Volltext Seite (XML)
Orkoberrecktggckutr: küok Türme «Verlag, blalle (Zaalo) 6j Nachdruck verboten. Lutz war der Sohn der Witwe Gärtner, deren kleines weißes Haus gleich unterhalb des Schlößchens lag, und Lutz war als großer Gymnasiast schon der beste Freund oes kleinen Mädchens gewesen. Das war er geblieben, und er war oft ins Schlößchen gekommen. Er studierte dann in Karlsruhe, wurde Ingenieur in Frankfurt an, Main; aber in den Ferien war er stets viel mit Doralics zusammen, und ihr Vater schüttelte manchmal den Kopf, wenn er beobachtete, welche Mühe sich der junge Mann, der schon anfangs der Zwanziger stand, mit dem halb wüchsigen Mädchen gab, um ihr alles recht zu machen. Damals versuchte er, die Freundschaft der beiden etwas cinzudämmen. Lutz Gärtner merkte das rasch und hielt sich offiziell zurück, heimlich aber suchte er die Gesellschaft des Mäd chens noch mehr. In dieser Zeit wurde er sich darüber klar; er liebte die blutjunge Doralics. Ihr Wesen, ihr Uebcrmut gefielen ihm von je, und wenn er sich von da an mit seiner Zukunft beschäftigte, spielte Toralies Wolfram die Hauptrolle darin. Leider gab es später ein Zerwürfnis zwischen den beiden Vätern. ! Als sich Lutz im vergangenen Jahre von der Mutter vor seiner Abreise nach Indien verabschiedete, hatte er auch von Doralics Abschied genommen und, von Trennungsschmerz bedrängt, das schmale Mädelchen an sich gerissen und geküßt Seine Frankfurter Firma, die einen Aiescnbrückenban in Indien zur Ausführung übernommen, hatte ihn als einen der Ingenieure mit dorthin geschickt. Nun stand seine Wiederkehr bevor. Drei Monats Deutschlandaufeiubalt waren ihm bewilligt worden, und er würde in der Zeit, während der er im Büro seines Chefs in Frankfurt arbeiten sollte, mehrmals hierher kommen. Doralics dachte nur an Lutz Gärtner und an das Wiedersehen mit ihm. Davor trat alles andere zurück, davor wurde alles winzig klein. Dafür nahm sie gern die freiwillige Ge fangenschaft im Schlößchen auf sich. Ter erste Brief aus Berlin an den Vater traf ein. Es war der erste von den beiden Briefen, die sie Regina gleich mitgcgebcn hatte, der bestimmt gewesen, wie andere nach ihm, dem Adressaten in die weite Welt nachzufolgen und den Empfänger nun gemütlich daheim in Mooshausen fand. Fritz Wolfram saß in seinem Arbeitszimmer und las den Brief, rief die Wirtschafterin. „Ich soll Sie grüßen von Toralies. Uebrigens lesen Sie den Brief an mich selbst. Viel steht nicht darin." Frau Hensel las: Lieber Vati Bin gut gelandet und quietschvergnügt. Frau von Stöbnitz ist reizend, ihr Mann auch. Berlin ist doch riesengroß, und Mooshausen kommt mir jetzt erst richtig klein vor. Ich wohne angenehm und ich hoffe, es geht Dir so gut wie mir. Alle grüßen! Es umarmt Dich herzlich Deine Doralies. Als ihm Frau Hensel den Brief zurückgab, meinte er lächelnd: „Eigentlich ist die einzige Weisheit, die Doralies verzapft, die große Neuigkeit, daß Berlin größer ist als Mooshausen. Ich hoffe, ihr nächster Brief wird ein bißchen gescheiter sein." Aber der nächste Brief, den Regina auch schon fertig mitgenommen hatte, war nicht viel gescheiter. In dem stand als Bemerkenswertestes: Der Wagenverkehr hier imponiert mir riesig. Staunenswert ist das! Er schrieb nach Berlin an Frau von Stübnitz: Doralies scheint mir Scheuklappen in Berlin herumzugehen, ich glaube, das Leben und Treiben dort verwirrt sie und macht sie ein bißchen begriffsstutzig. Frau von Stübnitz schüttelte den Kopf, als sie das las. Begriffsstutzig fand sie Doralies wirklich nicht — im Gegenteil, sehr getstesregsam. Sie sah und hörte alles, beobachtete genau und machte kluge Bemerkungen. Der dritte Brief befriedigte Fritz Wolfram schon mehr, den hatte aber auch