Stimme enthielten sich Argentinien, Belgien, Kuba, Luxemburg, Nicaragua, Peru und Venezuela. Außerdem waren bei der Abstimmung nicht anwesend Finnland, Pa- nama, Paraguay und Siam. Der Balten-Palt Die Aussichten für das Zustandekommen des Ostpaktes haben sich vor allem durch die ablehnende Stellungnahme Deutschlands und ebenso durch den überraschenden polnischen Vorstoß in Genf überaus ungünstig gestaltet, so daß man selbst in den Kreisen, von denen die Paktpläne ihren Aus- gang genommen haben, immer mehr mit dem Scheitern die ser Paktoerhandlungen rechnet. Inzwischen haben die bal tischen Staaten, die ebenfalls als Teilnehmer für den Ost pakt vorgesehen sind, dieser Tage für sich ein politisches Ab kommen abgeschlossen. In Gens wurde von den Außenmi nistern Lettlands, Estlands und Litauens ein „Vertrag über das Einvernehmen und die Zusammenarbeit der drei balti schen Staaten" unterzeichnet, wonach die beteiligten Regie rungen sich zur engen außenpolitischen Zusammenarbeit und vor allem zu einheitlichem Auftreten gegenüber dem Aus lande verpflichtet haben. Der abgeschlossene Vertrag ist da durch gekennzeichnet, daß er sich nur auf die den drei Staa ten gemeinsamen, nicht auf die sogenannten spezifischen Fragen d. h. die außenpolitischen Sonderprobleme der einzelnen Staaten bezieht. Die Beschränkung des Abkommens auf die allgemeinen Fragen war auf Grund der leit Monaten betriebenen Verhandlungen zu erwarten. Die diplomatischen Besprechungen hatten gezeigt, daß die litauischen Wünsche nach einem Pakt der gegenseitigen Hilfeleistung nicht zu er füllen waren. Hätten Riga und Reval einer vorbehaltlosen Vereinheitlichung der auswärtigen Politik der drei Länder zugestimmt, «so wären sie wohl oder übel in so heiklen Pro blemen wie der Wilna» und Memelfrage zu schwierigen und möglicherweise weittragenden Entscheidungen gezwun gen worden. Ende August gelang es dann, einen Vertrag zu paraphieren, der diele „spezifischen Fragen" der einzelnen Staaten ausdrücklich von den gemeinsamen baltischen Fra gen absonderte und damit eine Einigung über einen enge ren Zusammenschluß ermöglichte. Der baltische Pakt, der auf die Dauer von zehn Jahren abgeschlossen ist, enthält weder militärische Abmachungen, noch sieht er eine Regelung und Vertiefung der wirtscAft- lichen Beziehungen der beteiligten Länder vor. Immerhin wird er von den verantwortlichen Kreisen der drei baltischen Staaten als ein großer Erfolg gewertet. Man weist hier daraus hin, daß ein Bündnis zwischen den baltischen Staa ten nicht eine einfache Summierung ihrer Kräfte bedeutet sondern unter Umständen weit mehr lein kann. Man hofft, daß man die Politik der Baltenstaaten nicht mehr so einfach Kurze Notizen In Breslau, wo er zum Besuch bei einem Breslauer Universitätsprofessor weilte, ist der Generalstaatsanwalt beim Berwaltungsgericytshof in München und frühere bayerische Justizminister Dr. jur. Christian Roth einem Herzschlag er legen. , Einer der Führer des österreichischen Republikanischen Schutzbundes, General Schneller, wurde gegen Ehrenwort auf freien Fuß gesetzt. Er befand sich seit dem 12. Februar in Haft. General Schneller, der seinen Titel noch von der alten Arme« her hat, gehörte dem sogenannten „General stab" des Republikanischen Schutzbundes an. wird übergehen können wie im Frühjahr dieses Jahres, als Sowjetrußland, ohne sich mit dem baltischen Hauptstäd ten in Verbindung zu setzen, sich um die „Sicherheit" die ser Staaten zu sorgen begann. Namentlich bei der aktuel len Frage des Ost-Paktes werden die baltischen Staaten Gelegenheit haben, gemäß dem neuen Vertrage ihre ge meinsam« Stellung zum Ausdruck zu bringen. Bekanntlich haben vor allem Estland und Lettland ihre Entscheidung in dieser Frage von dem Verhalten Deutschlands und Polens abhängig gemacht. Ihre bisherigen Erklärungen ließen dar aus schließen, daß sie bereit seien, dem Ost-Pakt, nament lich in ihrem Verhältnis zu Sowjetrußland und Polen, bei zutreten. Da nicht mehr zu zweifeln ist, daß neben