Volltext Seite (XML)
Stresemann gestürzt. In vorgerückter Abendstunde des Freitag ist dm f vom Reichskanzler Stresemann verlangte Vertrauen» ! votum der Regierungsparteien vom Reichstag i« > namentlicher Abstimmung mit 230 gegen 11S Stimmen abgelehnt worden. Rach der Ab ! stimmung im Reichstag hat der Reichskanzler eine kurz« , Minislc besprechung abgehallen und sich hierauf zum > Reichspräsidenten begeben, um ihm die Demission der Gesamtkabinetts zu übergeben. Der Relchspräsideul hat die Demission des Reichskabinetts enlgegengenom- men und da» Kabinett mit der einstweiligen FortführungderGeschäfte beauftragt. Innerhalb eines Jahres hat der Parlamentarismus drei Reichskanzler verschlungen: Wirth. Cuno, Stresemann sind die Opfer eines Systems geworden, das für das parteizerklüftete Deutschland nicht paßt. Die zahlenmäßig stärkste Sozialdemokratie hängt wie ein Blei gewicht mit ihrem Marxismus an dem Fortschreiten der wirtschaftlichen Entwicklung. Dr. Stresemann hatte diese Gefahr wohl erkannt: seine Parole, die er auf dem Partei tag der Deutschen Volkspartei ausgab, beweist es, nur wurde siezuspät ausgegeben. Mit seiner Verschreibung vn die Große Koalition hatte er dem sozialistischen Teufel den kleinen Finger gereicht, und der nahm wie im Falle Wirt die ganze Hand und stieß ihn in den Abgrund. ' Es soll- hier niemand, der kraft seiner Überzeugung dem wankenden Reichskanzler seine Unterstützung versagte und sich auf die linke Seite schlug, angeklagt werden. Die Deutschnationalen, die Bayerische Volkspartei haben es ge tan. die sich der Stimme Enthaltenden gleichfalls und so bar Vertrauensvotum vereitelt. Bei einer Einigung der bürgerlichen Parteien wäre das Fortbestehen des Ka binetts möglich gewesen, jetzt ist der alte Zustand der Trü bung mittels Durchrühren heterogener Elemente wieder da, und wenn auch zeitweilig eine Klärung sich einstellt, gsNügt doch ein Schütteln, um die frühere Unklarheit zu erzeugen. Da hilft bloß eine Filtrierung durch Neuwah len. nur sie vermag eine reinliche Scheidung zu bewirten. Die» unerfreuliche Bild war in seinen Umrissen sicherlich nicht denen verborgen geblieben, die auf den Sturz Stresemanns hingearbeitet hatten; sie haben damit Kata- Prophenpolitit getrieben mit dem vollen Bewußtsein ihrer Konsequenzen, aber man durfte erwarten, daß sie ein «euesProgrammfürdie Umbildung des Kabinetts in der Tasche hatten. Augenscheinlich fehltesdaran. Der versuch mit einem überparteilichen Beanztenkabinett tonn nur als kurzlebiger Notbehelf bettachtet werden und war nicht das Ziel, des Schweißes der Edelen wert. Die Negierungsmaschine laust , noch, nur ihre Spitzen fehlen, ober gerade in dieser Zeit der Unruhe und der außenpoliti- sihen Schwierigkeiten stellt eine längere Regierungslosig keit, anders als in England, wo Autorität gllt, eine nicht zu unterschätzende Gefahr dar, zumal da Stresemann sei- nem Nachfolger eine Erbschaft schwer zu handhabender, staatsrechtlich anfechtbarer Gesetze und die stark ineinander verfilzten Konflikte mit Bayern, Sachsen und Thüringen hinterlassen hat. Unleugbar verfügte der Reichskanzler über eine blendende Dialektik, und feiner diplomatischen Gewandtheit waren in letzter Stunde Ereignisse zu Hilft gekommen, die eine Entwirrung der verschiedenen Streit fälle erleichterten. Wäre es ihm geglückt, diese brennende Frage zu lösen, so hätte er wohl auf eine günstigere Be- «rtellung seiner Politik Anspruch erheben dürfen. Aber es ging ihm wie seinem Amtsvorgänger Cuno, der kurz nach fttnem Rücktritt erleben mußte, daß die Früchte seiner Bemühungen um einen Ausgleich mit England seinem Nachfolger in den Schoß fielen. Line weitere Parallele bedeutet das Abkommen zwischen den Ruhrindustriellen mtt der französischen Regierung und der Micum; es wurde gerade unterzeichnet, als der Reichstag dem Kabinett Stresemann das Grab schaufelte. Der Kanzler hatte einen Zwelfrontenkriegzu führen