Regina selbst geschrieben. Immerhin hatte sie sich Mühe gegeben, sich in die Schreibart von Doralies hineinzuversetzen. Regina war nicht wenig erschrocken, als sie durch die Depesche erfahren, Herr Wolfram hätte die Afrikareise aus- gegeben. Ein paar Zeilen vbn Frau Hensel, deren geistige Urheberin natürlich DoralieS war, gaben ihr jedoch wieder etwas Mut, auf dem Posten auszuharren, der ihr jetzt bedeutend gefährlicher schien. Doralies aber gab sich damit zufrieden; vorläufig ging ja alles glatt. Zu dem Entschluß, alles aufzuklüren, ver mochte sie sich nicht durchzurtngen. Auch ging das jetzt kaum, ohne Regina in die peinlichste Lage zu bringen. Sie hielt sich an das Wort, an das sich viele Feige klammern: Kommt Zeit, kommt Rall Fritz Wolfram ließ Frau Hensel auch den dritten Brief auS Berlin lefen und meinte schmunzelnd: „Das Müdel Hat doch was los. Wie sie jetzt Berlin beschreibt, daS s-efM mikl- Berta Hensel dachte, wenn Herr Wolfram nur ahnte, wer diesen Brief in Wirklichkeit geschrieben hatte. Zum Glück ahnte er es nicht. Eines Vormittags kam sic etwas atemlos zu Doralies, die faulenzend auf der Couch lag. Sie brachte die große Neuigkeit: Lutz Gärtner wäre tags zuvor angekommen; sie wäre ihm zufällig begegnet und hätte ihm natürlich das Geheimnis anvertraut. An dem Abend nach neun Uhr käme er in den Park durch die Hintertür, man solle die kleine Tür offen lassen. Doralies war schon bei den ersten Worten auf gesprungen. Ihr Gesichtchen, auf dem noch kurz zuvor ein etwas gelangweilter Ausdruck gelegen hatte, sah plötz lich ganz verwandelt aus. Strahlend vor Glück. Berta Hensel lächelte, weil sich ihr Liebling so freute; sie warnte: „Nun Vorsicht, Doralies! Dein Vater geht heute abend zum Skat zum Bürgermeister, gegen elf Uhr pflegt er, wie du weißt, zurückzukommen, und so selten er es tut, die Möglichkeit eines späten Spaziergangs durch den Park besteht." Doralies wehrte ab. „Wenn Vati vom Skat kommt, geht er immer gleich ins Bett. Außerdem werde ich schon vorsichtig sein!" Sie umhalste die Getreue. „Hänschens wie ich mich freue! Gar nicht zu beschreiben ist das! Lutz kommt! Verstehst du denn, was das für mich bedeutet? Ach, das kannst du ja nicht, Hänschen!" Sie sang leise den Schlagcrrcfrain eines Tonfilm liedchens: „Das glbt's nur eimual, das kommt nicht wieder, Das ist zu schön, niu wahr zu sein " „Bscht!" machte Frau Hensel energisch und legte den Zeigefinger der Rechten auf die Lippen. Doralies flüsterte glückselig: „Das gibt's wirklich nur einmal. Das wirklich! O Hänschen, Liebe ist unsagbar schön!" Ihre eben noch so übermütig blitzenden Augen waren von wundersam tiefem Glanz erfüllt. Regina Graven hatte den festen Vorsatz gefaßt, heim lich das hübsche Haus am Berliner Tiergarten zu verlassen und in einem Briefe die Wahrheit zu gestehen. Aber sie hatte den Mut dazu nicht aufgebracht, und nun war sie so weit, daß sie alles gehen ließ wie es ging und weiter nach den Abmachungen mit Doralies handelte. Sie dachte manchmal, sie hätte jetzt die Verwegenheit einer Aben teuerin, die immer weiter ging auf dem einmal betretenen falschen Wege, obgleich sie wußte, bet jedem Schritt drohte Gefahr, weil der Boden unter ihren Füßen nicht fest war. Sie hatte sich hier eingewöhnt und fühlte sich, trotz aller Angst, zuweilen so Wohl wie noch nie in ihrem bisherigen Leben. Fast zwei Wochen befand sie sich nun schon im Hause. Man saß bei Tisch, und Doktor Peter Konstantin nahm, wie öfter, an der Mahlzeit teil. Er saß Regina gegenüber, und das Gesprächsthema war ein nicht alltäglicher Kriminalfall. Ein Mord war geschehen, und im Mittel punkt des Anlasses dazu stand die ziemlich harmlose Lüge einer Frau. „Eine völlig überflüssige, chrtchte