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30 „Das kleine Bild," fuhr Angelika fort, „von dem ich spreche, ist hier im Hause." „Wie?" horchte ihre Großtante auf. „Ich habe es in meiner Albummappe." „Hole es mir," rief Frau Dreßler, „hole es mir!" Angelika sprang auf, eilte nach ihrem Zimmer und war nach kurzer Zeit mit dem in Rede stehenden Aquarellbilde wieder zurück. Frau Dreßler hatte sich erhoben und nahm ihr das Porträt ihres Sohnes mit zitternder Hast aus den Händen. Sie betrachtete den schönen blonden jknabenkopf mit großer Rührung. „Ja, das ist er! Das war er!" setzte sie schmerzlich hinzu. „So blühend schön, und nun schon so lange todt!" Angelika stand mit feuchten Augen vor ihr und wagte kaum zu athmen, bis endlich Frau Dreßler wieder ihrer Ge genwart inne wurde und sie fragte, ob und bei welcher Ge legenheit ihr Vater ihr dies Bild geschenkt habe. „Papa hat eS mir einmal zu meinem Geburtstage ge schenkt, als er mir nichts anderes geben konnte, denn wir waren mitunter recht arm. Er wußte, daß ich das Bild liebte, und da hatte er es mir, von einem Blumenkranz um geben, auf den Tisch gelegt, indem er sagte, ich solle es gut bewahren, es werde mir als das einzige Andenken aus seiner Familie Glück bringen." Ueberwältigt von d iesen Worten Angilka's breitete Frau Dreßler die Arme aus- „Ja, Dein Vater hat wahr ge sprochen," rief sie und schloß das junge Mädchen in ihre Arme. „Das Bild meines Kindes war Dir theuer, nun, es ist Dir zum Empfehlungsbrief geworden. Ich will Dir eine wahre Freundin sein. O, ich fühle es jetzt, mein krankes Herz besitzt doch noch die Fähigkeit zu lieben. Du wirst meine Tochter sein, Angelika!" Angelika fühlte sich mit einem Male so wohl und ge borgen in den Armen der stolzen Frau, daß sie dieselbe unter Thränen küßte. Jene hatte an der Seite des Mädchens ein Gefühl der Erlösung; sie lauschte, während der Thee servirt wurde, dem muntern Geplauder des rosigen Geschöpfes, stellte Fragen über ihr vergangenes Leden und sprach selber mit ungewohnter Lebendigkeit. Das Gespräch wurde durch Jor dan unterbrochen, welcher eintrat, um seiner Herrin einen Brief ihres Reffen zu überreichen. Als er im Salon Ange lika an der Seite der Hausfrau sah, erschrak er heftig. Frau Dreßler sah die Adresse an. . Von Deinem L nkel," sagte sie zu Angelika; „ich bin gewiß, daß er Dich gern als Richte begrüßen wird, wir wollen nachher seinen Brief zu sammen lesen." Mehr brauchte Jordan nicht zu hören, aber als solle ihm das Gefährliche seiner Lage noch mehr vor Augen ge- sührt werden, rief Frau Dreßler ihn, als er nach einer Ver beugung den Salon verlassen wollte, zurück. „Herr Jordan," sagte sie zu ihm, „treffen Sie Anordnungen, daß sobald wie möglich, die nach der Straße gelegenen Pronkräume gelüftet und renovirt werden; da meine Großnichte, die Baroneß von Bartenstein, fortan bei mir leben wird, will ich in unserem Hause einige Aenderungen in der Einrichtung desselben treffen." Angelika hatte durch diese Worte ihre Stellung im Hause erhalten. " Dankbar beugte sie sich zu Frau Dreßler und küßte ihre Hand. Jordan verneigte sich tief und stumm. Keines Wortes mächtig verließ er den Salon. „Diese verwünschte Kreatur," murmelte er beim Hinab gehen in seine Wohnung, „wird vielleicht die Hälfte der Erb schaft bekommen — ah, nun heißt es handeln. Tu sollst bald verschwinden, kleine Angelika!" Es schlug neun Uhr, als Angelika von ihrem Besuch bei Frau Dreßler zurückkam und an Dorothea's Lager trat. Jene freute sich herzlich, als sie vernahm, wie gütig ihre Frau gegen die Waise gewesen sei. Dorothea bestand darauf, von heute an als Gesunde be trachtet zu werden. Es wurde nun bestimmt, daß Betty in dem anstoßenden Zimmer Dorothea's sich auf das Sopha zur Ruhe legte, sobald sie ihren Dienst bei Frau Dreßlers Nacht toilette versehen hätte, während Angelika sich in ihr eigenes Zimmer zurückziehen wollte. In die Wohnstube Dorothea's mündete der Klingelzug aus Fran Dreßlers Gemächern, während sie auf der andere» Seite dicht an das Schlafkabinet Dorothea's stieß, also im Bereich von deren Stimme lag. So konnte Betty von bei den Seiten leicht abgerufen werden, wenn ihre Dienste ent weder von der gnädigen Frau oder von der in Genesung be griffenen Kammerjungser während der Nacht in Anspruch ge nommen