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Dämmerung über de« Hof und verschwand in dec Gartenwohnung, in der einige bescheidene Quartiere sich befanden. Die weiße Gestalt eilte zwei Treppen hinauf nnd blieb vor der Türe stehen, die ein blankes Messing schild mit dem Namen ,Jrau von Lindner" trug, dann streckte sich die schlanke Hand der jungen Dame aus nnd schellte. „Mariechen — Sie?" rief eine freundliche Frauen stimme, und eine alte Dame zog das junge Mädchen in das dijnkle Borhaus. „Das ist aber lieb von Ihnen, daß Sie heute an uns dachten! Anna wird sich freuen!" „Wie geht es ihr heute?" fragte die jüngste Tochter Herrn von Heerbachs. „Nicht gut, die Nacht war schlecht und die Schmerzen groß. Kommen Sie, liebes Kind, ich will gleich Licht machen. Wir saßen bisher im Zwielicht; Annchen schlum merte, und ich wagte nicht zn stören." „O, dann will ich es auch nicht, ich gehe lieber." „Nein, bitte, kommen Sie. Anna hat sich den ganzen Tag nach Ihnen gesehnt. Sie wäre traurig, wenn ich Sie gehen ließe." Sie traten in den kleinen Salon. Leise beugte sich Marie über das Ruhebett, auf dem unter einer Decke ein junges Mädchen lag. Eine schwache Stimme hieß sie willkommen, und eine fieberheiße Hand streckte sich Marie Heerbach entgegen. Als das gedämpfte Licht das schlichte Zimmer erhellte, »oandte sich das bleiche Gesicht der Leidenden der Freundin zn. Sehr zart und gebrechlich sah die Tochter der Amtsrätin Lindner aus. Große, dunkle Augen lagen eingesunken unter den Brauen, müde hoben sich die Lider. Tas feine, ovale Gesicht war hübsch und anziehend, aber es trug den Stempel des Leidens. Traurig stand die Mutter neben der Chaiselongue und blickte aus ihr Kind nieder. „Wie sreue ich mich. Dich in Deinen» Ballstaat zu sehen," sagte Anna, „es war mein stiller Wunsch. Cs ist ja Dein erster Ball, nicht wahr?" „Ja, und ich habe tüchtiges Lampenfieber. All diese vielen fremden Menschen soll ich kennen lernen! Ter Kreis, in dem sie leben, war uns bisher fremd; ich fühle mich in ihm nicht heimisch und bedauere Olga, die durch ihre Heirat mit Lothar dorthin verschlagen wird." „Aber es ist doch ihr freier Wille, Mariechen," sagte Fräulein von Lindner, „Deine Schwester liebt ihren Bräutigam." „Sie glaubt es wenigstens. O, ich hatte mir etwas ganz anderes für sie gewünscht! Ein Mann, der aus unserem Kreise ist und kein solcher Geldsack wie Lothar. Bei Eßlingers fängt der Mensch erst an, wenn er so und so viel im Beutel hat. Nein, nein, ich könnte nie an solchem Protzen Gefallen finden." Nnd Marie schüttelte das blonde Köpfchen energisch. Seit mehreren ^hren bewohnte die verwitwete Amtsrätin v. Lindner eine Wohnung im Gartenhause derselben Straße, in der Heerbachs lebten. Ihren be scheideneren Mitteln waren die vier kleinen, aber freundlichen Zimmer entsprechend. Sehr einfach sahen die alten, verbrauchten Möbel aus, die Tapeten waren billig, die Decke niedrig. Trotzdem heimelte das Quartier der Willve an, es lag bei aller Schlichtheit etwas Zeines darin, und die noch schlanke, vornehme alte Dame mit den weißen Scheiteln paßte hinein in oieses bescheidene Milieu. ' Marie Heerbach und Anna Lindner waren Schul freundinnen, kannten sich seit Jähren und verkehrten viel zusammen. Anna hatte ihr Lehrerinnenexamen gemacht, und -war mit Auszeichnung, denn sie war begäbt und sttebsam. Da warf eine Krankheit sie nieder, «in Lungenspitzenkatarrh infolge einer vernachlässigter» Influenza. Und die arme Mutter mußte ihr Kind leiden sehen, hatte nicht die Mittel zu einer Badekur, die ihrem Liebling Genesung gebracht hätte. (Forts, folgt.) 