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Dienstag. M. «5. 23. August 1870. Erscheint Dienstags und Freitags. Zu beziehen durch alle Postanstalten. Weißerih-Zeilung. Preis pro Quartal 10 Ngr. Inserate die Svalten-Zeile 8Pfg. Amts- und Anzeige-Matt der Königlichen Gerichts-Jemler und Stq-träthe zu Aippotdiswatde uud /rauenfleiu. Vermtwortlicher Ne-acteur: Carl Lehne in Dippoldiswalde. - --—' — ——— Der deutsch-französische Krieg. Während daS große deutsche Heer, der retirirenden französischen Armee auf dem Fuße folgend, im Auf märsche nach Paris begriffen ist, was bei der großen Entfernung einen Zeitraum von 8—14 Tagen erheischen dürfte, wollen wir einen kurzen geschichtlichen Rück blick auf die Entwickelung der beiden kriegführenden Nationen werfen. In Frankreich wurde von ener gischen Königen frühzeitig die Staatsgewalt durch Unter drückung der Vasallen centralisirt und ein Einheitsstaat geschaffen, der uns so vielfach gefährlich geworden, zu fortgesetzten Kriegen und Verlusten von deutschem Grund und Boden geführt hat. Den entgegengesetzten Weg nahm die historische Entwickelung in Deutschland. Die deutschen Könige erfaßten die Idee des römischen Kaiserthums, jagten dem Phantome der römischen Kaiser krone nach, und vergeudeten ihre besten Kräfte in den Römerzügen. Sie wurden dadurch dem Vaterlande entfremdet und waren genöthigt, ihren Vasallen, veren Hülfe sie zu ihrer auswärtigen Politik bedurften, immer größere Rechte und Privilegien einzuräumen. Nach dem unglückseligen 30jähr. Kriege war „das heilige römische Reich deutscher Nation" zu einem Schatten geschwunden, die einzelnen Landesfürsten erlangten volle Souveränetät mnd die Zerklüftung das Vaterlandes war fertig. Dazu ckam der Religionshaß und „die Jesuiten und Theologen wußten," nach den Worten Johannes von Müllers, „den vaterländischen Verstand solchermaßen zu verrücken, daß nicht nur aller Fortgang echter Lebensweisheit und des guten Geschmackes verabsäumt und Hinter trieben, sondern auch ein Fürst mehr und mehr von dem andern, jedermann aber dem Vaterlands gefühl entfremdet wurde." Jedes Land und Länd chen organisirte sich nach eigenem Belieben in Heer wesen, in Gesetzgebung und Verwaltung; die deutschen Stammesgenoffeu hielten sich nicht mehr für Landsleute, der Sachse betrachtete und behandelte bis auf die neueste Zeit den Preußen, den Bayer rc. als Ausländer, so gut wie den Russen, den Franzosen. In diesem zer klüfteten machtlosen Zustand fand der große Eroberer Napoleon I. das deutsche Reich. Kein Wunder, daß er mit leichter Mühe dieses Schattenreich zertrümmern und einen kleinen Lheil der kleineren Fürsten in den Rheinbund zwingen konnte, seinen Fahnen zu folgen und ihre Truppen zum Kampfe gegen ihre eigenen deutschen Landsleute zu stellen. Damals erkannten unsere besten Patrioten den Grund des nationalen Un glücks, die Vernachlässigung deutscher patrio tischer Gesinnung und ihrer Grundlagen, deutscher Verfassung, deutscher Nationalfreiheit und Einheit. Der große Staatsmann Freiherr von Stein schrieb 1812: „Ich habe nur ein Vaterland — das heißt Deutschland, und da ich nach alter Verfassung nur ihm und keinem besonderen Theile angehöre (Stein war einer der ehemaligen Reichsritter), so bin ich auch nur ihm und nicht einem Theile desselben von ganzem Herzen ergebe». — Mein Wunsch ist, daß Deutschland stets groß und stark werde, um seine Selbstständigkeit, Unabhängigkeit und Nationalität wieder zu erlangen und Beides in seiner Lage zwischen Rußland und Frank reich zu behaupten. Das ist das Interesse der Nation und ganz Europa's; es kann auf dem Wege alter, zer fallener und verfaulter Formen nicht erhalten werden." Doch der auf dem Wiener Congreß abgeschlossene deutsche Staatenbund zeigte sich unfähig, die Zusage der Her stellung deutscher nationaler Einheit und Freiheit durch eine Verfassung zu erfüllen. Die Nation selbst und namentlich die Landstände der Einzelländer nahmen den Kampf tapfer auf und erhoben sich 1848 muthig für den Sieg freier nationaler Verfassung. Nochmals siegte jedoch die Reaction, und das Verfassungswerk der deutschen Nationalversammlung in Frankfurt blieb ein todter Buchstabe. Doch aus den Geistern war das Ideal nationaler Einheit und Freiheit nicht zu bannen; die Schleswig-Holsteinsche Frage nährte das glimmende Feuer; in der Presse, in den Schützen-, Turner- und Sängerfesten schlug es zu Hellen Flammen auf und dem Tieferblickenden konnte nicht entgehen, daß sich in diesem idealen Strome eine Kraft zeige, die sich dermaleinst durchsetzen werde, koste es, was es wolle. Da war es der gegenwärtige Bundeskanzler, Graf Bismarck, welcher dieser idealen Strömung eine reelle Gestalt zu geben unternahm. Mit scharfem Blick erkannte derselbe, daß der Grundgedanke der Reichs verfassung von 1849, ein Deutschland unter Preußens Führung zu constituiren, die einzig mögliche Lösung der deutschen Verfassungsfrage, nur ausführbar sei, wenn zunächst das aus so verschiedenen Völkerschaften zusemmengesetzte Oesterreich genöthigt werde, aus dem deutschen Bunde auszuscheiden. Auf friedlichem Wege war dieser Plan nicht ausführbar und deshalb wurde der Krieg von 1866 unternommen. Es war eine schmerzhafte, aber nothwendige Operation, um Leib und Leben der Mutter Germania zu retten. Die über raschenden Resultate dieses Krieges ermöglichten die Erreichung dieses Zieles. In Folge des Prager Friedens schied Oesterreich aus dem deutschen Bunde aus, die Norddeutsche Bundesverfassung trat ins Leben und — was die Hauptsache ist — die Wehrkraft der ge- sammten Nation wurde unter Preußens Führung zu sammengerafft. In ruhiger Entwickelung hat die neue Verfassung vier Jahre gearbeitet und viel Gutes im