gehabt wie Dr. Wirch. Auf der rechten Seite be drängte ihn die Haltung der bayerischen Regierung mit Kompetenzstreitigkeiten und dem Widerstand gegen den vnitarismus. Und da Bayern die Sympathien weiter dürgerlicher Kreise in ganz Deutschland zuflogen, war für Stresemann ein vorsichtiges Lavieren geboten, mochte es Mich als bängliches Zurückweichen ihm vorgeworfen wer den. In diese Kerbe Hleb besonder» die Sozialdemokratie «in- unterstützt von den Kommunisten und jenem Alt- Preußentum, da» die traditionelle Heeres, und Beamten- disziplin als Tragbalken jeder Regierung anzusehen ge- Mvchnt ist. Mehr aber als der bayerische Handel, der vor »llem die Bayerische Lolkspartei verschnupfte, lag den Sozialdemokraten an der Bewahrung desAcht- < stundentage ». Al» di« Demobllisierungsverordnun- ! gen fang- und klatt-los in der Versenkung verschwanden, : gab es für die Sozialdemokratische Partei kein Halten j «ehr, und sie rüstete sich, ihr« Front in Bewegung zu . letzen, nachdem sie schon vorher ihre Fehdebereitschaft Würch Austritt aus der Koalition zu erkennen gegeben hatte. In diesem Zeitpunkt hätte sich eine Verständigung satt den Deutschnationalen vielleicht ermöglichen lasten, benn die Parole »Gegen den Marxismus" war für all« bürgerlichen Parteien Mundgerecht, und Zentrum und De- nwkroten hätten bet einigem Entgegenkommen mit sich «eben lasten, denn sie mutzten sich davon überzeugt haben, «eichen gefährlichen Bettgenosten sie in der toaltierter Sozialdemokratie besaßen. Die Große Koalition war und P ein trügerische» Scheingebilde, uttd wer sich aus de« Stab der Sozialdemokratie stützt, dem wird er jederzeit durch die Hand fahren. Als die sozialdemokratischen Mi nister aus dem Kabinett schieden, war es für den Kenne, der parlamentarischen Verhältnisse klar, daß die Tage de, Bttesemannschen Reichskanzlerschaft gezählt Waren, wenn es ihm nicht gelang, vollgültigen, sicheren Ersatz für diese Minister xu aewinnen. Er versuchte es mit dem Grasen Kanitz,' und es mißlang. Der von ihm Gewählte er freute sich keineswegs des Beifalls der Agrarier, aus deren Sphäre er hervorgegangen war, und auch die Berufung von Jarres konnte das Verhängnis nicht mehr be schwören. Finster liegt die Zukunft der Reichsregierung vor uns, und wir wollen hoffen, daß es sich bald in er freulicher Weise lichten möge. Deutschland ist zu schwach, als daß es den fortwährenden innerpolitischen Erschütte rungen gewachsen wäre, während der Feind noch immer vor den Toren im Westen steht. Wenn die Episode Strese mann diese Erkenntnis verbreiten hilft, wollen wir damit zufrieden sein. r. R. ! Sie Suche nach dem neuen Kanzler. ! Im Laufe des ersten Krisen-Abends empfing 8er Reichspräsident den Reichstagspräsidenten und die Füh rer der Fraktionen der Sozialdemokratie, des Zentrums, der Deutschen Volkspartei, der Deutschnationalen Volks partei, der Demokraten und der Bayerischen Volkspartei zu Besprechungen über die Kabinettsbildung. Dft Be sprechungen zogen sich bis nach Mitternacht hin. Aus den Besprechungen hat sich vorläufig nur soviel ergeben, daß die Parteien im allgemeinen dem Plane eines Be amtenmini st eriums abgeneigt sind und viel mehr den Wunsch haben, daß die Neubildung der Re gierung ! auf parlamentarischem Wege erfolgen möge. Infolgedessen ist die Kombination Albert zurzeit indenHintergrund getreten. Dagegen besteht begründete Aussicht, eine Regierung auf derbre i- ten Basis eines Bürgerblocks von den Deutschnationalen bis zu den Demokra ten zustande zu bringen. Schwierigkeiten bereitet im Augenblick vor allem die Kanzlerfrage. Das Zen trum und die Deutsche Volkspartei haben keine Neigung, jetzt den führenden Mann der neuen Regierung aus ihren Rechen zu stellen. Die Demokraten kommen dafür, ange sichts ihrer Fraktionsstärke, ohnedies erst in allerletzter Linie in Betracht. Da man, wenn eindeutschnatio- nalerKanzlerin Frage kommt, mit Rücksicht auf die anderen