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Er führ zu Tillys Mutter. Sie wohnte immer noch in der kleinen Einzimmerwohnung mit Küche, die sie durch Akis Beihilfe sich hatte erhalten können. Schon auf dem Treppenabsatz des vierten Stocks hörte er Stimmen aus der Wohnung der alten Frau, Lauschend blieb er stehen. Das war doch Tillys Stimme? Natürlich, ganz deutlich erkannte er sie. „Wenn du mir das Geld nicht wiedergibst, das du von Aki bekommen hast, dann hole ich die Polizei. M e i n Geld ist es gewesen, das er dir gegeben hat, der Lump! Ich will es wiederhaben!" Hörle er Tilly rufen. Dann vernahm er die träncucrsticktc Stimme der alten Frau. Nun wieder Tillys schrilles Organ. Dann ein Ausschrei, wie in Todesangst. Mit zwei Sätzen war Aki die Treppe empor, ritz die Tür auf. Tilly, sinnlos vor Wut, stand mit dem Rücken zur Tür, schlug mit geballten Fäusten auf die Mutter ein. Mit einem brutalen Griff riß Aki sie zurück. Sic flog herum und erblickte das zornentstcllte Gesicht Akis. Mit eisernem Griff hielt er Tilly gefaßt, erhob gleichfalls die Faust zum Schlagen. Tilly schrie auf. Dieser Schrei brachte ihn zur Besinnung. Er stieß sie zurück. „Das ist das letzte, eine Frau zu schlagen!" sagte er und näherte sich Tilly, nahm sie, die vor Schreck nnd Angst völlig Gelähmte, in seine Arme, als wäre sie eine Puppe, und trug sie vor die Korridortür, setzte sic dann auf den Treppenabsatz nieder uno sagte: „Wenn du es noch einmal wagst, dich bei deiner Mutter scheu zu lassen, dann bekommst du es mit mir zu tun! Ich bleibe jetzt bei deiner Mutier und werde dafür sorgen, daß ihr von dir nichts geschieht. Nimm dich in acht! Einmal habe ich mich bezwungen, beim nächsten Male bekommst du es zu spüren, daß ich auch Zuschlägen kann. Und wo ich hinhauc, oa bleibt nicht mehr viel übrig." Sie wollte etwas sagen, etwas erwidern. Aki spuckte vor ihr aus. „So! — Das ist meine Antwort auf alles, was du mir erzählen willst. Ich habe an dich geglaubt, habe dich ge liebt, habe das Schönste und Beste in dir gesehen, was ein Mann in einer Frau sehen konnte. Aber du, du bist schlecht. Wenn du nur mich betrogen hättest, vielleicht hätte ich es verwunden. Aber wer die Hand gegen seine Mutter erheben kann, der ist das Jämmerlichste auf der Welt, der verdient nicht, daß er lebt." Damit ging er in die Wohnung der Mutter Jochen, machte die Tür von innen zu und verschloß sic mit dem siegel. Frau Jochen saß zitternd und leichenblaß in ihrem Zimmer. „O Gott, o Gott!" sagte sie, und die Tränen liefen ihr über die abgezehrten Wangen. „Min Jung — was soll das bloß geben?! Das wird die Tilly nie vergessen, daß du sie 'rausgesetzt hast! Wenn die wiederkommt, die schlägt mich tot, wenn sic mich allein findet. Laß mich bloß nicht allein, min Jung! Laß mich bloß nicht allein!" Aki nahm die alte Frau tröstend in die Arme. „Nein, Mutter! Ich will Tie ja auch nicht allein lassen. : Sehen Tie, ich habe jetzt keinen Menschen mehr, zu dem ! ich gehöre, keinen, der es ein bißchen gut mit mir meint. Und Sie sind auch allein, Mutter. Wollen wir nicht zu- § sammenbleibcn?" j Frau Jüchen nickte dankbar. I „Ach, wenn du das möchtest, min Jung! Da wär's mir s za gerade so, als hätte ich doch noch ein Kind, das zu mir j hält. Denn die Tilly" — ihre Augen überzogen sich mit s einem trüben Schein —, „die Tilly, die ist zwar mein r Fleisch und Blut, und doch, sie hat nie etwas für mich übrig gehabt. Aber du bist zu mir gewesen wie ein guter Sohn zu seiner Mutter!" „Und Sic sind mir wie eine Mutter!" sagte Aki leise und versonnen. Er horchte dem Klange des Wortes Mutier nach, zum ersten Male. Seit wie langer Zeit sprach er dies Wort aus? Vielleicht hatte cs das Schicksal zum Schluß doch noch gütig mit ihm gemeint und ihm für die vcr- j lorcne Mutter einen Ersatz gegeben. Aki lebte nun oci Mutter Jochen. Sie hatte ihm in ' der Küche ein Lager zurechtgemacht, nachdem er es cnt- ! schieden abgelehnt