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stand dte grauenvolle Mttternachtsstunde des Wendepunkts vom 28. Februar zum 1. März deS JahreS 1922 wieder wr ihr auf. Sie hörte de« verzweifelten Hilferuf des »mgen Kandidaten Klaus Groterjan. »Nicht wahr*, fuhr Hanns melancholisch fort» »auch du bist entsetzt über eine solche Gemeinheit? Die Porto kaffe stimme nicht mehr. Das heißt mit anderen Worten: Du hast sie bestohlen!* Agnes Rast zuckte zusammen, dann blickte sie Hanns ängstlich ins Gesicht. Er hielt ihren prüfenden Blick ruhig aus, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Da zog sie ihn an ihre Brust und sagte weinend: »Nein, du gehst nicht wieder in das Geschäft. Es ist empörend! Ich werde die Leute verklagen!* »Das lasse nur, Mutter — mit solchen Menschen zieht man sich nicht auf dem Gericht herum. Herz ist ohnedies mit allen Hunden gehetzt, dem traue ich zu, daß er schwört: er habe gesehen, wie ich Geld aus der Kaffe nahm.' Diesmal dauerte es zwei Monate, bis Hanns wieder eine Lehrstelle fand. Gelegenheit, in ein Geschäft ein zutreten, bot sich wohl öfter, doch Hanns hatte immer etwas auszusctzen. Das eine war ihm zu groß, das andere nicht sein genug, bei einem dritten sagte ihm der Artikel nicht zu, mit dem die Firma handelte. Obwohl die Mutter anfing, sich um die Zukunft des Sohnes heimliche Sorgen zu machen, konnte sie sich doch nicht dazu ent schließen, mit Strenge darauf zu bestehen, daß er endlich eine geregelte Beschäftigung annehme. Sie hatte es ein mal versucht, als Hanns das sehr vorteilhafte Anerbieten eines bekannten Kaufmanns ablehnte, mit ungewohnter Strenge auf ihrem Willen zu bestehen, war aber von Hanns ganz offen ausgelacht worden. Wenn Agnes Rast ernst oder erregt war, zog sie die Stirn in tiefe Falten. HannS strich der Mutter lachend und übermütig über die gefurchte Stirn, als sie heftig sagte: »Hanns, ich wünsche aber, daß du das Anerbieten annimmfi.* »Mutti, laß daS Reibeisen fort! Das kann ich nicht leiden. Mütter braver Söhne müssen glatte Stirnen haben So*, neckte er, als sie gegen ihren Willen lächelte, »acht Tage war der Frosch jetzt krank — nun lacht er wieder, Gott sei Dank. Siehst du, wie schön du wieder bist! Du mußt immer lachen, Liebes. Mußt die schöne Frau Agnes . Rast sein. Run lasse daS alberne Geschäft, du wirst mich früh genug loswerden.* Loswerden — das war eS, was Agnes Rast im Innern ängstigte und sie immer wieder bewog, Hanns nach zugeben. Denn jetzt konnte sie ihren Jungen wenigstens genießen. Zwar schlief er morgens lange, well er abends mit seinen Freunden angeblich ost bis in die tiefe Nacht währende Besprechungen hatte; es blieben aber doch noch genug Tagesstunden übrig, an denen sich Hanns dei Mutter widmete. Dann war er stets der liebenswürdig« Plauderer, der zärtliche Sohn, in den Agnes rettungslos verliebt war, seitdem sie ihre Liebe zu Lothar Roiper be graben hatte. Hedwig Rast, Hanns' ältere Schwester, wußte von dev Ereignissen deS letzten Jahres nichts. Kurz bevor Sieg- fried Lohr Selbstmord verübte, verließ Hedwig di« Studlenanstalt und gleichzeitig Dresden. Sie hatte sich den Berechtigungsschein zum Univerfitätsstudtum er worben, das Dresdner Mädchengymnasium konnte ihr nichts mehr bieten. Run ging das ernste, ständig an sich und ihrer Aus bildung arbeitende Mädchen zunächst für ein halbes Jahi «ach Lausanne, um sich in der französische« Sprach« zv vervollkommnen. Als dieses Ziel erreicht war, fuhi Hedwig direkt von der Schweiz über den Kanal nach England. . . - . Dort blieb sie wieder ein Halbs- Jahr sn einem Privat- insttiut auf der somit«« JnM Wigtz^ um auch in der englischen Sprache perfekt zu werden. . Am Tage, an dem Ha«»S seine Lehrstelle bei Falk L Hera