Parteien keine allzu ausgeprägt rechtsstehende Persönlichkeit in Vorschlag bringen möchte, so strebt man augenblicklich dahin, einen Kanzler zu finden, der par teipolitisch so wenig wie möglich festge- legt erscheint. In erster Linie werden jetzt wieder die Namen Wallraf und Jarres genannt, die beide sowohl bei den Deutschnattonalen, als auch bei den anderen Parteien Anklang finden würden. Die Verhandlungen in dieser Hinsicht sind jedoch noch nicht weit vorgeschritten, und nach dem jetzigen Stande der Dinge, wo die Fraktionen noch nicht zu der gesamten An gelegenheit Stellung genommen haben, rechnet man damit, daß eine Entscheidung im Sinne einer positiven Auftrags- erteilung seitens des Reichspräsidenten an einen neuen Kanzlerkandidaten im Augenblick noch nicht zu er warten ist. Am Sonnabend vormittag hatten sich im Reichstage nur wenige Abge ordnete eingefunden, die die politische Situation be sprachen. Die Fraktionssitzungen nahmen erst um Uhr ihren Anfang, und zwar traten die Fraktionen der Sozial demokraten, des Zentrums, der Deutschen Dolkspartei und der bayerischen Volkspartei zusammen, um den Bericht ihrer Führer über die Besprechungen beim Reichspräsi denten entgegenzunehmen. Wieder ein Kabinett -er Arbeitsgemeinschaft? Die letzten Mitteilungen, die in parlamentarischen Kreisen über die Neubildung der Regierung zu erlangen waren, gingen in der zweiten Mittagslunde dahin, dah der Reichspräsident einen Kanzlerkandidaten zu empfangen be absichtigt, von welchem er hofft, daß er die Reuoildung übernehmen könne. E» handelt sich dabei um eine Per sönlichkeit aus den bürgerlichen Miltelparleien, die vor aussichtlich ein Kabinett auf der Basis de» Kabinetts Strese mann bilden würde. Diese Regierung dürste dann doch allerdings die Unterstützung der Deutschnationalen kaum stndxn, während Man mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf die Neutralität der Sozialdemokra tie rechnet. Aller Voraussicht nach dürfte es sich bet dem neue« Kanzlerkandldateu um Herrn von kardorfs handeln. Die Nationalllberale Korrespondenz zum Sturz Stresemanns. Di« Nationalliberale Korrespondenz (der Pressedienst der Deutschen Bolkspartei) schreibt: »Das, was wir jetzt erleben, ist, wie Stresemann richtig sagte, in der Tat ein« Krise de« Parlament» und nicht eine solche der Regierüng Die Parteien wissen nicht, was sie wollen Die Entwicklung der nächsten Zeit wird darüber voll« Klarheit schaffen. Hat die Opposition ein Programms Nein. Hat sie die großen Männer, die uns führen können? Sie mögen heroortreten. Die Reichstagsver Handlungen öom 22. November haben mehr noch als all, früheren Verhandlungen seit Zusammentritt dieses Reich» tage» bewiesen, daß im Grunde genommen Dr. Strese mann ber einzige ist, der imstande ist, die fast chao lisch Vürcheittanderwirbelnden Kräfte des deutschen Bölke» ruf einen gemeinsamen national-politischen Willen zu »ringen. Sein Glaube an die nationale Volksgemeinschaft muß Ziel Und Leitstern jeder deutschen Politik bleiben, vie auch immer Regierung und Reichstag zusammengesetzt ' ein mögen. Wer das leugnen wollte, würde damit auch >as Wunder des August 1914 aus der deutschen Geschichte öschen. Das „neue Europa". Pie „Times" überde^nSturzStrefemann». „Times" nimmt bisher als einziges englisches Blatt zu dem in spater Stunde gemeldeten Rücktritt des Kabi- ; netts Stresemann Stellung und schreibt: Der Sturz Strese manns habe eine besondere Bedeutung. Die wirtschaft lichen und finanziellen Schwierigkeiten, mit denen er zu kämpfen hatte, seien außerordentlich gewesen, aber das unüberwindliche Hindemis, dem er gegenüberstand, habe In den Beziehungen zwischen Deutschland und den Alliierten gelegen. Hier habe Stress- mann allesgetan.waseinsterblicherDeut» scher h 8 tte tun können, um mit den Alliierten zu einer Regelung oder wieder zu Verhandlungen zu j kommen. Was jetzt bevorstehe, sei eine sehr ernste An» Igelegenheit