4 Ne«. Niemand flickt ein alt Kleid mit einem Lappen vo« neuem Tuch; denn der Lappen reißt doch wieder vom Kleid, und der Riß wird ärger (Matth. !>, 16). Diiioen an der belebten Straße wohnte »ine stille, sparsame Familie. Und besonders still und sparsam war die fleißige Hausfrau. Kein Pfennig durfte aus ihrer WirffchaftSkaffe wandern, über dessen Zweck nicht gan- genau nachgedacht worden wäre. Da brachte eines Morgens der Postbote einen weißen, großen Vries. DaS war eine große Botschaft: die ganze Familie sollte hinüber zur großen Stadt kommen, um der Freundin Hochzeit mitzufeiern. Die Kinder jubelte», der Mutter Antlitz strahlte. Aber bald kam der nüchterne Sinn wieder zur Herrschaft. Dev Kleiderschrank wird durchforscht, richtig, da hängen ja noch Kleider von früheren Jahren. Sie lassen sich gewiß wieder Herrichten, und über ein paar beschädigte Stellen helfe» neue Flecken hinweg. Rastlos eilt die Nadel aus und nieder, bald ist da« Kleid vollendet, kaum steht man, wo der neue Stoff aufgesetzt wurde. Aber o weh, alS die Tochter nun da« Kleid anzieht und fröhlichen Schritte» durchs Zimmer stolziert, da dehnt sich da» Gewand, e« spannt, e» reißt — der alte Stoff war zu morsch, und der Riß ist ärger als zuvor. Die Mutter aber erkennt eS: hier ist keine Sparsamkeit am Platze, hier hilft da» Festhalten am Alten nicht», hier muß alles ne»» werden, gänzlich neu. SS lebte»» willige, edle Menschen im jüdischen Volke, als Jesu» mit seiner P edigt dar Land ersüllte. Gern gingen sie in die Nachbarorte, wenn sie erfahren hatten, daß er, der Große, dort wieder einkehren wollte. Sern nahmen sie seine Lehren und Ratschläge an, gern ließen sie die Funken der GlaubenSbegeistrrung, die aus seinem Herzen so wunderbar aufsprühten, auch in ihr« Herzen fallen. Sie wußten «»: auf ein große«, heiliges Hoch,«US, fest gilt e» sich zu bereiten, wenn nun Gott den Seinen nahetreten will in der GlaubenSgemeinde. Das Hochzeit«- gewand muß auch zurechtgelegt werden, ihr Wandel mit samt ihren Anschauungen und Eitlen muß erneuert werden. Aber sie besaßen auch etwa« von der falschen Sparsamkeit, sie glaubten, die neuen hohen GlaubenSantriebe, die Jesu« ihnen brachte, könnten st« getrost al« neue Stücken aus da» alte Kleid aufnähen, um seine Schäden damit au»« zubefsern, im übrigen aber könne da« alle Gewand, di« alte religiöse Anschauungsweise mit ihre» Fastengeboten und ihren Opfern und ihrem veräußerlichten Tempelkult ruhig bleiben. Denen sagt der Herr: seht euch vor! bald werdet ihr empfinden, daß dar Neue sich nicht an da« Alt« anfügen läßt, sondern daß eS abreißt und ärger wird al« zuvor. Denn wer zur Gemeinde Jesu gehören will, muß ganz neu werden, alle» muß von seinem Geiste durch« weht sein. ES leben auch iu unfern Tagen Menschen, die gern ernste Christen sein möchten. Gern wollen auch sie Jesu heilige Weisungen befolgen, da sie r» fühlen: dort gibt r« allein Glück. Aber auch sie denken: ich brauche ja nur ans mein alte» Wesen diese einzelnen neuen Stücken auf zulegen und aufzunähen, da kann der alte Mensch mit seinen kleinen Begierden ruhig fortbestehen. Denen sagt der Herr Jesu« auch heute noch : Nein! Da« ist ein falscher Weg, der nie