Lüge", äußerte sich Herr von Stübnitz. „Ohne diese Lüge wäre der Mord nicht geschehen. Kleine Ursachen, große Wirkungen." Er war der Verteidiger der Frau, die zur Mörderin geworden war, weil-sie eine Lüge hatte aufrechterhalten wollen, die, anfangs harmlos scheinend, sich zur Gefahr für sie ausgewachsen und sie schließlich zu dem Mord ge trieben hatte. „Lügen sind häßlich, und doch hat wohl ein jeder von uns schon allerlei gelogen", meinte Frau Edda. „Ich ver teidige die Lüge nicht; aber es handelt sich wohl hier um einen ganz seltenen Ausnahmefall. ES wäre ja grauslich in der Welt, wenn jeder, der mal gelogen hat, deshalb gleich zum Mörder werden müßte." „Natürlich nicht!" gab Konstantin zurück. „Aber wenn ich auch der kleinen Notlüge, die sich gesellschaftlich nicht einmal ganz umgehen läßt, nicht gerade harte Feindschaft ansage, stehe ich doch auf dem Standpunkt, es wird auch mit dem Wort Notlüge Mißbrauch getrieben. Die einzige erlaubte Lüge ist die .fromme Lüge', zu der man greift, um seinem Mitmenschen Kummer und Leid zu ersparen. Sinnlose Lügen aber sind in Grund und Boden verwerf lich. Menschen, die grundlos lügen, haben keinen guten Charakter — man soll sich vor ihnen hüten." Regina hielt die Augen auf ihren Teller gerichtet. „Ist das nicht ein wenig zu scharf, Herr Doktor? Es lassen sich doch eigentlich noch Unterschiede machen, und ganz grundlos lügen Halbwegs gescheite Menschen Wohl nie." Er zuckte die Achseln. „Natürlich, der Lügner glaubt immer Grund zur Lüge zu haben, und wenn man so denkt —" Er zuckte wieder die Achseln. „Vergebungsfreudige Menschen mögen anders denken; aber ich gehöre nicht zu ihnen. Außer frommen Lügen und allenfalls wirklich dringenden RöMgen lasst ich nichts gelten." . , Sie hob den Blich. „Wie können Sie mit den Ansichten dann die Frau verteidigen, deren Tat aus einer überflüssigen Lüge er- wachsen ist?" , Er lächelte: „Das ist Wohl ein anderer Fall. UebrigenS verteidigt sie Herr von Stübnitz — nicht ich. Herr von Stübnitz gehört in jeder Beziehung zu den Menschen, die für alles Verstehen haben — zu den Menschen, die dem Wort folgen: Vergebt, damit euch wieder vergeben werde." Er sah sehr ernst aus. „Ich bin vielleicht noch"zu jung, um mich ganz dazu durchzuringen. Mein Daheim war hart und streng, war freudlos, und' richtig benannt: puritanisch. Ich lernte die Lüge verabscheuen. Ich be kenne, wenn ich an einem Menschen, den ich gern hätte, eine überflüssige Lüge fände, er wäre für mich tot. Sonst aber zwingt mich mein Beruf zu einem gewissen Ver- ständnis. Theoretisch muß ich mich damit auseinander, setzen und tue es. Aber abseits von meinem Beruf bin ich in der Beziehung puritanisch eingestellt." Regina lächelte, aber das Lächeln saß krampfig-schmcrz- Haft um ihren Mund. Sie dachte in diesem Augenblick an ihren Traum. An den Mann mit der Halbmaske, der ihr den Talar umgehängt und sie geküßt hatte. Ein Traum war es nur. Was bedeutete ein Traum, auch wenn man ihn in der ersten Nacht in einem neuSn Heim träumte! Sie aß still weiter, aber sie mußte sich sehr zusammen- nehmen, um es tun zu können, und war cs doch gewöhnt, sich zusammenzunehmen, hatte das immer tun müssen. Die Eltern hatten das schon von ihr gefordert ist jüngsten Jahren, ihr kaltherziger Vormund und seine ebenso ein gestellte Frau waren darin noch weiter gegangen. Frau von Stübnitz meinte nach Tisch, nachdem Regina ihre Zimmer aufgesucht hatte, zu Doktor Konstantin: „Ich glaube, Sie haben Doralies moraliscb angerempelt, ohne daß Sie es wissen, lieber Freund!" Erfragte verwundert: „Wieso?" Sie erwiderte lächelnd: „Nun, das ist doch sehr einfach. Sie wissen, welcher Ruf Doralies vorausging. Ich meine, daß sie ihr Vater von