für die ganze Welt. Die nackte Tatsache, daß Deutschland auseinanderbreche, müsse jetzt als wichtigstes Ereignis in einem Europa erkannt werden. Es könne sein, daß wahrend der nächsten Monate die Trennung des Rheinlandes und des Ruhrge- htetes von Deutschland versuchsweise politische Gestalt annehmen werde. Frankreichs systematische und kaltlogische Bemühungen näherten sich ihrem Ziel. Eine neue politische und wirtschaftliche Einheit, geformt und beherrscht von Frankreich, drohemitteninEuropaaufzutauchen. Der übrige Teil des chaotischen Deutschlands, der dieses reichen Gebietes auf unbestimmte Zeit beraubt sei, werde wenig Aussicht auf baldige Erholung haben. Ein neuer Europa bilde sich vor den Toren Eng lands. Inzwischen sei in England selbst ein Wahlfeld- zug im Gange. „Times" tritt zum Schluß ein für eine starke britische Regiemng, die vollkommen freie Hand habe, jede notwendige fiskalische oder politische Maßnahme zu ergreifen, um der Notlage zu begegnen und England die Freiheit zu geben, seine fundamentale Kraft i n E u r o p a g e l t e n d zu machen. ' Das Nuhrablommen unierzeichnei. Die von zuständiger Stelle milgeleitt wird, ist Frei tag abend kurz vor dem Sturz des Kabinetts Stresemann in der Reichskanzlei die Meldung eingetroffen, daß da« Abkommen zwischen den Ruhriudustriellen und der fran- ! zösifchen Regierung nunmehr endgültig abgeschlossen ist. Damit dürfte in der Frage der Arbeitslosigkeit im befeh len Gebiet und der Unterstützungen ein wichtiger Schritt ! zur Losung hin getan sein. — Im Rahmen des Vertrage» werden in den nächsten 14 Tagen die einzelnen Werke ihre Sonderabkommen zu »reffen haben. Der Vertrag ist von Generaldirektor Vogler (Dortmund) al« bevollmächtigtem Vertreter des Bergbaulichen Verein» in Esten unterzeichnet worden. Die Pariser Meldungen, di« davon sprechen, daß Vögler lediglich im Ramen ihm nahe stehender Lergwerksbesiher unterzeichnel habe, sind un- rlcyllg. Der Vertrag gilt birzum 16. April 1924. » Nach Pariser Meldungen umfaßt das Abkommen folgende sechs Hauptpunkte: 1. Die Bergwerke, die durch deutsche Delegierte diese« Abkommen unterzeichnen ließen, werden für die rück- ständige Kohlensteuer in der Zeit vom 1. Januar bi« 1. November 1 5 M i l l i o n e n D o l l a r, d. h. 279 Mil lionen Frank zum Tageskurs bezahlen. 2. Die Industrie wird für jede verkauft« > Tonne Kohlen 10 Frank bezahlen. 3. Von der Kohlenproduktion werden 18Prozeni ! attdieEntente abgeführt. 4. Die im Ruhrgebiet am 1. Oktober vorhandenen Kohlenvorräte bleiben Eigentum der Alliierten. 5. Ausfuhrscheine müssen nach wie vor angeforden werden. Die Ausfuhr metallurgischer Produkte kann erst nach Zahlung der rückständigen Kohlensteuer erfolgen unt muß sich in derselben Höhe bewegen wie im Jahre 1922 6. Die Lieferung der Kohlennebenprodukte, wie Am ! moniak-Sulfat, Benzool, Teer wird Gegenstand besonde rer Abkommen bilden. j Vorstoß Bayerns zur Umgestaltung -er Verfassung Die bayerische Regierung erachtet e» nun an der Zeit i ihre föderalistischen Ziel« mit aller Entschieden , heitaus parlamentarischem Wege zu verfolgen. Da» geh ! aus folgender halbamtlicher Mitteilung hervor: „Die An , träge, die die Bayerische Bolkspartei über eine föderal! sttsche Umgestaltung der Retchsoerfastung im Reichstag eingebracht hat, bedeuten den ersten Schritt zu Verwirklichung der verfafsungspoliti schen Iiele, die hinsichtlich de» Verhältnisse» zwtfche ' Bayern und Reich von der bayerischen Regierung und de Koalitionsparteien in Aussicht genommen sind. Vie baw rische Regierung bereitet eine Paralletattion vor, mit d« sie an die neue Rei chsregierung heran treten wird, sobald diese gebildet ist." Veriraüttt-vvtum für poinearL. Poincare sprach am Freitihg in der Kattuner übe« die auswärtige Politik Frankreich». An der Ru h r hab» sich die Lage nicht geändert. Die französisch-belgische Eisen bahnregie habe die Wiedereinstellunö von 43 300 Eiten