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Nachdruck verboten. Ganz neue Koffer waren eS, die Fritz Wolfram erst für die Reise seiner Tochter gekauft hatte. Mik ihrem eigenen abgeschabten Kösser schlich sich wohl ungefähr um die gleiche Stunde die echte Doralics heimlich in das Schlöß chen zurück, das an einem kleinen Hange des Städtchens Mooshausen in Württemberg stand. Nach ungefähr zwanzig Minuten Fahrt war das Ziel erreicht: eine breite Straße am Tiergarten. Ein etwas altmodisches .Haus von vornehmem Aussehen öffnete seine Pforte. Ein lautloser Diener in Schwarz nahm das Gepäck in Empfang, und verwirrt ließ sich Regina von einer schmalen, großen Dame auf beide Wangen küssen. Jetzt stellte sich der Hausherr vor. Er war auch groß, hatte graues Haar, leicht verschleierte Augen und eine verhaltene Stimme. Er grüßte: „Herzlich willkommen, liebe Doralies! Ich Hosse, Tie halten eine gute Rene." Regina besand sich in einer originell eingerichteten Halle, allerlei Altertümer stanven umher. Sie halte fast den Eindruck eines Museums. Frau von Stübnitz faßte sic unter und zog sie mit sich, wandte sich zuvor flüchtig an ihren Mann. „Verzeihung, Otto, ich will Doralies ihr Zimmer zeigen!" Sie führte sie eine Treppe hinaus und öffnete eine Tür vor ihr. Die Koffer stanven schon darin, und Regina blickte bewundernd, wie elegant und schön das Zimmer -in -.. Gattet war. Daß sic einmal so wohnen würde, hatte ü: i auch nicht träumen lassen. Die Möbel des Schlaf- zinuners waren in Heller Eiche, Vorhänge und Teppiche schimmerten mall-wcinrot; Vie Möbel des kleinen Salons, in den man durch eine offene Tür hineinschauen konnte, waren in stumpfem Schwarz und sattem Goldbraun ge halten. Frau von Stübnitz nahm Regina sacht den Hut ab. „Mach' es dir bequem, Doralies, bitte! Ich darf dich ooch ,du' nennen — nicht wahr? Wenn du magst, sag' Tante Edda zu mir, dadurch kommen wir uns gleich ein bißchen vertraulich näher — nicht wahr?" Regina zog den Mantel aus und neigte nur den Kopf. Sic hätte jetzt kein Wörtchen hcrausgebracht. Heiße Scham hüllte sie ein vom Kopf bis zu den Füßen. Mußte sie nicht zusammcnbrechen unter der Last der Lüge vor dieser Frau, die ihr so gütig entgegenkam. Als sie den Mantel lässig über eine Stuhllehne,legte, bebten ihre Hände. Edda Stübnitz bemerkte es und wunderte sich. Es schien ihr so gar nicht zu dem Charakterbild zu passen, das Fritz Wolfram von seiner Tochter entworfen hatte. Es raßte ebensowenig dazu wie der Blick der tief dunkelblauen Augen. Sie wunderte sich genau so wie Peter Konstantin darüber, wie sehr doch ost das Aeußere eines Menschen zu täuschen vermochte. Sie sagte freundlich: „Ich denke mir, liebes Kind, du bist von der weiten Reise ermüdet und verspürst kein be sonderes Verlangen mehr danach, noch nach unten zu uns >u kommen?" Regina atmete ein ganz klein wenig auf. Es dünkte sie in diesem Augenblick schon ein großes Glück, allein bleiben >u dürfen und unbeobachtet zu sein, denn die klugen Zrauenaugen irritierten sie sehr. Sie fühlte, wenn dieser rin wenig sorschende Blick noch lange auf ihr ruhte, müßte üc darunter zusammenbrechen und bekennen. Sie antwortete: „Ich wäre Ihnen dankbar, gnädige Frau, wenn Sie mich heute abend entschuldigen würden; ch bin wirklich sehr müde!" Frau von Stübnitz umfaßte sie lebhaft. „Mädelchen, du darfst mich doch nicht so steif betiteln and sollst mich mit ,du' anreden!" Ganz eng zog sie die Schlankheit an sich. „Bist doch meines lieben Jugend freundes Kind. Höre das kleine Geheimnis von einst: wir liebten uns, er und ich. Eine romantische Liebe war's, mir ein Hauch der Liebe, die wir brauchen für den Ge fährten, mit dem wir durchs Leben gehen wollen. Weißt vu, Kind, in den Zimmern ganz