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80 — Weg zur Tür bahnen. Aber rvn allen Zeiten wurde er umringt. Lachende Stimmen riefen: „Nee, nee — erst mal wiesen, ob et woahr ist'" „Runter mit'm Hemdkragen, wenn he ecuen hat!" Er fühlte sich festgehalten, die Joppe wurde herab gerissen. Man drängte ton allen Seiten herzu, sogar die Alten erhoben sich von ihren Bänken. Ein erstauntes, erschrockenes „Kickt — lickt!" erscholl ringsum. Wahrhaftig, Pocheik: trug einen Strick um den Hals. Aber an dem Strick baumelte etwas — ein kleines schmutziges Ledcrtöschchen! Poch eile hatte sich scheinbar in sein Schicksal ergeben. Widerstandslos hatte er alles über sich ergehen lassen. Aber er hatte nur auf den richtigen Augc.iblick gewartet. Jetzt fühlte er. daß die Hände, die ihn hielten, etwas lockerer ließen. Man sah, wie es schien, etwas ratlos auf das Täschchen, wurde unenlschbassen, wie es nun weiter werden stallte. Holla, dies war die Sekunde, die ihm helfen konnte! Mit einem kräftigen Ruck machte er sich frei. Blitz schnell ergriff er ein Brotmesser, das auf dem Tische lag, und schwang es wild um seinen Kopf. Man wich im ersten Augenblick des Schrecks zurück, — der Leg zur Tür schien frei zu werden. Tort stand Ludwig Slüter, finster, mit zusannnenge- bisscuen Zähnen. Man hatte ihn nicht mit in das Kom plott der jungen Leute gezogen, aber er hatte gemerkt, daß etwas vvrging — er ahnte auch jetzt so ungefähr Len Zusammenhang. Als er die jungen Burschen vor Pocheikes Messer zurückweichen sah, dachte er: „Sie haben mich ausge schlossen wie einen Feigling. Und sie haben doch alle nicht den rechten Mut. Ten rechten Mut hat nur der, für den es auf der Welt keine Freude mehr gibt". Anscheinend teilnahmslos sah er dem An, ünncnden entgegen. Toch plötzlich hielt er ihn mit wuchtigem An prall auf, hing sich an seinen Arm, suchte ihm das Messer zu entwinden Ein vielstimmiger Schrei des Entsetzens erhob sich —: „Er hat ihn gestochen! Stüters Ludwig ist gestochen!" Ein heftiges Durcheinander folgte dem erschrockenen Rufe. Die einen bemühten sich um den blutenden, jungen Bauern, die andern — Ernst Seehaus an der Spitze — warfen sich auf den wild um sich schlagenden Pocheike. Man Holle Stricke herbei, band ihm die Hände auf dem Rücken zusammen, die Keine an den Stuhl, auf den man ihn niedergedrückt hatte. Ten Strick mit dem Täschchen daran hob man vom Fuß-oder« auf und legte ihn auf den Tisch. Tie Schnur der Tasche hatte sich! gelockert; man öffnere vollends und schüttelte den Inhalt auf den Tisch: er bestand aus nichts anderem, als aus einer langen, goldenen Tamen-Uhrktte. Kopfschüttelnd bestaunte man den Fund. Ernst Seehaus nahm das Ting in die, Hand und machte sich daran zu schaffen — ein Teckelchen am Schieber sprang auf uno der Kopf eines hübschen Kindes wurde sichtbar. Tie Frauen und Mädchen schlugen die Hände über dem Kopfe zusammen. Und plötzlich rief «ine hübsche, junge Frau, tue als Mädchen auf dem Schlosse gedient hatte: „Nä jo wat, uä so wat! Tüt is ja unse Üeen Eleonor- chen! Sinnings, Kinnings — de Kett', de kenn' ich! Tüt wier uns' gcdig Fru ehr Uyrkett', de 's dünn stahlen hcw- wen! Hew ick't mi nich ümmer dacht, dat oll Pocheik Lat dan ha!" Ter Ortsrichter kratzte sich hinter die Ohren „IS n vll vertrakt' Geschicht'I Et wier doch dunnmals klipp un kdsar, dat Pochink et nich west wier". Herr Hansen