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wie die „Nat.-lib. Korr." betont, nicht nur von großer prinzipieller, sondern auch, wie man sieht, von erheb licher praktischer Bedeutung. Die Entscheidung des gegenwärtigen Reichstages, der in so mancher Be ziehung eine unbekannte Gröhe darstellt, ist keineswegs zweifellos. Für den Centrumsantrag auf Aufhebung des Jesuitengesetzes sind sicher die 100 Stimmen dieser Partei, die 44 sozialdemokratischen, die 18 polnischen, die 11 der süddeutschen Volkspartei und etwa 14 der Fraktionslosen, das macht 188. Als sichere Gegner des Centrumsantrages sind zu betrachten die 53 nationalliberalen, die 27 freikonservativen, wohl auch die 13 Stimmen der freisinnigen Vereinigung und etwa 7 „Wilde", das macht 100 Stimmen. Wir glauben dazu noch die 68 Mitglieder der konservativen Fraktion rechnen zu können, obwohl auf den äußersten rechten Flügel nicht mit voller Sicherheit zu rechnen ist. Dann kommt die freisinnige Volkspartei mit 23 Mitgliedern in Betracht. Ein Theil derselben ver dankt den Ultramontanen unbedingt ihre Mandate; bei ihnen ist auf keinerlei Widerstand gegen einen solchen Centrumsantrag zu rechnen, zumal da er sich mit einem, freilich sehr fadenscheinigen freisinnig aus sehenden Mäntelchen, der Gegnerschaft gegen alle Ausnahmegesetze, ausstatten läßt. Andere Mitglieder der freisinnigen Volkspartei, die den Ultramontanen weniger verpflichtet sind, werden wohl im Hinblick auf die gewaltige, durch Hunderttausende von Petitions unterschriften bewiesene Bewegung im evangelischen Volk für die Aufrechterhaltung des Jesuitengesetzes stimmen, so wenig Eifer sie dabei auch innerlich be sitzen mögen. Die Fraktion wird sich also voraus sichtlich in dieser Frage spalten. Im günstigsten Fall würden sonach diejenigen, welche mit Sicherheit oder großer Wahrscheinlichkeit zu den Gegnern des Centrums antrages zu rechnen sind, den Freunden desselben an nähernd gleichkommen. ES kommen dann noch die 13 Antisemiten in Frage, deren Haltung, wie immer, zweifelhaft ist. Stimmen sie gegen den Centrums antrag, wie es doch wohl wahrscheinlich ist, so könnte derselbe, wenn auch mit geringer Mehrheit, nieder gestimmt werden. Man sieht auch hier wieder, wie unsicher und von den kleinsten Gruppen, ja der Ab stimmung ganz vereinzelter Mitglieder abhängig gegenwärtig die wichtigsten Entscheidungen im Reichs tage sind. — Am 1. Oktober trat das neue Militär gesetz in Kraft, um das seit Jahresfrist so heftig gestritten worden und das wegen der noch ungelösten Deckungsfrage auch gegenwärtig noch unser öffentliches Leben in starker Erregung hält. In dem erbitterten Kampfe der Parteien und unter der Einwirkung auf reizender Schlagworte sind die neuen Lasten, die diese Militärreform unvermeidlich mit sich bringt, mehr in den Fordergrund getreten, als die bedeutenden Er leichterungen und Vorlheile, die sie auf der anderen Seite für jeden einzelnen Wehrpflichtigen und für die wirthschastliche Wohlfahrt des ganzen Volkes herbei führt. Es kann aber nicht ausbleiben, daß auch die letzteren günstigen Eigenschaften der Heeresreform sich mehr und mehr fühlbar machen, wenn sie erst in der praktischen Ausführung vor alle Betheiligten hintreten. Allerdings bezweckt das neue Gesetz in erster Linie eine bedeutende Vermehrung unserer Streitkräfte, wie sie durch die starken Vorsprünge unserer Nachbarn zur Sicherung des Vaterlandes gebieterisch gefordert war, und die damit verbundenen finanziellen Lasten muß das deutsche Volk patriotisch tragen, um möglich stark für die Abwehr oerhängnißvoller Wendungen gerüstet zu sein. Die Reform stellt aber nicht nur eine Ver mehrung und bessere Organisation unserer Streitkräfte dar, sie bietet auch bedeutende Erleichterungen: Eine Entlastung des Einzelnen durch Abkürzung der Dienst zeit, eine gerechtere Vertheilung und Ausgleichung der Wehrpflicht, eine Schonung der älteren Mannschaften. Das sind sozial und wirthschastlich sehr bedeutende Vortheile, durch welche einige neue Steuerlasten reichlich ausgewogen werden. Trotz des jetzt noch herrschenden starken Widerspruchs wird, wenn erst die Reform in Kraft und Leben getreten ist und neben den Lasten auch die Wohlthaten jedem fühlbar werden. Niemand mehr an den neuen Grundlagen unserer Heeresver- fassung rütteln wollen. Wir haben jetzt das Mög lichste gethan, unser Vaterland gegen alle Wechselfälle zu schützen und können mit dem Bewußtsein patrio tischer und thatkrästiger Pflichterfüllung der Zukunft entgegengehen. — Bei der bevorstehenden Einführung der Tabak fabrikatsteuer und Beseitigung der Jnlandsteuer ist es von Interesse, den Antheil kennen zu lernen, welchen die einzelnen Bundesstaaten einerseits an dem Tabak bau, andererseits an der bisherigen Tabaksteuer haben. Dem Bundesrath liegt gegenwärtig der Bericht der zuständigen Ausschüsse betreffend die gemeinschaft lichen Einnahmen an Zöllen und Steuern für das Etatsjahr 1890/91 vor. In demselben sind, was die Tabaksteuer betrifft, zunächst die Größen des amtlich — -62 — ermittelten Flächeninhalts der mit Tabak bepflanzten Grundstücke in den Einzelstaaten angegeben. Danach nimmt Baden mit 7876 Ku die erste Stelle ein. Ihm folgen Preußen mit 5143, Bayern mit 3978, Elsaß- Lothringen mit 1794, Hessen mit 664, Württemberg mit 362, die beiden Mecklenburg mit 130, Anhalt mit 118, Sachsen-Meiningen mit 96, Braunschweig mit 28 und Schwarzburg-Nudolstadt mit 20 Ku. In den übrigen Staaten sind ganz kleine Flächen mit Tabak bepflanzt, im Königreich Sachsen beispielsweise nur 107 u. Im Gebiet der deutschen Zollgemeinschaft überhaupt waren im Jahre 1890: 2023199 u 34 qm mit Tabak bepflanzt. Außerdem wurde aus 29845 u 45 qm eine Nachernte erzielt, wovon allein 226 Ku auf Baden und 67 Ku auf Preußen entfielen. So dann sind in dem Bericht die Beträge an Tabaksteuer aufgeführt, welche von den Einzelstaaten an die Neichskaffe im Jahre 1890/91 abgeführt sind. Die selben beliefen sich bei Baden aus 4,8 Mill., Preußen auf 4 Mill., Bayern 800000 Mk., Elsaß-Lothringen 400000 Mk., Hessen 370000 Mk., Württemberg nahe zu 200000 Mk., Sachsen 126000 Mk. Von den übrigen Staaten wurden je weniger als 100000 Mk. an die Neichskasse abgesührt. Die Gesammtsumms der im Jahre 1890/91 aufgenommenen Tabaksteuer belief sich auf 11023334,82 Mk. — Zu den Vorlagen, welche dem Reichstage in der nächsten Session zugehen werden, gehört auch, wie die „Voss. Ztg." erfährt, der Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Bekämpfung des Mißbrauchs gei stiger Getränke, und zwar in Folge jüngster An regungen von verschiedenen Seiten, z. B. des deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke, der letzten Generalversammlung der rheinisch-westfälischen Gefängnißgesellschaft u. A. Der letzte Entwurf eines Trunksuchtsgesetzes, der fast allgemein abfällig beurtheilt wurde, enthielt 1) beschränkende Bestimmungen über die Ausübung der den Vertrieb geistiger Getränke be zweckenden Gewerbe, 2) das Verbot für Gast- und Schankwirthe, geistige Getränke zum Genuß auf der Stelle borgweise zu verabreichen, mit der Bestimmung, daß Forderungen für solche Getränke weder eingeklagt, noch in sonstiger Weise geltend gemacht werden können, 3) den Vorschlag der Entmündigung gewohnheits mäßiger Trinker nach den Vorschriften über die Ent mündigung von Verschwendern (ZZ 621 bis 627 der Civilprozeßordnung) jedoch mit der Maßgabe, daß eine Mitwirkung der Staatsanwaltschaft in demselben Um fange stattfindet, wie sie für das