alter Damen riecht es wohl noch heutzutage nach getrockneten Rosenblättern und Lavendel — so ein sanfter, füher und verschollener Duft ist auch jene Liebe. Aber das -Töchterchen meiner ersten Liebe ist mir wert. Sollst immer Vertrauen zu mir haben, und für die gnädige Frau hat man das kaum so leicht wie für eine Tante Edda." Sie küßte sie auf die Stirn. »Drückt dich etwas, Mädelchen, du stehst beinah etwas ver- ängstigt aus! Bist schwer von daheim weggegangen — nicht wahr, DoralieS? Ich weiß, du hängst sehr an daheim, dein Vater schrieb mir das." Regina war kaum noch fähig, die Freundlichkeit und Süte, mit der man ihr entgegenkam, zu ertragen. Sie hauchte hervor: „Ja, ich bin schwer weggegangen, aber jetzt bin ich nur müde und —" „Und habe Hunger", ergänzte Frau von Stübnitz. „So ist es doch — nicht wahr?" Regina, froh, etwas über die Stimmung wegzu- kommen, die sie zu überwältigen drohte, antwortete rasch: „Ja, ich habe auch ein bißchen Hunger." Da lachte Frau von Stübnitz und ließ sie loS! „Ich schicke dir sofort etwas zu essen herauf, und dann schlafe dich gut aus, solange du willst. Wir frühstücken um acht Uhr, doch du kannst das Frühstück morgen auf dem Zimmer einnehmen. Sollst dich ganz allmählich und gemütlich hier eingewöhnen." Sie reichte ihr die Hand. „Gute Nacht, mein liebes Kind! Schlafe recht angenehm und merke dir,, was du in der ersten Nacht träumst. Was man in der ersten Nacht in einem neuen Heim trüumt, soll nämlich in Erfüllung gehen." Sie wies auf einen Klingelknopf an der Tür. „Wenn du etwas wünschest, brauchst du nur darauf zu drücken." Sie nickte Regina zu und ging. Regina blickte noch lange wie benommen aus die Weiße Tür, hinter der Frau von Stübnitz verschwunden war. Sie schluckte mehrmals heftig. Taumelnd schritt sie durch das Zimmer, empfand die Gediegenheit des Raumes fast feindlich. Sie ging hinüber in den Salon, in dem ver Lüster brannte, betrachtete scheu die schwarzen Schniymöbel, das glänzende Goldbraun der Jamtpolster und das Gleißen und Schimmern des wunder bar geschliffenen Venezianer Spiegels. Sie ließ sich auf einen Sessel nieder, krampfte die Hände um die geschnitzten Greiscnköpfe, die den Abschluß der Armstützen bildeten. In ihr war ein Chaos, in vem jeder klare Gedanke sofort versank. Wie schlecht kam sie sich vor, wie gemein! Durch die Ueberrcdungskunst von Doralies, den Wunsch, ver Freundin zu helfen, und ihre eigene Sehnsucht, einmal aus vem engen, kleinen Moos hausen herauszukommen, hatte sie zuletzt die Vorstellung von einem Abenteuer gehabt, das, wenn es später ge legentlich ans Licht käme, nur noch als Stoff zum Lachen dienen würde. Jetzt aber wurde ihr wieder erschreckend klar, daß zwar das Wort „Abenteuer" auf das, was sie getan hatte, paßte, aber in einem viel schärferen und un erfreulicheren Sinne. In einem häßlichen Sinne. Eine Frau wie Edda Stübnitz durfte man nicht belügen, und einen Mann wie den bekannten Verteidiger auch nicht. Sie hatte ihn nur flüchtig gesehen; aber hinter seinem verschleierten Blick lag Menschenkenntnis, und ver andere — wie hieß er doch, der sich sein Adjutant genannt hatte? Ach ja, Peter Konstantin. Und der hatte auch so durchdringende Augen. Die drei Augenpaare fürchtete sie schon jetzt, vor den drei Augenpaaren würde sie nicht lange bestehen können, die drei Augenpaare würden sie zwingen, zu bekennen. Sie schreckte hoch. Es hatte an die Tür geklopft. Sie rief mechanisch: „Herein!" Ein Mädchen in schwarzem Kleid und weißem Schürz- chen brachte ein Tablett mit Speisen. Sie grüßte und deckte gewandt den Tisch. Wundervolles Porzellan schimmerte, und das silberne Besteck legte sie würdig auf das Damkffttuch nieder, sich seiner Gediegenheit voll bewußt. Regina blieb