räusperte sich und sprach gewichtig: „ES passieren zuweilen seltsam« Tinge. Ich sage: nur immer vorsichtig! Man kann ja denken, was man will, aber man muß r- nicht sagen". Aber der kleine Reinek sprang wie aus der Pistole ge schossen in die Höhe und schrie: „Wo kann denn dat wesen, wo kann denn dat Wesen! Wo kann denn een in't Magdeborsche sin und klettern boglick hier in ollen Baron sien Fenster!" lieber Pocheike, als er diese Reden hörte, kam es plötzlich wie ein Galgenhumor. Lc grinste von einem Ohr zum andern. „Wo dat bogahn kann, Gevatter Reinek?" schrie er aus seinem Winkel mit heiserer Stimme, daß der kleine Bauer erschrocken zusammenfuhr. „Wo dat togahn kann? He, ick bün Euch ümmer veel tv klook west — ick bün Euch ümmer veel 1v llook west!" Tie Bauern überhörten verächtlich diese Aeußerung, aber es war nicht einer unter ihnen, der nicht in diesen: Augenblick an den alten Böhleke gedacht hätte, der ihnen nach Rcine?s Ansicht auch „immer tv klook west wier". „Ich bün de Meinung", sagte der Ortsrichter, „Böh- leke müll dat tv werten krsegen, wat hier passiert is. Ick bün de Meinung, wi laten em Dopen". „Ta kannst lange rvpen, eh de kömmt", sagte Vater Großmann. «Een müßt' Hengahn, un't em verbellen", meinte ein anderer. „Slüler kann Hengahn. Te hät em jo ümmer besöcht". Ja, Slüter! Ter war nicht da, der hatte seinen ver wundeten Svhn stortgebracht. Dom Flur kamen jetzt die herein, die dabei gehvlsen hatten. „Tas soll Tir noch schlecht bekommen, Du Lump!" schrien kie Pvcheike an. „Windelweich sollte man Dich prügeln! Menn der verbluten muß — hängen tun wir Trch!" „Was war es denn mit dem armen Jungen?" woll ten die Alten wissen. Tas junge Volk schrie durcheinander. „Ter ganze Daumen ist herunter", meinten die einen. „Nein, die Pulsader hat's getroffen!" die andern. Ma» hatte zum Arzt geschickt. Er würde gleich kommen — und auch der Gendarm. Vater Böhleke saß in seinem ledernen Lehnstuhl am runden Tische der Dvhnstube und las die Zeitung. Aber er war nicht recht bei der Sache, denn die Krugwirt schaft war so nahe gelegen, daß er es merken mußte, wenn es dort, wie heute, besonders lebhaft zuging. Scharf aushorchend blickte er über seine Brille Hinwegs wenn lautes Schreien und Lärmen, beunruhigendes Lau fen und aufgeregtes Stimmengewirr herüber Snten. Halle es nicht vorhin geklungen, als riefe es laut und klagend: „Schickt zum Doktor — zum Doktor!" Und dann wieder: „Ten Gendarm holt!" Es hatte ihm in allen Gliedern gezuckt, aufzustehen und hinüberzueilen, um etwaigem Unheil zu steuern, wie früher in alten, guten Zetten so manches Mal. Man hatte Respekt gehabt vor ihm und seinem ernsten Worte damals. Aber er zwang sich zur Gleichgültigkeit. Tas alles ging ihn ja nun nichts mehr an, ihn den Ausge- stiotzrnen. Ein leises Geräusch, als wenn Zähne im Ficber- srvst aufcinanderschlagen, ließ ihn verstohlen aufsehen. Tas von einem grünen Schirm gedämpfte Licht der Hängelampe erhellte nur undeutlich das weiße Gesicht Elisabeths, die zusammengekauert in der Sofaecke saß. Leise versuchte sie jetzt aufzustehen und hinauszu huschen. „Bleibe, Kind!" sagte er mit freundlicher Bestimmt heit. „Das ayes darf uns nichts mehr angehen". Sie blieb »mitten im Zimmer stehen, mit verschlun geneil Händen und lauschte atemlos. Unter dem Fenster gingen jetzt bedächtige Männer schritte vorbei. Bor der Haustür blieben sie