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(82. Fortsetzung.) Mr den Latmenschen verliert das Gespenst Elend alle ! Schrecken, sobald er nur wieder VerantwoÄung auf seinen ' SchrUtern fühlt. So erging es Ellen Ehlers seit dem Tage ihrer ersten Tätigkeit hier draußen in der Fabrik für ätherische Oele. Sie stand gerade am Fenster, ihrem Lieblingsplatz, und beobachtete die Reagenz in einem kleinen Gläschen. Der weiße Labormantel hob ihre Schönheit zu berückender ! Süße und Lieblichkeit. Doch Ellen achtete darauf nicht, t Sie wollte ja nicht wie die Durchschnittsfrau wirken. l Schaffen wollte sie, schaffen — und täglich, wie jetzt, > hinunter in das Treiben des Wetters sehen können. „Sie möchten bitte in das Bisro kommen. Der Herr > Direktor verlangt Sie!" Eine fremde Stimme riß Ellen ! plötzlich aus ihren Betrachtungen. Ellen fuhr herum. Röte färbte ihre zarten Wangen. Wie ein Goldrahmen umgaben die hellblonden Locken das feine Oval ihres Gesichts. „Ich komme sofortI* sagte sie mit freundlicher Bereit- Willigkeit. Sie stellte das Reagenzglas auf den Ständer und ging mit leichten, federnden Schritten hinter dem ! Boten her. „HereinI Ach, Sie, Fräulein Ehlers l Ja — hören Sie mal — tut mir ehrlich leid. Doch — Sie müssen sofort j nach Hause gehen. Hml Hm! Sie müssen mich verstehen. Ich war mit Ihren Leistungen sehr zufrieden. An» - Weisungen vom Generaldirektor — sofort entlassen l" Der Direktor stotterte verlegen. Noch nie war ihm ein > Auftrag so schwer geworden. > Unerträglich schien es ihm, zu sehen, wie alle frohe Ahnungslosigkeit in dem schönen Mädchcngcsicht einer schmerzlichen Hilflosigkeit wich. So bittere Verzweiflung siand in den großen, reinen Kinvesaugen, vaß der Direktor sich erschüttert abwandte und auf seinen Schreibtisch starrte. „Entlassen — fristlos entlassens Warum?" Wie ein furchtbarer Schrei aus unendlich gequälter Brust kamen die Worte. Nebel wogten vor Ellens Augen. Nole, seltsame Nebel, die sich unablässig drehten - drehten So übel wurde ihr. Sie begriff nicht. „Sie werden alles Nähere erfahren, liebes Fräulein Eblers. Mehr kann ich im Augenblick nicht sagen." Die Worte des Direktors waren eine halbe Lüge, denn er glaubte selber nicht daran, daß die Generaldirektion einer Angestellten über ihre Anordnungen Rechenschaft geben werde. „Sie bekommen ja auch Ihr Gehalt aus ein halbes Jahr ausgezahlt. Gehen Sie nur — gehen Sie .. .' „Wer ist denn der Herr Generaldirektor? Vielleicht. . . Ich habe doch nichts getan. Ich war ja so froh und so dankbar. „Von Rätenius?" Nichts weiter mehr hörte Ellen als diesen Namen. „Von Rakenius...' Noch einmal wieder« holte sie ihn und preßte die Hand auf das unheimlich klopfende Herz. Kurze Zeit darauf schritt sie an dem Portier vqrbei, eine Aktentasche mit ihren zwei weißen Mänteln unter dem Arm. Mit letzter Kraft holperte sie vorwärts auf der langen, unbebauten Straße. Doch dann kam sie nicht weiter. Wo an der Kreuzung die ersten Häuser anfingen, standen ein paar Bänke. Nur ruhen — ausruhen! Ein anderer Gedanke war nicht mehr in ihr. Zu Tode erschöpft sank sie auf eine nasse Bank. Sie merkte nicht, wie die Feuchtigkeit all mählich durch ihren dünnen Mantel drang — spürte nicht, wie die wässerigen Schneeflocken sie langsam einschneiten. „Was tut ihr mir, ihr Menschen? Was nur? WaS tue ich euch? Ach, warum laßt ihr mich nicht einmal, nur einmal kurze Zeit ausruhcn. Ich wollte ja nichts, nur arbeiten — arbeiten — den Verlust der geliebten Mutter