Hause weggeschickt hat, weil sie manchmal Dinge tat, die schlecht zu einer jungen Dame passen. Glauben Sic aber, daß es da immer ohne ein bißchen Schwindeln abgegangen ist. Ausgeschlossen! Sie äußerten sich aber viel zu scharf. Ich bin auch keine Freundin der Lüge; aber man kann doch nicht mit dem Donnerkeil auf ein winziges Tierchen losschlagen, das im allgemeinen harmlos ist. Ich habe auch als junges Mädel ab und zu geschwindelt und tue das noch. Wenn mich zum Beispiel eine Bekannte einlädt, an deren Gesellschaft mir nichts liegt und zu deren Besuch mich nicht besondere Gründe zwingen, erkläre ich ruhig, an dem betreffenden Tage etwas Dringendes vor zu haben. Ich lüge ja auch> wenn ich mich zu Hause vor unliebsamen oder langweiligen Besuchern verleugnen lasse. Der Alltag zwingt oft zu kleinen Lügen. Wollen milde sein und diese kleinen Lügen Ausreden nennen. Doralies hat also bet ihren Streichen oft zu Ausreden greifen müssen, um Aerger zu entgehen. Und nun trumpften Sie so überscharf auf. Ich sah es ihr an, sie fühlte sich irgendwie getroffen und litt darunter." Peter Konstantin fragte langsam, mit nachdenklichem Gesicht: „Glauben Sie das wirklich, Frau von Stübnitz?" Sie neigte den Kopf: „Davon bin ich fest überzeugt." Er schwieg ein Weilchen, meinte dann ruhig: „Es sollte mir leid tun, wenn es so wäre, aber meine Ansicht wird davon nicht berührt." Herr von Stübnitz, dessen scharf herausgearbeiteter Charakterkopf mit dem ziemlich kurz geschnittenen Grau haar sich gegen die hohe Lehne eines Stuhles drückte^ mischte sich ein. „Ich bin auch kein Freund der Lüge. Aber wo kämen wir hin, wenn wir immer bei der Wahrheit bleiben wollten?! Oft wird durch eine Ausrede viel Streit und- Unannehmlichkeit verhütet. Ohne Ausreden kämen zu- weilen ganz tolle Dinge zustande. Und ich habe denselben Eindruck wie meine Frau. Sie sind, glaube ich, unserer Doralies tüchtig an den Wagen gefahren." Peter Konstantin bekanntest» bißchen j-ögernd: „DaS würde mir leid tun." Trau von Stübnitz nickte. „So gefallen Sie mir schon besser. Sie sind doch in» allgemeinen ein so froher, lebensbejahender, moderner Mensch, aber die puritanerhaften Grundsätze, nach denen Ihre Erziehung geleitet wurde, hängen Ihnen noch an. Da halte ich's lieber mit meinem Manne: Vergebt, auf daß euch wieder vergeben werde. Und Sie sind sonst so- ein fideles, gemütliches Huhn — verzeihen Sie den Aus druck —, Kleinlichkeit paßt nicht zu Ihnen." Sie fuhr fort: „Doralies gefällt mir von Tag zu Tag besser, und ich- muß gestehen, immer befremdender scheint eS mir, daß sie so ein Wildfang gewesen sein soll. In den zwei Wochen ihres Hierseins hat sie auch noch nicht den kleinsten Ansatz dazu gemacht. Nach meiner Meinung ist sie gut erzogen und sogar etwas zurückhaltend. Von der Keckheit threg Wesens, die ihr Vater besonders betont, hat sie noch nicht das Geringste gezeigt. Ich schrieb ihm das auch gestenr." Ihr Mann stimmte ihr zu: „Ein liebes, zurückhaltendes und bescheidenes, nie die Grenzen überschreitendes Mädel. Ihr Vater muß gar kein Verständnis für Jugend besitzen, jede Harmlosigkeit zum Uebermutsstreich gestempelt haben." Er setzte nachdenk lich hinzu: „Ich las gelegentlich einige seiner Romane und fand darin allerdings ein famoses Verständnis für, junge Leute." Er zuckte mit den Achseln: „In der ersten Zeit habe ich bei Doralies auch immer gedacht, das dicke Ende kommt nach; jetzt warte ich nicht mehr auf einen dummen Stretch von ihr. Doralies ist wie ihr AeußereSr, Geradlinig, zuverlässig; auch ist sie klug. Ich unterhielt mich mit ihr gelegentlich, weil eS sie zu interessieren schien, über juristisch Sachliche-, und sie äußerte dabei ganz ge scheite Worte." (Fortsetzung folgt.))