zum Ziel« führen kann l Wer ein Christ sein will im wahren Sinne, der muß mit einem energischen Ruck von feinem ganzen alten Wesen «drücken, der muß alle« unter da» scharfe Messer der Selbstkritik nehmen, der muß alle Steine wieder abtragen, di« er bisher aufeinander geschichtet hatte. Denn »S gilt nun alle», auch da» ge ringste, nach einem höheren LebenSplane zu bauen, nach dem LebenSplane, zu dem Jesu» un» anleitet. Dann erst wird daraus ein Leben, da« Gott gefällt und un« wahr haft fördert. Darum kein Flickwerk, sondern ei» neueSGewandl «« kostet viel — aber e« schmückt die Seele mit bleibendem Schmuck! Sieh doch einmal mit solchen Gedanken dein Gewand an! R. Druck und Verlag von Langer L Winterlich, Riesa. — Für die Redaktion verantwortlich: Arthur Hähnel, Riesa. Erzähler an der Elbe. Belletr. Gratisbeilage zum „Riesaer Tageblatt". ' R». 4. Mei«, de» 24. J«>m«r 1SL4 S7. JAtzrg. Hebers Jahr. Roman von Baronin G. v. Schlippenbach (Herbert Rivulet). Fortsetzung. Vor zwei Jähren war es gewesen, da lernte Klingen im Manöver die Familie des Freiherr»» von Hcerbach kennen. Sie bestand aus dem Referendar Hermann und zwei Töchtern, der zwanzigjährigen Olga und dem Backfischchen, der hübsche» DLarie. Waldemar fühlte sich durch das biedere, offene Wese»» des Regierungsratcs von Heerbach sogleich angenehm berührt; in dessen Frau lernte er eine feingebildete, wahrhaft vornehme Dame kennen. Und Olga erst! Was Waldemar bisher nicht geglaubt, wurde zur Wahrheit: sei,» noch völlig unberührtes Herz pochte in heißen, schnellen Schlägen bei der nähere,» Be kanntschaft mit dem schönen, liebenswürdigen Mädchen, das seinem weiblichen iFdeal entsprach. Tic kurzen glücklichen Täge entschwanden wie ein Traum. Tie Regimentsmusik blies zum Abschiede, die munteren Töne hallten durch die klare Herbstluft. Stramm und hochaufgerichtet marschierte der Leutnant Waldemar von Klingen an der Spitze seiner Soldaten vorüber. Auf der Freitreppe des Herren hauses standen die Damen, während die männliche»» Bewohner den abziehenden Kriegern zu Pferde das Geleit gaben. Ein wahrer Rege»» von Blnmen fiel auf die Söhne des Mars, als sie mit klingendem Spiel dem gastlichen Hause de» Rücken kehrten. Waldemar hob das Haupt und salutierte mit dem Tegen. Er blickte noch einmal in das süße Antlitz, in die träume rischen blauen Augen Olga von Heerbachs. Sie sahen heute so ernst aus, eine leise Mauer lag «tt ihnen. Ihre weihe Hand »varf ihm eine Blüte zu, eine eben er schlossene Rosenknospc. Er hob sie auf. Die Rechte an der Mütze, dankte er. Dann waren die Soldaten und ihr junger Führer weitergezogen. Zwei Mädchen augen bargen keusch das cmporquellende, verräterische Naß unter den seidenen Wimpern. Ter einsame Jänn am Fenster sieht alles deutlich vor sich. Er sieht die schlanke, annmtige Gestalt mit den weichen Bewegungen, das goldblonde Köpfchen, das feine Gesicht, und er glaubt, ihre Stimme zu hören, den Zauber ihrer Nähe zu spüren. Tic Erinne rung schlägt die Flügel nm ihn nnd trägt ihn in die Vergangenheit zurück. — Und wie lau» es später? i Ta kam der Befehl eines mehrwöchigen Kom mandos na.ch Spandau für den Leutnant von Klingen. Ter Onkel hörte davon und bewilligte den» Reffens für diese Zeit eine Extrazulage. „Nicht mehr als nötig, damit Tn nicht bummelst," hieß es in dem Briefe. Wer war glücklicher als Waldemar. Er freute sich, Berlin kennen zu lernen, — aber