hatte, ihr Bett zu nehmen und sie in ? der Küche auf der Chaiselongue schlafen zu lassen. j „Nein, nein, Mutter!" hatte er erklärt. „Ich bin doch t nicht dazu hergezogen, damit Sie es schwerer haben, son dern damit Sie es leichter bekommen. Was glauben Sie, wenn ich in Rußland jemals ein so herrliches Bett gehabt hätte wie hier die Chaiselongue. Ich sage Ihnen, Mutter, in den Torbögen unter der Brücke der Moskwa schläft es sich bedeutend härter. Nein, nein! So wie cs ist, ist cs wunderschön. Ich bin zufrieden." In Wahrheit war Aki gar nicht zufrieden. So gut er es bei Mutter Jochen hatte, und so friedlich sie mitein ander hausten — eins bedrückte ihn: er verdiente nichts. Seitdem er sich von Tilly getrennt, hatte er keinerlei Ein nahmen mehr gehabt. Das mutzte anders werden. Er konnte ja den Zeitpunkt ausrechnen, an dem Mutter Jochens Geld zu Ende sein mußte. Unmöglich, datz er der guten Frau als ein Nichtstuer auf der Tasche lag. Was ihn zuerst Tilly gegenüber schon bedrückt, wurde hier zu einer tiefen Scham. Er mußte etwas beginnen — aber was? Er wählte das Nächstliegende und versuchte, eine Tanzpartnerin und mit ihr ein Engagement zu finden. Aber es war merkwürdig, er konnte und konnte mit keinem der ihm bekannte» Varietcinhaber zu einem Vertrag« kommen. Lag es an der Partnerin, die er bei der Arlisten- vereinigung gesunden und die eine hirnlose Puppe war, in nichts Tilly mn ihrem ursprünglichen Tanztaleni ähn lich? Lag es daran, daß irgendwelche Kräfte gegen ibn arbeiteten? Er erreichte nichts. Ein kurzes Engagement an einem zweitklassigen Va.ieiüthcaier währte nur vier Wochen. Dann wurde es nicht mehr verlängert. Der In haber erklärte, datz Aki und seine Partnerin dem Publikum nicht gefielen. Im Innern mußte Aki sich zugcben: der Mann hatte nicht unrecht. Seinem Tanz fehlte das Fort- reißende. Solange er mit Tilly getanzt, hatten ihr Temperament und seine Liebe zu ihr ihn gleichsam künstle risch befeuert. Jetzt, da die Resonanz in dem anderen fehlte, wurde er sich bewußt, wie tief er es im Grunde genommen verachtete, sich so zu produzieren. Wie tief er auch das Publikum verachtete. Er hatte, erweckt durch Tillys Treubruch, die Leere und Oberfläch lichkeit einer Kunst erkannt, die nur im äußerlichen Ver gnügen sensaüonsübersättigter Menschen diente. Er schämte sich, daß er, ein Mann, begabt mit Kräften auch des Geistes, dieser Sensationslust ein gefügiges Werkzeug sein sollte. Aber was sollte er beginnen? Wo er auch immer an klopfte, jeder Arbeitsplatz war über und über besetzt. Er konnte ja auch nur auf Gclegenheits- und Schwarzarbeit ausgchen. Denn zu jeder festen Anstellung gehörten Papiere. Die besaß er nicht. Kein Arbeitgeber konnte ihn so entstellen, ohne das; die Polizei von seinem Aufenthalt ohne Ausweis und ordnungsgcmätze Meldung erfuhr. Zunächst versuchte er noch, sich geistig zu beschäftigen. Die Lesehallen und Volksbüchereien standen ja jedem Menschen offen. Aber er konnte sich nicht mehr konzen trieren. Der Gedanke: Was wird aus dir, was wird aus Mutter Jochen?, ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Da kam es zum ersten Male, daß er, nur um nicht mehr denken zu müssen, sich in einer Hafenkneipe sinnlos be trank. Wie er nach Hause gekommen war, wußte er nicht mehr. Er fand sich nur am nächsten Tage oaheim auf seinem Lager, und neben ihm satz Mutter Jochen. Er fühlte eine kühle Kompresse auf seinem Kopse. Fühlte ihre Hand ihn sanft streicheln. Da wurden ihm die Ereignisse des gestrigen Abends wieder bewußt. „Mutter", sagte er voll Scham, „verzeihen Sie mir, ich weiß gar nicht, wie das gekommen ist. Ich war wieder vergeblich nach Arbeit herumgelaufcn. Ich war so un glücklich. Ich wollte nur nicht mehr denken, Mutter! Blob nicht mehr denken. Und da habe ich einen Schnaps ge trunken, und dann noch einen. Dann dachte ich, nun mutzt du aushören, aber da konnte ich schon nicht mehr aushören. tFvrtsetznng folgt» "