stehen. Wispernde Stimmen schienen sich zu beraten, Böhleke u « Z 3 3s-3^ T Z' 8 I «HL»Z>SZs'Slw: rv I «II «ZK «Sv SS « — 51 - runzelte erstaunt die Brauen. Was sollte das heißen? Wollte man zu ihm? War etwas vorgefallen — ein Unglück, das ihn anging? Auf dem Flur wurde jetzt das trockene Hüsteln hör bar, das er sehr wohl kannte. Vater Großmann war das, einer von den wenigen Getreuen, dis ihn in letz ter Zeit dann und wann besucht hatten. Tie lange Pfeife in der Hand, kam er jetzt gemütlich herein, mi. dem behaglichen stillen und unbewegten Ge sicht, von dem man nur schwer Freude oder L^id ablesen konnte. „'n Abend, Böhleke", sagte er bedächtig. „Schönen Tank — und nimm Platz", erwiderte Böh leke ebenso bedächtig. „Muß Tich doch auch mal 'n bißchen besuchen", sagte Großmann, der doppelt übcrlegsam sprach^ wenn es Hoch deutsch werden sollte. „Ist recht!" meinte Böhleke und setzte von neuem sein Pfeifchen in Brand. Elisabeth stellte den Tabakskasten vor den Gast, der nun umständlich seine Pfeife stopfte. Nach einigen kräf tigen Pwbezügen begann er diplomatisch die Unter haltung. „Na, lest Tu'n büschen int Blatt?" Böhleke nickte gleichgültig. „Hat Zeit bis morgen. Steht ohnehin nicht viel Gutes drin: Mord und Raub und Selbstmord in Mengs!" „Ich denke mir, diese Geschichte wird denn nu wvll auch rein Kommen ins Blatt. Was der Kanter ist, der wird's wvll reinschreiben lassen". Vater Großmann qualmte gewaltig. „Von oll Pocheik. Ter Gendarm ist schon mit ihm weggemachl. Te oll dämliche Geschacht' ist nu endlich raus. Was der Pocheik ist, der hat's gemacht. Ketten und Ringe und alles hat er gestohlen, damals bei'n ollen Baron. Raus ist es. Tat ivoll ick di man ver- tellen. Tarüm bün ick nämlich hier". Es war dem alten Böhleke für einen Augenblick, als verdichtete sich die Rauchwolke, die um Vater Groß manns Haupt schwebte, zu einem himmlischen Gewölk, aus dem schöner als ein Engelsantlitz das gutmütige, rotbäckige Gesicht des alten Freundes heraussch. Aber gewohnt, weder Freude noch Leid überschweng lichen Ausdruck zu geben, hörte er mit wenig bewegten Zügen scheinbar ruhig dem andern zu. Nur Elisabeth, deren Blicke mit unendlicher Zärtlich keit auf seinem ehrwürdigen Antlitz ruhten, sah das wunderschöne Leuchten in seinen Augen und wußte, was in ihm vvrging. Leise stahl sich ihre Hand um seinen Hals und wurde von der seinen kräftig erfaßt. Und noch immer sah er wie durch einen Nebel — waren es wirklich nur die Rauchwolken? Oder war es etwas anderes? Er sah durch diese Nebslwvlkeu Gestalten cintreten, wohlbekannte, die lange nicht über seine Schwelle ge kommen waren. Gemächlich kamen sie hercin mit einem gemütlichen: „'n Abend, Böhleke!" als wäre ihr Besuch weiter nichts Auffallendes. I» der Tür stand breit und gewichtig Herr Hansen mit in d:e Seiten gestemmten Armen. Sein rvtes, zur Seite geneigtes Gesicht sah friedlich und salbungs voll aus und glänzte mit dem schwarzen, wis poliert funkelnden Scheitel um die Mette. Ihm über die Schütter blickte aufgeregt der kleine Reinek; er zappelte von einem Bein aufs andere, um besser sehe» zu können. Ter Ortsrichter rieb sich bedächtig die Hände. Nur wer ihn genau kannte, hätte bemerken können, daß er ein wenig in Verlegenheit war. „Na, nu hewwen wi et jv endlich rutkrägen, Böh- lek", sagte er nach einigem Räuspern. „Dacht hewwen wi et uns jv all lange, dat oll