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In der Nacht vom 31. Juli zum 1. August 1928 wurden > in Dresden zwei Hilferufe laut. Es war der fünfte und sechste Hilferuf innerhalb sechs Jahren, ,« denen Hanns Rast, der verzogene und verwöhnte Liebling der schönen Frau Agnes Rast, Veranlassung gab. Die Hilferufe verhallten fast ungehört. Ungehört von sterblichen Menschen. Aber sie wurden in dem großen Schicksalsbuche eingetragen, das Zeuge und Richter zu gleich sein wird, wenn die Stunde der Abrechnung für die Ewigkeit gekommen ist. Der erste Hilferuf erklang in dem schönen Villengrund stück Kaitzer Straße 211 in dem freundlichen, sonnigen Schlafzimmer der schönen Frau Agnes Rast. Er kam von den blaffen Lippen der Mutter des Lieblings. Nur eines Menschen Ohr hörte den Ruf mit dem geschärften Ohr der Liebe. Aber er konnte keine Hilfe bringen, weil der Ruf sich nicht wiederholte und der Hörer glauben mußte, daß er das Opfer einer Täuschung seiner erregten Sinne geworden sei. Niemand hörte den zweiten Hilferuf außer denen, die ihn verschuldeten. Die Chemnitzer Straße war in der mitternächtigen Stunde stets einsam. Selten, daß der Schritt eines nächtlichen Wanderers erklang. Der Schrei wurde in der kleinen, freundlichen Villa ausgestoßen, hinter der die großen Gebäude der Fabrik kosmetischer Bedarfsartikel des Herrn Arno Kummer lagen. Die schweren Teppiche und dicken Portieren im Schlafzimmer des Hausherrn fingen den Ruf auf und dämpften den Schall, so daß er nicht zu den Mansardenzimmern der Hausdame und des Dienstmädchens dringen könnt» Heinz Crusius stand gelangweilt am Fenster seines Abteils und blickte auf die vorüberfliegende Landschaft. Er machte den kleinen Sprung von Neapel nach Dresden, um im Auftrage des „Kosmopolit* im Theater der Fünf tausend, dem Zirkus Sarrasani, eine Sensation von ganz ungeheuerlicher Kühnheit in Bildern festzuhalten. Ein »fliegender Mensch* hatte sich am Trapez einen neuen Trick ausgcdacht, wie er in solcher Vollendung noch in keinem der fünf Erdteile zu sehen war. Der Zug rollte durch das schöne Thüringer Land. Die romantische Wartburg tauchte auf und verschwand wieder, ohne Heinz Crusius sonderlich zu fesseln. Er hatte die landschaftlichen Wunder fast der ganzen Welt gesehen, das Gebrüll des Niagara-Falles gehört, am kochenden Geiser Islands mit gewohntem Gleichmut geknipst und war im glühenden Sonnenbrand auf die Pyramide von Gizeh geklettert. Ihm sagten die lieblichen Höhen Thüringens mit ihren geheimnisvoll rauschenden Wäldern nichts Neues. Der Zug rollte in den Bahnhof von Erfurt ein. »Zehn Minuten Aufenthalt!* sagte der freundliche Schaffner zu Heinz Crusius, dessen weltmännische Sicherheit ihn impo nierte. »Ist brav!* lächelte CrusiuS und reichte dem Manne eine Zigarre. »Kann man sich wenigstens mal die Beine vertreten.* Er arbeitete sich durch den schmalen Durchgang zur Tür und wollte absteigen, als ein Herr den Fuß aufs Trittbrett setzte. »Einen Augenblick!* rief Crusius ungeduldig. »Erst absreigen lassen. Es ist noch genug Platz!* Der andere blickte beim Klang der Stimme überrascht auf und zog den Fuß vom Trittbrett zurück. Er zögerte einen Augenblick, dann rief er freudig bewegt: »Heinz Crusius! Der berühmte Lichtbildner und Welt reisende! Bist du es wirklich? Oder ist es nur der Geist meines Freundes aus schönen Jugendtagen?