Verfahren bei der Entmündigung wegen Geisteskrankheit in den U 595 Absatz 2, 597 Absatz 3, 602, 604, 607, 619, 620 Absatz 2 der Civilprozeßordnung vorgeschrieben ist, 4) Unterbringung entmündigter Trinker in eine Trinker heilanstalt und 5) verschiedene Strafbestimmungen, z. B. betreffend die ärgernißerregende Trunkenheit an einem öffentlichen Orte, wofür Geld- oder Haftstrafe, auch Unterbringung in eine Trinkerheilanstalt angedroht wurde. — Die Voruntersuchung gegen die in Kiel ver hafteten Spione ist nahezu abgeschlossen und es werden in nächster Woche die Akten dem Oberreichs anwalt übermittelt werden können. Trotzdem das Belastungsmaterial sich vermehrt hat, beharren die Verhafteten bei der Betheuerung ihrer Unschuld. Die selben befinden sich nach wie vor in strengster Jsolir- haft im Moabiter Untersuchungsgefängniß. — Die Reise des Fürsten Bismarck von Kissingen nach Friedrichsruh wird über Bebra, Göttingen und Hannover erfolgen. Das Eintreffen des Fürsten in Friedrichsruh wird am 7. Oktober erwartet. — In den nächsten Wochen wird voraussichtlich die Weich selb rücke bei Fordon dem Verkehr über geben werden können. Es ist damit ein Werk voll endet, dessen Aussühruug sich im Interesse der Landes- vertheidigung nöthig machte. Die Kosten zu dem Bau wurden in ver Session 1890/91 bewilligt. An ihrer Ausbringung waren sowohl das Reich wie Preußen betheiligt, und zwar hat ersteres von der Anschlags summe in Höhe von 10.» Mill. 6,» Mill., Preußen den Nlst von 4,? Mill, aufgebracht. GlaH. Ein furchtbarer Orkan zerstörte in der Nacht zum 3. Oktober die Kolonnade am Kuhberge. Der Wachtposten wurde erschlagen. Bremen. Der Kaiser wird nach seinen, dem Senate zugegangenen endgültigen Bestimmungen am 18. Oktober, Morgens gegen 11 Uhr, hier eintreffen, um der Enthüllungsseier des Kaiser Wilhelms- Denkmals beizuwohnen. Oesterreich-Ungarn. Die famose Angelegenheit der Prager Straßenschilder macht noch immer von sich reden. Der Ministerpräsident Graf Taaffe hat in seiner Eigenschaft als Minister des Innern den Rekurs des Prager Stadtrathes gegen den Erlaß des Statthalters Grasen Thun, welcher die Anbringung der rei» czechischen Straßenschilder untersagte, zurück gewiesen und die Stadtverwaltung angewiesen, inner ¬ halb eines Monats die einsprachigen Straßenschilder wieder durch die früheren zwetsprachize« zsu ersetzen. Den czechischen Fanatikern, welch« in der Prager Stadtverwaltung sitzen^ wird jetzt wohl oder übel nichts anders übrig bleiben und nach dem Geheiß des Grafen Taaffe zu thun, andernfalls stünde die Auf lösung des Prager Stadtrathes mit Sicherheit zu er warten. - — In der Sonnabendsitzung deS ungarischen Abgeordnetenhauses gab Ministerpräsident vr. Wekerle die wichtige Erklärung ab, daß die Regierung der Krone d-n Ehegesetzentwurf zur Billigung vorgelegt habe; sollte die Krone wider Erwarten den Entwurf nicht gutheißen, so würde die Negierung ihre Pflicht kennen. Letztere Wendung will natürlich nichts anderes besagen, als daß das Ministerium Wekerle zurücktreten würde falls der Kaiser das neue Ehegesetz nicht billigen sollte; im Uebrigen hat Herr Wekerle ja schon früher erklärt, daß er mit seinem kirchenpolitischen Programm stehe und falle. Inzwischen wird aber aus Pest weiter gemeldet, daß Wekerle die Zustimmung des Kaisers zur Einbringung des Ehegesetzentwurfes bereits er halten habe, was einen beachtenswerthen Erfolg des leitenden ungarischen Staatsmannes darstellen würde. Belgien. Die neue Streikbewegung unter der Bergarbeiterschaft Belgiens nimmt unter dem Ein flüsse des noch immer fortdauernden Streikes der nord französischen Bergleute allmählich einen bedenklicheren Charakter an. Im Kohlenbecken von Mons, wo bis lang 2700 Bergleute streikten, hat die