infamt Pocheik dat * west wir". „Natürlich!" sagte Hansen mit einer Handbcwcgung, di- allem Zweifel ein Ende machte. „Tas war ja klar wie die Lonne. Aber wci» durfte es dem Karl ins Ge sicht sagen? Konnte der nicht das Dorf antcckcn?" „Odcr's Lieh verhcxcn, odcr's Dich verhex n?" schrie Reinek über Hansens Schulter. Herr Hansen stieß ihn unwillig in dis Rippen und fuhr gewichtig fort: „Ich sage: ehe man so ewas aus spricht — Beweise! Erst Beweise — und dann handeln. Und sehen Sie, Herr Böhleke, Beweist — dis hätten wir nun. Solche Sachen, die muß man richtig angrcifcn". „Mi hät he't ingestahn", schrie der kleine Reinek. ,Mi hät he't ingestahn! He seggt bo mi, he wier uns ümmer veel tv kbook west — seggt he tv mi!" „Na, setzt Euch man erst mal", sagte Böhleke mit ruhiger, nicht übertriebener Freundli k it. ,Li:chcthel — vielleicht hast Tu ein paar Gläser bei der Hand". Aufmunternd nickte er seinen spülen Gästen zu. „Damit Euch die Kehlen nicht trocken werden — falls Ihr noch viel zu erzählen ha.öt". Tas junge Mädchen flog in Küche und Keller l in. us. Sie holte Gläser und brachte W<ia. Sis eilte hin und her. — und immer flüsterten ihre Lippen dab i — unhörbar für die anderen — das eine: „Mein Gott, ich danke dir! Mein Gott, ich danke dir!" Noch hatte sie kein Wort zu ihrem Vater gefprockcn. Tvch immer, wenn ihre leuchtenden Blicke sich mit den seinen trafen, so redeten sie eine Sprache, die nur sie allein verstanden. Bald fiel es ihr auf, daß Reinek, der noch immer in der Nähe der Tür umherzappelte, und sich nicht zum S-iycn entschließen konnte, ihr zuzublinzeln und zu win ken schien. Und plötzlich als sis wieder in den Flur hinausging, huschte er hinter ihr her und zupfte sie am Kleide. „Tu, Teern, hör' moal, hör' moal," flüsterte er sehr hörbar. „Ick wvll' man seggen: dot es he nich !" „Tot? Wer?" „Na, Tu weetst doch — Slüters Ludwig! Pochcik hät em doch stochen. Oll Slüter hät em nach Hus bröcht!" Elisabeth brachte kein Wort hervor. Lis drückte beide geballte Hände gegen ihre Lippen und lshntr sich halt suchend gegen den Türpfosten. Erstaunt und neugierig stand der kleine Reinek und starrte sie an. Tann raffte sie sich zusammen und reck e entschlossen die Glieder. „Erzählt es nicht dem Vale: — er w^ist »och nichts", flüsterte sie. „Versprecht mir das". Man sah, es wurde ihm schwer, das Versprechen zu gebe». Aber er gab es. Sie huschle an ihm vorbei, hielt die Klingel an und eilte auf di: finstere Straß: hinaus. Keinen Augenblick besann sie sich. Sie wußte, wohin sie jetzt gehörte. Auf der Straße standen nach den aufregende» Ereig nissen noch einzelne Grupp:n von jungen Leuten in leb- heftem Gespräch beieinander. Sie erkannten trotz der Dunkelheit die vvrüberhastcnde schlanke und anmutige Gestalt. Schweigend traten sie beiseite. Cie wußten, wohin deren Weg führte und fanden das recht und richtig sv. Auf Slüters Gehöft blieb Elisabeth unschlüssig stehen. ES war wahrscheinlich, daß Ludwig sich in seiner Kammer im Hauptgebäude befand, in dem reges Leben hc^HMe. Man schwatzte drinnen durcheinander, warf m«tt Türen, klapperte auf Holzpantoffeln über den Flur. Sollte sie da hineingehen, an de» gaffend»?« Dienst boten vorüber, sollte sie vielleicht abweisendes» Worten begegnen — zum Beispiel von selten Frau ToxAhees, die doch jedenfalls in Ludwigs MH« war? Zögernd stand sie in dem Helle» Lichtscheins der VW