etwas steif sitzen und sah zu, wie das Mädchen hantierte. »„Hat das gnädige Fräulein noch Wünsche?" fragte das Mädchen höflich. xRegina verneinte und erwiderte den Gute-Nacht-Grutz. Sie riegelte hinter dem Mädchen ab und verriegelte auch die Schlafzimmertür nach dem Flur zu. Dabei entdeckte sie einen Alkoven, der an das Schlaf zimmer stieß. Der Alkoven war als Badestube eingerichtet, und Regina dachte: Wie eine Prinzessin wohne ich hier! Wie Bedauern regte es sich in ihr, daß sie nicht hierbleiben durfte. Einem jähen Einfall folgend, ließ sie Wasser in die Wanne laufen. Dampfend floß es ein; ein kalter Strahl des anderen Hahnes kühlte das allzu heiße Naß. Regina entkleidete sich und genoß das Bad wie eine Erlösung. Es tat ihren erregten Nerven gut, beruhigte sie ein wenig. Es blieb ihr nun nichts übrig, als die Koffer zu öffnen, die doch Doralies' Eigentum waren. Sie fand einen weißen Pyjama mit blauem Besatz, und schlüpfte hinein. Dann ging sie in den Salon zurück. Ihr Appetit meldete sich plötzlich sehr stark beim An blick der guten Sachen, die für sie aufgetischt waren. Ein Schüsselchen gab es mit pikanten Vorspeisen, dann derben Landschinten und leckere Bratenscheiben. Eier und herr liche Trauben. Ein Glas Limonade dazu und ein kleines Glas mit Tokaier. Regina war jung und gesund, ihre seelische Ver zweiflung trat zunächst etwas zurück vor dem lockenden Anblick. Sie machte es sich am Tisch bequem und aß tüchtig. Sie hatte den ganzen Tag nichts genossen außer der Tasse Kaffee am Morgen, im Karlsruher Wartesaal. O wie das schmeckte, o wie das Wohltat! Das Gläschen Tokaier trank sie zuletzt, und der un gewohnte Genuß umnebelte ein bißchen ihre Sinne. DaS Bad, das gute Nachtmahl und das Gläschen Tokaier hatten ihre Angst beinah verscheucht. So gut wie hier hatte sie es noch nie gehabt. Sie gähnte herzhaft und schaltete das Licht aus, ging hinüber in das Schlafzimmer. Sie ließ das Nachttisch lämpchen aufleuchten und den Lüster verlöschen, dann legte sie sich ins Bett und zog die matt-weinrote, dicke Seidensteppdecke über sich. Jetzt muhte auch das kleine NächtNschlämpchen verlöschen, und^unWkef ÄeginaH^ schlief bald schwer und tief. Keinen einzigen Gedanken an das Abenteuer, in das st« sich gewagt hatte, nahm ste mit hinüber in ihren Schlag pnd der Traumgott kam auf leisen Sohlen und warf ihr einen der unzähligen Träume zu, die er bet seiner o^' nächtlichen Wanderung mit sich führte Unten, in einem zehr behaglichen Zimmer, hatte sich Edda von Stäbnitz zu ihrem Manne und Doktor Peter Konstantin gesellt. Die drei hatten ein Fläschchen leichten Mosel vor sich stehen und rauchten. Auch Frau Edda liebte eS, vor dem Schlafengehen eine Zigarette zu rauchen. Sie sagte eben: „Ein größeres Rätsel wie DoralieS Wolfram ist mir noch nicht vorgekommen. So wie ich ste sehe, paßt sie aber auch nicht im entferntesten zu dem Bild, das mir ihr Vater von ihr entworfen hat. Ihr Benehmen ist sehr höflich, ihre klassischen Züge zuweilen fast streng, die Augen haben seelische Tiefe. Es liegt etwas — wie soll ich mich ausdrücken — Verinnerlichtes über ihrem Aussehen und Wesen; ich kann sie mir beim besten Willen nicht auf den höchsten Besten eines Baumes vorstellen oder das Treppengelänver hinunterrutschend." Peter Konstantin strich leicht über sein braunes, zurvck- gebürstetes Haar. „Die Vorstellung ist einfach unmöglich." Otto von Stäbnitz meinte langsam: „Aber dein Jugendfreund muß seine Tochter doch am besten kennen, und wir, lieber Konstantin, haben wohl mehr als viele andere Gelegenheit, zu beobachten, wie sehr das Aeußere eines Menschen täuschen kann. Ich will Sie nur an einen ganz krassen Fc>.ll erinnern: Die dreifache Mörderin, die aussah wie eine hübsche höhere