verlaffe» mußt« — er war keineSweas frei» ivmig gegangen, sondern Herr Herz hatte ihm die Tür ge wiesen —, wurde Hedwig aus England zurückerwartet Sie wollte erst einige Monate zu Hause bei der Mutter bleiben und dann die Universität in Freiburg in Breisgau beziehen. Um Mitternacht, in der Wende vom 13. zum 14. Ium des Jahres 1925, ertönte der dritte Hilferuf, dessen Ur heber Hanns Rast war. Er wurde in der Kaitzer Straße 211 laut. Der Hilferuf kam von Hedwig Nasts blassen Lippen, bevor sie in tiefe Ohnmacht sank, um dann von dem schweren Nervenfieber befallen zu werden» das ihrem jungen, kaum erblühten Leben beinahe ein jähes Ende bereitet hätte. Aber der Schnitter Tod meinte es noch einmal gnädig mit Mutter und Tochter. Der bittere Kelch ging an der schönen Frau Agnes Rast vorüber, sie behielt ihr wertvolles Kind. Hedwig war inzwischen neunzehn Jahre alt geworden. Sie blieb daß verschlossene, stille Geschöpf, das sie schon als Kind war, wozu die verkehrte Erziehung der Mutier, deren Vernachlässigung und beständige Zurücksetzung das Mädchen gemacht hatten. »Ich weiß nicht, was ich mit dem verstockten Mädel anfangen soll! Hedwig spricht nicht und vertraut mir nichts von ihrem Innenleben an. Es ist gerade so, als ob ich nicht da wäre.* So -tagte die schöne Frau Agnes Rast ost. Sie be dachte nicht, daß die Gründe für die Verschlossenheit des ernsten Mädchens ganz allein bet der Mutter zu suchen waren. Erst später, als die Verblendung endlich von den Augen der irregeleiteten Agnes Nast wich, als ihr Lieb ling rettungslos verloren war, kam der Mutter das Ver ständnis dafür, was sie sich alles hatte entgehen lassen, als sie das feine, tief empfindende und von Natur zärtlich veranlagte junge Geschöpf gewaltsam von sich fernhielt. Hedwig war hübsch. Keine Alllagsschönheit, sondern durchgeistigt und von wirklicher Vornehmheit. Verehrer, das, was man landläufig »Verehrer* nennt, hatte Hedwig aber trotzdem nicht. Sie besuchte nie die Tanzstunde und infolgedessen auch keine Bälle und Tanztees. Dafür ging sie fleißig ins Theater, in Konzerte und Vorträge. Heirats anträge hatte Hedwig trotz ihrer neunzehn Jahre und ihre- Vermögens noch nicht bekommen, während di« Mutter schon mit siebzehn Jahr« verheiratet war. Kurze Zeit nach ihrer Rückkehr aus England machte Hedwig im Theater die Bekanntschaft eines vielleicht acht undzwanzig Jahre alten, sehr klugen und liebenswürdige« Mannes, mit dem sie in ein lebhaftes Gespräch gekommen war. In beiden erwachte der Wunsch, die Bekanntschaft fortzusetzen. Der Zufall führte sie bald in einem Konzert wieder zusammen. Doktor Horst Kupfer bat Hedwig um die Erlaubnis, ihr und ihrer Mutter seine Aufwartung machen zu dürfen. Hedwig konnte und wollte nicht »ein sage«, obwohl ihr davor bangte, den Geliebten — das war er ihr innerlich vom ersten Augenblick an — in das HauS zu führen, in dem sie sich selbst wie eine Fremde fühlte. Horst Kupfer kam und gefiel Agnes Rast. Darüber war Hedwig ungemein glücklich. Sie fühlte «ine wärmere Regung für die Mutter in ihrem Herzen aufsteigen. Doktor Kupfer machte gern von der Erlaubnis Gebrauch, wieder zukommen. Er befestigte sich dabei in der Gunst beider Damen, denn sie wußten sein kluges, dabei festes und be stimmtes Wesen zu schätzen. Hedwig schätzte es, weil sie sich ihm verwandt fühlte; Agnes Rast achtete es, weil sie unbewußt das in ihm fand, was ihr selbst so ausgesprochen fehlte. Den jüngeren Bruder HedwigS hatte Doktor Kupfer bisher nicht rennengelernt. Hanns war noch immer ohne Beschäftigung und verbrachte die Abende auswärts imi Kreise seine, gleichgesinnten liederlichen Freund« und» Freundinnen. Inoden eleaanttn TaordielM Dresden- war der iusaa Mensch venevrer unv gern gesehener Gast. Wenn