Zahl der Aus ständigen inzwischen noch eine Vermehrung erfahren, und in dem wichtigen Becken von Charleroi, wo bis her 12000 Mann streikten, sollte am Montag der all gemeine Ausstand anheben. Ausschreitungen der feiernden belgischen Bergleute werden jedoch noch nicht gemeldet. Frankreich. Großes Aufsehen erregen hier die in einem militärischen Fachblatte veröffentlichten abfälligen Aeußerungen eines der französischen Armee-Inspektoren, des Generals de Cools, über die vollständige Unzu länglichkeit der französischen Reserveoffiziere. Ge neral de Cools konstatirt diese Erscheinung aus Grund seiner Beobachtungen bei den letzten großen Manövern in Frankreich. Der offiziöse „TempS" bespricht die Sache in einem Leitartikel und bedauert hierbei, daß die von den aktiven Offizieren gegen ihre Kameraden von der Reserve zur Schau getragene Feindseligkeit und Geringschätzigkeit die letzteren entmuthige und gleichgiltig mache. Im Anschlüsse hieran tadelt der „Temps" die provisorischen Zustände und die Un schlüssigkeit betreffs der Reformen im Heereswesen und hofft das Blatt schließlich, General Boisdeffre, der neue Generalstabschef, werde in der Armee das er schütterte Vertrauen wieder Herstellen. — Das offizielle Programm für die Festlich keiten, die gelegentlich des russischen Besuches in Frank reich gegeben werden, ist nunmehr Folgendes: 13. Oktober. Ankunft des Gesckwaders in Toulon, Besuch im Arsenal und Rathhause, Abends Diner beim Marineminister. 14. Oktober. Tafel an Bord des „Formidable". Ball. l5. Oktober. Festmahl, von der Stadt gegeben. Nachmittags Blumenfest. Galavorstellung im Theater 16. Oktober. Eingehende Besich tigung des Arsenals; Abreise nach Paris (kein Aufenthalt unter- Wegs). 17. Oktober. Ankunst in Paris; Frühstück im Oerele Llilitairo; Audienz bei Carnot 4 Uhr Nachmittags. Abends Tafel und Ball im Elysee. 18. Oktober. Tafel beim russischen Gesandten. Abends Diner im „Hotel de Ville". Concert. Fackelzug. 19. Oktober. Besuch der Stadt. Frühstück im Bois de Boulogne. Abends Ball im „Hotel de Bille". 20. Oktober Frühstück beim Minister des Auswärtigen. 2l. Oktober. Früh stück beim Ministerpräsidenten. Galavorstellung in der „Großen Oper." 22. Oktober Frühstück im Kriegsministerium. Empfang in der „Ecole Militair." Ritterspiel. Bankett der Presse auf dem Marsfelde. Feuerwerk im Eisselthurm. 23. Oktober. Frühstück im „Cercle Militair " Besichtigung der großen Wasser- künste in Versailles. Tafel im Marineministerium. 24. Oktober. Frühstück beim Präsidenten der Republik. Empfang im ElysLe. I I Uhr Abends Abreise nach Toulon. 25. Oktober. Aufenthalt in Lyon. 26. Oktober. Aufenthalt in Marseille. Ankunft in Toulon. 27. Oktober. Stapellauf des Jauroguiberry." 28. Oktober. Abfahrt des Geschwaders. Rußland. Mit einem seltsamen Projekte trägt sich die russische Regierung, wenn eine Odessaer Mel dung des „Standard" wahr ist, der zufolge 50000 Griechen als russische Unterthanen an verschiedenen Theilen der Küsten des Schwarzen Meeres angesiedelt werden sollen. Es heißt, diese griechischen Ansiedler wären dazu bestimmt, für den Seehandel Rußlands thätig zu sein, vielleicht ist dies aber nur eine Maske, bestimmt, gewisse militärpolitische Zwecke zu verbergen, die man in Petersburg mit dem ganzen Plane mög licher Weise verfolgt. Italien. Heftige Regengüsse, die seit einigen Tagen in ganz Italien niedergegangen sind, ver ursachten in Neapel große Ueberschw em m ungen. 20 Häuser mußten geräumt werden, zwei Brücken wurden zerstört; der Tramwayverkehr mußte theilweise eingestellt werden. Der Schaden wird auf 200000 Lire geschätzt. In Florenz gingen gleichfalls Regen güsse nieder, viele Brücken wurden weggerissen. In Lucca sind 2 Personen unter den Trümmern ein-