noch mehr frc»»te er sich, Olga wiederzusehen, mit der sich seine Gedanken unausgesetzt beschäftigten. Und nun steht er vor ihr, nnd die Freude, sie endlich begrüßen zu dürfen, strahlt aus seinen Augen. Irrt er sich, oder entdeckt er auch in ihren» Gesicht einen leisen Abglanz dessen, »Ms er fühlt? Tas gesellige Leben führt sie oft zusammen; sie sehen sich im Hause des Regierungsrates, auf den Bällen nnd Reunions.. O daß er sprechen könnte, wie er wollte, daß er ihr lagen könnte, wie heiß er sie liebt! Aber Klingen ist ein Ehrenmann. Er weiß, daß es ein Unrecht ist, ei» Mädchen aussichtslos an sich zu binde». Bis er Haupt mann ist, dauert es noch Jahre, und auch dann ist ES ausgeschlossen, daß er um Olga freien kann. Wie schwer die Armut drückt! Einmal treffen sie sich noch allein. Es war iu der Nationalgalerie, wo Olga, die ein hübsches Maltalent besitzt, ein Bild kopierte. Ohne vorherige Verab redung jähen sie sich eines Morgens dort; zwei Tage nachher mußte Waldemar in feine Garnison zurück kehren. — Sie hatten ein Bielliebchen gegessen, das bisher noch nicht zum Austrag gekommen war. — Wie Klingen so unerwartet zu ihr trat, blickte Olga hold verwirrt zu ihm auf. Eine große Freude in sünea Zügen, aber sie sprachen beide sehr ruhig über gleich gültige Tinge, über die Gemälde und über Kunst. Klingen hat viel gelesen und sich weitergebildet; er hat reges Interesse und Verständnis für alle« Schöne. Olga legte ihr Malgerät zusammen; dabei fiel ei« Pinsel zu Boden. Waldemar hob ihn auf und reicht« ihn dem jungen Mädchen. „Guten Morgen, Bielliebchen!" rief er fröhlich „O, verloren!" sagte sie bedauernd, „uno ich war doch so fest entschlossen zu gewinnen." Sie ginge»» zusammen diirch die Säle uno setzten sich schließlich in eine lauschige Ecke, wo sie allein waren. Eine schwüle Pause. Sie fühlte seinen liebkosenden Blick auf jich ruhen und tvagte kein Wort. „Was soll ich :Ihnen geben?" fragte sie endlich be klommen, „Sie haben ja unser Bielliebchen gewonnen, Herr Baron." „Ich wüßte wohl etwas," begann er zögernd „Nun, und tvas ist es?" ,Mr Bild, gnädiges Fräulein, als Erinnerung an die schönste Zeit meines Lebens." Sie lachte etwas verlegen. »Ist sie das?" fragte sie. „Ja, ich habe nicht geglaubt, daß man so glücklich sein kann " Und er sprach zu ihr von seinem Lebe«, von den so früh verstorbenen Eltern, von der Zeit im Kadetten haus und dem stillen, einförmigen Leben in der kleinen Garnison. Er sprach von seinem Ehrgeiz, es in seine« Beruf zu etwas zu bringen; sein verschlossenes Her öffnete sich ihr gegenüber. Sie saß ganz still neben ihm, die Weißen Hände im Schoße gefaltet, den blonden Kopf gesenkt. Und um sie her schauten die Meisterwerke der Maler auf das junge Paar nieder. „Sie wollen zur Kriegsakademie?" fragte Olga leise. ,/Ja, »ach zwei Jahren — dann sehen wir un« wieder." Sie erhob sich vom Sofa und sagte, daß sie nun nach Hause müßte. „Nnd Ihr Bild? Bekomme ich «S, gnädiges Fräu lein?" fragte Klingen beim Abschied, ihre Hand haltend. „Ja, ich denke, die Mutter erlaubt eS." ,Jch komme morgen, mich zu verabschieden, gnädi ges Fräulein, dann hoffe ich, mein Bielliebchengefchenk zu erhalten." Er half ihr in den Wagen, dann ging er träumend durch die Straßen. Am nächsten Tage betrat er da» Haus tu der Mark- grafenstraße, in dem im Parterre der Skgierungsrat von Hcerbach lebte. Es ist ei« schönes, großes Hans,