er nicht bei Kaff« war, was sich in letzter Zett ost ereignet«, fand Hanns immer einen gefälligen Kellner, der ihm nicht nur Kredit gab, sondern oft auch noch bares Geld lieh. Es kam Hanns so vor, als ob die Mutter sich ihm gegenüber geändert habe. Sie war nicht mehr so voll ständig erfüllt von ihrem Liebling als sonst, und sie schien auf einmal auch noch andere Interessen zu haben. Hin und wieder fiel in Gesprächen zwischen Mutter und Tochter der Name Horst Kupfer. Da wurde Hanns stutzig. Er wußte von diesem Horst Kupfer nichts, hatte früher nie von ihm gehört. Aus den argwöhnisch beob achteten Gesichtern von Mutter und Schwester erkannte er, daß beide sich für diesen Fremden interessierten. Nun wurde die Eifersucht in ihm wach. Er liebte die Mutter in seiner Art. Sie sollte ihm ganz allein gehören. Sollte nur für ihn da sein. Agnes Nast durste keine andern Götter neben ihrem Liebling haben. Er merkte, daß Horst Kupfer eigentlich Hedwigs wegen ins Haus kam. Der Fremde hatte aber auch die Mutter in seinen Bann geschlagen. Daran war allein Hedwig schuld. In seinem Herzen er wachte der Haß gegen die Schwester, die er niemals hatte leiden können. Plötzlich blieb Hanns abends zu Hause. Agnes Rasts schönem Gesicht sah man das Glück und die Freude dar über deutlich an. Wie abgeschnitten war die gemütliche und frohe Stim mung. Die gemütlichen Plauderstunden mit Doktor Horst Kupfer fanden jäh ihr Ende. Agnes Nast hatte, wie immer, nun bloß noch Interesse für den Sohn. Der Fremde war ihr nahezu lästig, zumal er im Beisein des Sohnes stiller und verschlossener wurde. Dessen laute, lärmende Lustigkeit war nicht seine Art, sie siel ihm auf die Nerven. Außerdem wurde der sonst weltgewandte Mann ver legen, weil ihm manches über das augenblickliche wilde Leben und Treiben des jungen, schönen Menschen, sowie auch über die Gründe seines Ausschluffes vom Vitztum- schen Gymnasium zu Ohren gekommen war. Das beengte den feinfühlenden Mann und machte ihn auch im Verkehr mit den Damen unsicher, so lächerlich ihm diese Scheu vielleicht auch erscheinen mochte. Hanns dagegen war der schweigsam gewordene, aber alles so unverschämt scharf beobachtende Fremde un angenehm. Er wünschte, ihn für immer aus dem Hause zu entfernen. Offen wollte er es nicht; überdies hing ihm die Portokaffenaffäre bei Falk L Herz, die durch Indis kretion des Personals bekannt geworden war, noch etwas hemmend an den Flügeln. Hanns wühlte deshalb heimlich. Zuerst hetzte er die Mutter gegen Doktor Kupfer auf. Als er sie auf seiner Seite wußte, spielte er mit offenen Karten. Daß er damit seiner Schwester, die er wegen ihrer »Zimperlichkeit* und ihres »geistigen Hochmuts* nicht liebte, noch extra einen Streich spielen konnte, machte für ihn die Sache pikant. Bet jeder Gelegenheit sah Horst Kupfer sich von Hanns gereizt, mit boshaften, spitzen Bemerkungen verfolgt und lächerlich gemacht. Das Heiligtum des Gastrechts war Hanns gleichgültig; dem ihm unangenehmen Menschen gegenüber kannte er eS nicht. Schon eine Reih« von Abenden währte der Kampf, von Hanns mit leidenschaftlicher Bosheit geführt, von Doktor Kupfer mit vornehmer Nichtachtung unerwidert gelassen. Schließlich veranstaltete Hanns mit bewußter Absicht eine Szene. Er gab Doktor Kupfer auf irgendeine gleichgültige Frage eine so ungezogene, beleidigende Ant wort, daß er sie unmöglich ruhig hinnehmen konnte. Mit mühsam gedämpfter Stimme sagt« der Doktor: »Fast möchte ich Ihnen auf Ihre Ungezogenheit die Antwort geben, die Ihne« gebührt, wenn ich eS nicht zu vermeiden wünscht«, das mir von Ihrer Mutter so liebenswürdig gewährte Gastrecht zu verletzen.* « »Gewährt« Sa st recht?' erwiderte Ha«ns laut und höhmisch. »Geduldet wohl, wie man daS ungebetene Un- ae^tftr dulden muß.gp«r nicht und nicht aern newäbrt.