Tochter, die eben erst aus dem Lyzeum entlassen war." Peter Konstantin neigte zustimmend den Kopf, lächelte: „Jedenfalls bin ich gespannt, was sie hier zuerst anstellt; sowas kann ja ganz amüsant sein." Frau von Stäbnitz lächelte auch. „Heute war sie von ver Reise und der neuen Umgebung etwas verdattert; dazu gesellte sich Heimweh. Sie scheint sehr an ihrem Zuhause zu hängen. Ihre Augen waren feucht, und ihre Hände zitterten, als ich oben mit ihr sprach, und sie gab zu, Heimweh zu haben. Wenn sie sich erst hier heimisch fühlt, kommt wahrscheinlich ihre wahre Natur wieder zum Durchbruch. Aber sie gefällt mir gut, sie ist mir sympathisch." Ihr Mann nickte: „Ich sah sie nur flüchtig, aber ich glaube das unterstreichen zu können." Man trennte sich. Peter Konstantin wohnte ganz in der Nähe. * »! Die Nacht verging und der Tag zog herauf. Dte alte hohe Standuhr unten in der Halle holte siebenmal zum Schlage aus, da zuckten Reginas Lider hoch, und sie blinzelte, noch etwas schlaftrunken, in das mattgraue Tageslicht, das sich herbstlich-unfreundlich durch die nicht ganz dicht geschlossenen Vorhänge stahl. Im nächsten Augenblick war sie' sich darüber klar, wo sie sich befand, und zugleich legte es sich wie ein Alpdruck auf ihre Brust. Sie schloß wieder die Augen und dachte nach. Was sollte sie tun? Das einfachste wäre es wohl: die volle Wahrheit in einem Briefe zu gestehen und sich auf und davon zu machen. Es würde wohl keiner danach fragen, wo ste geblieben wäre, und Doralies, die Zungen gewandte und nie Verlegene, würde schon alles wieder einrenken. Sie aber befand sich wenigstens in Berlin und konnte ihr Heil versuchen, Arbeit zu finden. Ganz gleich als was. Sie mußte sich doch durchringen. Sie besaß ja außer den dreihundert Mart, die ihr Doralies gegeben hätte und die sie nicht angreifen durfte, wenn ste hier fortging, noch fünfzig Mart. Aber Doralies hatte ihren Koffer mitgenommen; sie tonnte sich doch nicht in das große Berlin hineinwagen ohne Sachen. Keine Wirtin würde sie ohne Gepäck aufnehmen. * Die Koffer von Doralies wollte sie sich nicht aneignen, das käme ihr wie Diebstahl vor. Und wie sollte sie auch mit irgendwelchem Gepäck aus dem Hause kommen? Sie sann und sann, grübelte und grübelte, sprang schließlich aus dem Bett — das Bad lockte. Erfrischt schlüpfte ste in ihr Kleid, das sie auf der Reise getragen hatte. Ihr bestes Kleid. Blaues Tuch mit blauem Samt schal. Es stand ihr sehr gut. Und als ste sich tm Spiegel besah, glitt ein ganz leichtes Lächeln über ihr Gesicht. Sie gefiel sich. Doch das Lächeln zerrann rasch vor den Selbst vorwürfen, mit denen sie sich belastete. „Schämen muß ich mich!" sagte ste laut, gegen das GlaS gewandt. Sie überlegte wieder, was sie tun sollte. Eigent lich war ste jetzt machtlos. Das einzige, was ihr zu tun möglich blieb, wäre das, Frau von Stäbnitz die volle Wahrheit zu gestehen. Sie wollte Mut dazu fassen, nahm ste sich vor. Tie empfand leichten Hunger. Eigentlich war es mehr Appetit auf anregenden Kaffee. Sie klingelte. Das Mädchen von tags zuvor erschien bald. Nahyl den Wunsch entgegen, erwiderte dann freund lich: „Frau von Stäbnitz bittet, falls das gnädige Fräu lein schon fertig und Lust dazu hätte, zum Frühstück htnunterzukommen." Regina dachte, da sie fix und fertig angekleidet war, das Mädchen würde das unten wohl sagen. Also mufne ste hinuntergehen. Sie nahm sich vor, nach dem Frühstück Frau von Stäbnitz um eine Unterredung zu bitten, ihr dte Wahrheit zu gestehen. Sie folgte dem Mädchen in das Eßzimmer, rechts von dem hallenartigen Eingang, und füyd das Ehepaar schon am Frühstückstische. Doch mutzten sich beide eben erst ntedergesetzt haben; es war noch lein' Kaffee eingeschenkt. (Fortsetzung folgt.)