* »Ich und mein Geist*, lachte Crusius. »Den nehme ich auf meinen Fahrten nämlich immer mit. Hin und wieder braucht man ihn. Horst Kupfer, alter Junge, woher weißt du, daß ich mit diesem Zuge reise? Ich nehme an, daß du dich höchst eigenbeinig herbemühtest, um mich festlich zu begrüßen. Wo ünd die EbrenjunafrauenL* Pause; sie werden erst noch auf neu gebügelt*/ lachte Horst Kupfer. Er schüttelt« dem so überraschend, wiedergefundenen Freund immer «och di« Hand. »Du mußt dich mit mir begnügen. Ich will auch ganz ehrlich sein: deinetwegen komme ich nicht. Ich wußte leider nichts davon, daß dieser Zug den berühmten Wellreisenden Heinz Crusius dem glücklichen Erfurt bringen wird. Sonst hätte ich selbstverständlich für Tusch und Ehren jungfrauen gesorgt.* »Ein Glas kühles Bier w" ' —lieber*, meinte CrusiuS ünd befreite seine arg zerschüttelte Hand aus dem harten Griff Horst Kupfers. »Prosaisch und materialistisch bist du geworden. Einst war es anders. Da wärst du für einen «ran, Ehrens jungfrauen nüchtern aufs Matterhorn gestiegen.* »Man ist eben verwöhnt. Und man wird alt. Aber' nun sage: Was führt dich her? Oder soll der Zug pich' sortführen?* »Er soll mich entführen. Ich fahre nach Dresden. Dort tagt ein Historiker-Kongreß, an dem ich teilnehmen will.*' »Das ist herrlich. Gott segne diesen Kongreß und schenke ihm langes Leben, denn er ließ mich den Freunl» meiner goldenen Jugendlahre finden, von dem ich seit — nun, wie lange ist's her?* »Sieben, acht Jahre können cs sein, daß ich von dir nur noch das hörte, was die begeisterten Zeitungen über dich schrieben, Heinz!* »So lange schon? Ist dir's immer gut gegangen, Horst? Hoffentlich. Doch das erzählst du mir dann im Speisewagen bei einem Glase Wein * »Du bleibst nicht in Erfurt? Fährst Weiler? Das ist herrlich. Nun segne auch ich den Zufall, der uns hier zusammenführte. Du fährst — doch nicht etwa nach Dresden?* Crusius nickte vergnügt, schob seinen Arm unter den des Freundes und zog ihn mit sich fort. „Komm, Jungchen, nur ein kurzer Spaziergang ft Meine Beine sind steif geworden. Ich komme zwar nur von Neapel, aber schließlich sehnt man sich doch noch nach etwas Bewegung.* Horst Kupfers ernstes, männliches Gesicht, dessen Ober» lippe ein kurzgcschnittenes Bärtchen zierte, strahlte. »Daß du nach Dresden fährst?! In einem Atemzuge von Neapel aus. Aber ich weiß, für dich ist das nur eine Spazierfahrt. Ich habe von deinen Weltreisen gehört. Alles spricht von dir und deinen oft so tollkühnen Aus- nahmen. Aber es ist »icht verwunderlich» daß aus dem tollen Heinz unserer Jungeujahre ein abenteuernder Held wurde. Was führt dich nach Dresden?* »Dort will sich einer im Zirkus den Hals brechen. Das dürfte ich nicht versäumen, meinte mein Verleger. Er meinte es natürlich funkentclcgraphisch, denn anders reden, wir selten zusammen. So stieg ich denn am blauen Golf in die Dampfdroschke und sauste nun nach Dresden. Bald, werde ich mit meinem eigenen Flugzeug reisen. Es ist schon fertig, und mein Führer und künftiger Rcisegcnoffe' übt sich augenblicklich für seine neue Tätigkeit. Es ist gut, daß er noch nicht ganz so weit ist, sonst hätten wir uns heute nicht gefunden.* Sie waren plaudernd auf und ab gewandert. Reisende kamen und gingen. Ein Dreikäsehoch von Pikkolo pricÄ mit lauter Stimme „warme Würstchen* an, ein änderet, wollte die Reisenden mit Aromatik beglücken, dem bitter süßen Kräutcrschnaps, an dessen Dasein man auf fast allen Bahnhöfen Thüringens erinnert wird. Crusius kaust« dem Jungen ein Fläschchen mit Aromatik ab und sagte lachend zu Horst: »Es ist anzunehmcn, daß die Thüringer Bahnhofs pikkolos ein Komplott geschmiedet und daß ihre Brot-» Herren eine angenehme Erfindung gemacht haben, mit deren HUfe das „r* im Aromatik und in den warmen Würstchen mit solcher vollendeten Schönheit heraus geschmettert werden kann. Leute, die warme Würstchen wohl essen, Aromatik Wohl hinunterschlürfen, beides aber nicht aussvrechcn könncn.,sollen die Pikkolo« um ihx« Kunstfertigkeit beneiden. Das wurde mir am Fuhr ves Chimborasso von einem Globetrotter erzählt, der von den drcihundertfünsundsechzig Tagen des Jahres dreihundert- vicrundsechzig auf Reisen ist. Ich gehöre zu den Neidern. Wenn ich nicht schon zu alt wäre, würde ich Pikkolo in Thüringen und verkaufte Arrromatik!