* Doktor Kupfer sprang erregt auf. Vern Gesicht war totenblaß, nur auf der hohen Stirn trat eine blaue Ader hervor. »Gnädige Frau*, sagte er mit vor Empörung zitternder Stimme, »Sie schweigen, wenn ein Gast Ihres HauseU von Ihrem Sohn grundlos beleidigt wird? Sie weis« das Ungeheuerliche nicht zurück, den Ungezogenen nicht t» feine Schranken?* Mit flammenden Augen stand Horst Kupfer vor d«r Frau des Hauses. Agnes Rast aber blickte verleg« zur Erde, zuckle mit der Achsel und schwieg. In SstttlichtM war die gut erzogene, immer rücksichtsvoll« F«u so eaö« seht über das Betragen ihres Lieblings, daß sie in» blick keine Worte fand. »Die Antwort tzt deutlich*, sagte Doktor S«ps«r LtÄ«, Mit einer stummen Verbeugung verließ er daS Hedwig war dem Gespräch mit entsetzten AngLr Aw folgt. Sie wollte reden, dem ungezogen« GuMo» Schweigen gebieten, dem Geliebten freundlich zuspsachs^ doch die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Sie wollt da» ihrem Sessel auffprtng«, auf HannS zustürzen, ihm dm» Mund schließen und den Geliebte« -»»rückhalt«, doch ltz» Körper war vor Entsetzen wie gelähmt. Das feinsinnige, ernst« Rädchen war durch die viel« vorausgegangenen abscheulichen Szenen, durch die go- hässigen Stichelei« des Bruder- gege« d« heimlich ge- liebten Mann so nervös überreizt, da- «in völliger Zu sammenbruch die unausbleibliche Folge davon war». Hedwig war ein zu fei» empfindender* vornehme- Ge schöpf, als daß sie den» ««verschämten Bruder i« der energischen Weise entgegeuzutreten vermocht hätte, wie et notwendig war und bei Hanns' Charakter auch Erfolg gehabt haben würde. Doktor Kupfer verließ, von niemand gehalten, da- Zimmer. In diesem Aug«blick drang ei« leiser Schrei von Hedwig Nasts blaffen Lippen; es war wie der Angst ruf eines zu Tode gehetzt« Vogels. Dann schwa«de« ihr die Sinne. Von den Türmen Dresdens verkündeten di« ehernen Glockenzungen die Mitternachtsstunde. Di« metal lischen Klänge geleiteten Horst Kupfer aus dem Hause, wo er das Glück gesund« hatte, um eS bald und jäh wieder zu verlieren. Als Hedwig endlich das volle Bewußtsein zurückbekam, lag sie im Bett; eine Krankenpflegerin saß an ihrer Seit«. »Habe ich lange geschlafen?* fragte daS blaffe Mädchen leise, erstaunt über die Anwesenheit einer Schwester. Die Schwester lächelte mild: »Lange? Heute find eS zehn Tage, daß ich gerufen wurde. DaS Fieber war sehr hitzig. Doch nun ist alles wieder gut. Es besteht keine Gefahr mehr für Sie, liebes Fräulein.* Hedwig hörte es wie im Traum. Ihre Augen blickte« groß und starr, Helles Entsetzen sprach aus ihnen: »Zehn Tage? Sv habe ich zehn Tage im Fieber gelegen? Und er? Oh, du mein Gott!* Ein heftiger Weinkrampf er schütterte ihr« Körper. »Nicht aufregen, Fräulein Hedwig, ja nicht aufregen! Schon die kleinste Erregung könnte leicht zu einem Rück fall führ«.* Die Trän« hatten der Kranken Kräfte erschöpft. Ge duldig und still ließ sie sich von der Schwester zurückleg« und schlief ein. AlS Hedwig wieder etwas zu Kräfte« gekommen war und die Feder halten komtte, schrieb sie dem Geliebte». Di« freundlich« Schwester übernahm die Besorgung deS Briefes, den Hedwig niemand aus dem Hause anvertraue« wollte. Die von allem unterrichtet Schwester trug ihn selbst zu Doktor Küpser. Dort wurde ihr die Mitteilung, daß der heimlich Go, liebte ihres Pflegling- die Stadt am Tage vorher ver-> lassen hatte. Er hatte fein« amtlichen Verpflichtungen ganz plötzlich gelöst und war auf Reisen gegangen. Nie mand wußte wohin. Der Hausmeister vermutete, daß Doktor Kupfer nach Afrika oder Asten gereist fei, um histo rische Studien z« mach«. Doktor Kiffer wollte in d« nächsten Jabren nicht wieder nach Deutschland rurücd