überwinden — und dich, Rainer von Rakenius! Nun ver folgt ihr mich..." Immer langsamer arbeiteten die Gedanken. Eine träum schöne Ohnmacht kam. Das Schluchzen verklang — ungehört. Gegen Mittag kam ein Straßenarbeiter. AuS einem naheliegenden Hause holte er Hilfe. Mehr Menschen kamen. Ein Arzt wurde gerufen. Das Sanitätsauto kam und holte das Mädchen. Der Arzt las in der Handtasche aus einer alten Stempelkarte Namen und eine Hausnummer in der Nord- straße. Die Menschen verliefen sich. So etwas ist nichts Neues. Jetzt noch sprechen sie davon, fünf Minuten später von einem überfahrenen Hunde. Wen interessiert es — wer nimmt wahrhaftig Anteil an vem Schicksal gestrandeter, hilflos aufgefundener Men schen? Fast alle grauen sich vor solcher Tragik, an der andere, Gutgestellte, schon längst zerbrochen wären. Mit wahnsinnigem Schrecken lief Bernd Cahier zu dem nächstbesten Arzt und stand dann mit keuchender Brust neben der weinenden Frau Zimmermann am Bett der Kranken. Was war nur geschehen? Was war mit Ellen ge schehen? Doch so sehr er auch grübelte, er fand keine lFortsehung folgt.) Antwort. Am Morgen noch war sie fröhttch und gesund in den Dienst gegangen. . - s Ob er noch schneL in der Fabrik nachfragte? < Die Anweisungen deS Arztes zerrissen seine Gedanken. Ein schwerer Nervenzusammenbruch... Ein Würgen war in Bernd CaßlerS Kehle. Ellen! Ellen! Endlich, nach langem, geduldigem Warten und un ermüdlichem Auflegen kalter Kompressen schlug das Mädchen müde die großen Augen auf. Mit dem Bewußtsein schien ihr jedoch im selben Augenblick auch die Erinnerung zurückzukehren. Wie von Fieber gepackt, schüttelte sich der zarte Körper. „Ent — lasten...', murmelten die trockenen Lippen. „Fristlos — entlasten — Bernd...' „Entlasten?' wiederholte, am Verstand des schönen Mädchens zweifelnd, Bernd Caßler. Beruhigend drückte er die matte Hand der Kranken. „Das hat ja jetzt alles keine Bedeutung. Nur nicht aufregen — nicht aufregen!' „Und schließlich bin ich doch auch noch da, Kindchen!' Frau Zimmermann liefen die Hellen Tränen übers Gesicht. „Ich bin doch noch rüstig. Kann zur Not auch noch arbeiten. Wir werden schon durchkommen, wir drei.' Die Kranke öffnete noch einmal die Lippen, doch ein neuer Anfall von Schwäche verschloß ihr den Mund. Die ganze Nacht hindurch hielt Frau Zimmermann die Nachtwache. Nicht einen Augenblick war sie vom Bett ihres „Engelchens" gewichen. Drüben in seinem Zimmer schritt Bernd Caßler un ruhig auf und ab, stand immer wieder von der Arbeit auf und fragte leise, durch die halb geöffnete Tür, ins Nebenzimmer: „Schläft sie noch, Frau Zimmermman? Ja? Ach, wir gut — wie gut." Dann schlich er wieder davon. Als der junge Tag grau und trübe-anbrach, erhob er sich frierend und übernächtig von seinem Arbeitsplatz. Dort lagen die Zeichnungen der Nacht. Sie waren kräftig und lebenswarm. Und doch — plötzlich zerriß er sie. Nein, so würden sie nicht zum Publikum sprechen können. Es fehlte ihnen die Seele. Jetzt erst wußte er, daß er nur ganz mechanisch gearbeitet hatte. All seine Ge- danken und Empfindungen waren bei der Kranken gewesen. Im Flur traf er Frau Zimmermann. „Gott hat sie doch lieb; er hat ihr so ttesen, erquicken ¬ den Schlaf geschenkt. Der ist bester als alle Medizin!" „Ja, Gott hat sie lieb — und wir zwei auch. Vtelleic.t auch ein dritter noch, doch der — der hat nicht gut an ihr gehandelt. Vielleicht kennt er sie nicht, wie wir sie kennen.' „Wen meinen Sie, Herr Caßler? Steckt ein Mann dahinter?"