* »Ich finde, daß du cs ganz gut kannst', meinte Horst Kupfer anerkennend. »Beinah vollendet * »Vielleicht war einer meiner Vorfahren in Thüringen Pikkolo*, erklärte Crusius gedankenvoll. »Vererbung! Warum sollen uns unsere Vorfahren nur ihre Gelder ver machen?* »Einsteigen, meine Herren!' rief der freundlich« Schaffner, der eifrig mit dem Schließen der Wagentüren beschäftigt war. »Es geht gleich weiter.' »Es geht gleich weiter', ahmte Crusius den Schaffner nach, nachdem er das Trittbrett erklommen hatte. »Der Mann spricht ein großes Wort gelassen aus. Es .geht' weiter. Anders darf man das Schneckentempo eurer so genannten Schnellzüge auch nicht bezeichnen. Bist du schon mal mit einem Pullman Car in Amerika gefahren? Dort darf man .fahren' sagen. Aber hier .geht' es weiter. Wir wollen auch weitergchen. Belege dir in meinem Abteil einen Platz, dann wandern wir in den Speisewagen, um unserer alten Freundschaft ein Wciheopfer mit edlem Rheinwein darzubringen.' Horst Kupfer folgte dem Freund lächelnd. Verstohlen, musterte er dessen scharfgeschnittcnes, ausdrucksvolles Ge sicht mit der feinen, kühnen Rase und den Hellen Augen. Crusius war bartlos, einen Bart hätte man sich in dies eigenartige Gesicht auch nicht denken können. Der Körper war schlank und kräftig; man sah es ihm an, daß CrusiuS Sport und gymnastische Uebungcn pflegte. Der gegenüberliegende Eckplatz war frei. Horst belegte ibn mit seinem Ucberzieher; dann suchten sie den Speise wagen auf. »Das gemeinschaftliche Abendessen beginnt in einer Viertelstunde, meine Herren!* erklärte der Oberkellner des Speisewagens. »Vorher können wir nichts servieren.' »Schön! Dann geben Sie uns zwei Plätze an einem Keinen Tische, mein Lieber!* meinte Crusius gemütlich. »Eine nette Ecke. Wir werden dort geduldig warten, bis man die Zeit für gekommen erachten wird, unser Geld ' »ldvollst anzunehmen.* Der Oberkellner wleS auf das Ecktlschchen nedcn der muneren Durchgangstür: »Eigentlich schon vergeben, meme Herren! Aber ich werde cs arrangieren. Befehle» die Herren Wein?* „Wenn wir in dem freien Deutschland .befehlen' dürfen?* fragte Crusius sarkastisch. »Dann bitte ich um «ine gute Flasch« Rheinwein. Die Wahl überlasse ich Ihrer gewiß bewährten Kennerschaft. Bringen Sie mi» den Wein, den Sie trinken würden, wenn Sie mit Ihre» verehrten Frau Gemahlin, zum ersten Male allein, aus der Hochzeitsreise sind * Der Oberkellner schmunzelte: »Die Herren werde» z» frieden sein. Ich habe noch drei Flaschen Johannisberger Kabinett, etwas Auserlesenes. Sie stehen nicht auf de» Weinkarte, sind nur für bevorzugte Gäste und ungcwöhn- liche Gelegenheiten * »Die bevorzugten Gäste danken, Herr Oberkellner! Bringen Sie, was Ihre Güte uns zugedacht hat. Schiebe« Sie, wenn es möglich ist, einen des Weines würdige« Gang in das gemeinsame Abendessen ein. Wenn sich jemand beschwert, so sagen Sie ihm: ich sei der Ober- zcremonienmeister des Königs von Siam. Ich bin e« zwar noch nicht, hoffe aber, cs einmal zu werden.