Deutsch- land auch Polen den Ost-Pakt ablehnen wir-, dürfte die Entscheidung der Baltenstaaten — Litauen hat sich von vornherein zum Beitritt zum Ost-Pakt bereit erkärt — von schwerwiegender Bedeutung für die zukünftige Politik der Baltenstäaten werden. In polnischen Kreisen hat der Abschluß des baltischen Paktes nicht überrascht. Der Pakt kann für Polen in keiner Weise gefährlich werden, da es in Artikel 3 ausdrücklich heißt, daß die spezifischen Probleme der einzelnen Staaten der Vereinbarung nicht"unterliegen. Gerade in der Wilna- Frage also bleibt Litauen weiter auf sich allein gestellt und kann auch nicht auf die Hilfe der beiden anderen Staaten rechnen. In Genfer Kreisen ist es aufgefallen, daß un mittelbar nach der Unterzeichnung des Vertrages der pol nische Außenminister Beck mit den Delegierten Estlands, Lettlands und Finnlands eine Zusammenkunft hatte, wor aus geschlossen wird, daß Polen sowohl wie auch Finnland die Möglichkeit eines Beitritts zum Balten-Pakt in Erwä gung ziehen könnten. In Litauen sieh« man deshalb die polnisch-deutsche Verständigung namentlich nach dem pol nischen Vorgehen in der Minderheitenfrage als eine Beein trächtigung der litauischen Interessen an und befürchtet, daß zwischen Polen und Deutschland auch die Memelfrage zum Gegenstand von Verhandlungen gemacht werden könnte. In Frankreich ist das Zustandekommen des Balten-Pak- tes mit lebhaftem Beifall ausgenommen worden, und man hat das baltische Bündnis vor allem als eine starke Rück wirkung auf vie französischen Pläne im Osten begrüßt. Man hat sogar diesen Vertrag in eine Reihe mit dem Bünd nis der Kleinen Entente zu stellen versucht und darin «ine Vorb«reitung für eine Anpassung an den kommenden Ost- Pakt erblickt. Es braucht nicht besonders betont zu werden, baß alle diese Vermutungen weit über das Ziel hinausge hen, da das Abkommen oer Balten-Staaten ja nur eine! Vorstufezu einem eventuellen baltischen Staaten bund darstellt, Ler aber nicht eher verwirklicht werden kann,! bevor die strittigen Wilna- und Memelfraaen ein« endgül»! tige Regelung gefunden haben. Die Tatsache, daß die russische Oeffentlichkeit zu diesem Balten-Pakt bisher kaum Stellung nimmt, scheint zu be weisen, daß di« Ding« in den baltischen Staaten sich nicht ganz nach der Richtung der russischen Wünsche entwickeln. Zum mindesten äußert sich in dem Zusammenschluß dieser drei Balten-Länder das Streben, sich gegen yewisse Absichten einzelner Großmächte zu einheitlicher politischer Meinungs bildung zusammenzufinden. Deutschland kann solche Be strebungen nur begrüßen, wenn damit der Wille seinen Ausdruck erhält, sich von der Bevormundung bestimmter Staaten, nicht zuletzt in der Vertretung der Bölkerbundspolitik. frei zu machen. Denn zweifellos lieat dieser Balten-Pakt nicht in der Linie, die Frankreich mit seinem Nordost-Pakt unk» den anderen Pakten zur Einkreisung Deutschland im Auge hat. Sraalreich droht Pole« und willst du nicht mein Bruder sein ... Paris, 18. September. Die Pariser „Republique" veröffentlicht eine scharfe Warnung an Polen und droht mit Sanktionen, falls War- schau nicht seinen neuesten Kurs wechsle. Das Blatt nennt als erste Sanktion, die Frankreich gegen Polen ergreifen könnte, die Rücksendung der 500 000 in Frankreich beschäf tigten polnischen Arbeiter, die der französischen Wirtschaft ohnehin nichts nützten, da sie olle ihre Ersparnisse nach Hause schickten. Als weiteres Druckmittel führt das Blatt die Kündigung des französisch-polnischen Handelsvertrages an. Frankreich benötige keineswegs polnische Kohle. , La; rassische Loll wird „aasgellört" Rur weil 30 Mächte den Beitritt Ruhland» wünschen! Moskau, 18. September. Jetzt erst erfuhr die Bevölkerung der Sowjetunion au» der Presse die Nachricht über den Beitritt der Regierung der Sowjetunion zum Völkerbund. Die gesamte sowjet ruffische Presse veröffentlicht nämlich eine Mitteilung, die die vom 9.—15. September geführten Verhandlungen über , den Beitritt Sowjetrußlands zum Völkerbund schildert. ,