* »Du bist immer noch der Alte', lächelte Horst Kupfer und Köpfte dem Freund« auf die Schuller. »Wirst spielend mit jedem Menschen fertig. Wurdest «S sogar mit unseren Lehrern * »Nicht mit allen*, meinte Crusius nachdenklich. »Unser Re; hatte eine Art, mit mir zu verkehren, die mir manche« von meinem allerdings recht kräftig ausgebildeten Selbst- hLwusttirin natun. Lr war wie das Mädchen aus der Hlemve: uns ccue Löurdc, eine Höhe entfernte die Ver, rraulichkeit. So heißt s ja wohl in Schiller« .Mädchen au» der Fremde ? Du weißt, Gedichte auswendig lernen, wa» eine meiner schwachen Seiten. Rur den .Ring des Poly« krates' beherrschte ich glänzend. Ich sage eine, weil ebeq jener Rex behauptete, daß ich mehrere schwache Seite» gehabt hätte. Er mußte es wissen, denn er war unser Häuptling. O tempora, o mores. Doch nun erzähle: Wiß ist « dir ergangen? Verliebt? Verlobt? Oder gar ver« heiratet? Den Gichtring schon in die Westentasche gesteckt? Pfui, wie unmoralisch! Was machen die unschuldige« Kindlein zu Hause? Sie beten jeden Abend für den tugendhaften Vater.* Ueber Horst «upfers Gdsicht huschte ein Schatten. Er f»hr sich mit der Hand über die Stirn, als wolle er trübe Gedanken verscheuche«. »Laß uns heute nicht davon sprechen*, sagt« er leise. »Ich habe geliebt, aber das Schicksal brachte uns aus einander. Ich kann sie nicht vergessen, wenn ich auch nie wieder von ihr hörte. Keine andere vermochte mich z» fesseln. Es war auch wenig Gelegenheit dazu, denn ich habe die letzten Jahren im Ausland, über Büchern und Pergamenten grübelnd, zugebracht. Es war wenig Sonne auf meinem Wege.* Crusius reichte dem Freunde die Hand und schüttelte dessen Rechte herzlich: »Verzeih' meine burschikose Art. Du weißt, wie es gemeint ist.* Horst Kupfer lächelte: „Du brauchst dich nicht zu enh schuldigen. Ich wünschte, ich hätte etwas von deiner fröh lichen und selbstsicheren Art, dann litte ich Wohl nicht mehr an dieser größten Enttäuschung meines Lebens. Nun laß uns auf unser Wiedersehen anstoßen!* Der Oberkellner hatte eine Wasche Wein und zwei Römer auf den Tisch gestellt. Mit einer fast zärtlichen Bewegung goß er den goldNaren Wein in die Gläser. Die Freunde stießen an: »Dein Wohl, alter Junge!* sagte Crusius und genoß die duftende Blume des Weins, ehe er ihn mit Kenner miene schlürfte. »Daß du noch neunhundertneunundneunzig interessiert« Abenteuer erleben und im Bild verewigen mögest*, rief Horst Kupfer und hob das Glas gegen das Licht. Die Strahlen brachen sich, und der Wein glänzt« wie flüssige» Gold. »Danke!* lachte CrusiuS. »Ich bin auch mit neunhun- dertachtundneunzig zufrieden, denn ich fürchte, daß das neunhundertneunundncunzigste mir Unglück bringen würde. Es ist eine böse Zahl. Ich bin zwar nicht aber gläubischer, als es in unserem Rechtsstaats Deutschland polizeilich erlaubt ist, aber gegen diese heilig« Dreincunig- keil hege ich doch Mißtrauen.* »Das wäre?* fragte Horst lächelnd, als der Freund mit einem verschmitzten Augenzwinkern schwieg. ,JH fürchte, dieses neunhundertneunundneunzigst« Abenteuer könnte daS Abenteuer meiner eigenen Hochzeit sein. Brr! DaS einzigste Erlebnis, bei dem ich das be kannte poetische Glänzen durch Abwesenheit vorziche» würde* »Ist das Ueberzeugung oder Marotte?* forschte jetzt Kupfer und sah dem Freund in die luftigen Augen. »Ich habe dich als einen sehr großen Frauenfreund in Er innerung* »Deine Erinnerung trügt dich nicht, Horst. Ich bin e« heute noch. Die Frau ist der einzigste Altar, vor dem ich knie. Sonst verrichte ich meine Andacht nur stehend * »Trotz dieser knienden Andacht fürchtest du dich vor dem .Abenteuer' der Hochzeit? Wie ist dieser Widerspruch zu verstehen?* »Ich möchte meine Altäre nicht zertrümmert sehen, neugieriger Horst. Jetzt bete ich Göttinnen an. Habe ich eine solche Göttin aber erst einmal eingefangen, plätscher« ich erst mit ihr im seichten Wasser der Alltäglichkeit, dann wird auch aus der göttlichsten Göttin ein Menschenkind mit all seinen Fehlern und Schwächen. Dem braven, kind lichen Heinz Crusius seine Ideale zu erkalten, ibn vo»