werden sollten. Mit pünktlicher Regelmäßigkeit, wie alle Abende, erscholl um zehn Uhr die Klingel von Frau Dreßler. Es war das Zeichen, daß die Dame sich zur Ruhe legen wollte. Betty begab sich zu ihr, um ihr Kammerjungferndienste zu leisten. Sowie Betty in das Zimmer der Frau Dreßler getreten war, löste sich aus dem Dunkel des Treppenhauses ein Schatten ab und huschte lautlos wie ein Geist über den Korridor, den Betty soeben passirt hatte. Es war Jordan, der genau die Gewohnheiten der Herrin des Hauses kannte und wohl wußte, daß Betty eine Viertel stunde beschäftigt sei. Diese Viertelstunde war die einzige Zeit, die er ge brauchen konnte, um ein Vorhaben auszuführen, das ihn für immer jeder Furcht überheben sollte. Der schlaue Jntriguant klopfte an die Thür, die in Do rothea's Zimmer führte. Dies Klopfen wurde in ihrem Schlafkabinet vernommen. Angelika, die vor Dorothea's Bett saß, um Betty's Rückkunft zu erwarten, ehe sie die Kranke verlieb, erhob sich und ging in die anstoßende Wohnstube, uni nachzusehen, wer dort geklopft habe. Als sie die Thür zum Korridor öffnete, stand Jordan vor ihr. Mehr verwundert als erschreckt, sah sie ihn an; ihre ursprüngliche große Furcht vor ihm hatte sich, seitdem sie des Schutzes und der Liebe ihrer Großtante sicher war, bedeutend gemildert. „Gnädiges Fräulein," redete Jordan mit tiefer Ver beugung Angelika an, „ich weiß, ich thue Unrecht, daß ich Ihnen diese Botschaft bringe." „Unrecht?" wiederholte Angelika mechanisch; sie konnte gar nicht begreifen, was Jordan zu ihr geführt hatte, „und welche Botschaft?" Trotzdem er wußte, daß Angelika s sechzehn Jahre keine zu große Uebersicht und Urtheilskraft zuließen, war er doch seinerseits zu schlau, um, nachdem er sich bisher so unfreund lich gegen sie benommen, jetzt plötzlich von Theilnahme oder Dienstfertigkeit zu sprechen. Nein, er gestand seine schlechten Eharacterseiten zu, indem er aussprach, daß auf dieselben spe- culirt worden sei. Daher fuhr er fort: „Ich habe der Verlockung einer großen Belohnung nicht widerstehen können und habe gegen Empfang einer bedeuten den Summe es übernommen, Ihnen diese Karte heimlich zu überbringen." ' . Damit überreichte er ihr eine Visitenkarte aus lener Tasche, welche Gerhard an der Parkmauer vor dem Pavillon verloren hatte. Sie trat unter die Lampe und warf einen Blick auf die Karte. „Gerhard!" rief sie erbebend und wandte sich ganz fassungslos nach Jordan um, als erwarte sie von ihm eine weitere Auflösung dieses Räthsels. „Ich habe nur nach Befehl gehandelt, wenn ich die Blumen des Herrn nicht abgegeben und später seinen Besuch auch abgewiesen habe, denn die gnädige Frau hatte den An tritt jedes Fremden ohne Ausnahme verboten, aber wie ich offen bekenne: „Das Gold, was stumm ist, macht grad', was krumm ist!" Ich übernahm heute den Auftrag, Ihnen diese Karte zu überreichen, und stellte mich weiter zur Disposition. Wollen das gnädige Fräulein die Gewogenheit haben, die Rückseite der Karte gefälligst zu betrachten." Angelika wandte die Karte hastig um uud fand auf der andern Seite folgende Worte, mit Bleistift geschrieben: „Ich muß Sie noch einmal sprechen, vielleicht ist es ein Abschied auf ewig! Mein Schiff lichtet bei Sonnenaufgang die Anker." „Welches Schiff?" fragte sie, indem sie vor innerer Erregung kaum ihrer Sinne mächtig war. „Die Korvette, an deren Bord der Herr Kapitän kom- mandirt ist." Nach dieser Antwort Jordans wandte Angelika die Karte abermals um und las nun Stand und vollen Namen Gerhards. Ihr/Kopf schwindelte, der Boden tanzte unter ihren Füßen, als ob sie sich schon selbst auf einem Schiffe befände, das von Meercswogen hin und her geschaukelt wird. „Aber wo — wo find' ich ihn?" — fragte sie athem- los weiter. „Er erwartet Sie unten in meinem Zimmer." „Ah!" rief sie freudig ans, „er ist hier im Hause?" Dabei that sie einige Schritte vorwärts, als wollte sie der Treppe zueilen, um zu Gerhard hinabzugehen. „Ich bitte, meine Gnädige," warnte Jordan sie mit gut gespieltem Schreck, „nicht so laut, man könnte uns hören, und ich hätte mehr zu riskiren als sie, daß ich den Herrn Kapi tän in das Haus gelassen und Sie von seiner Anwesenheit unterrichtet habe. Angelika stand still; sie wußte nicht mehr recht, was sie that. Sie war bereits wie ein weiches Stück Wachs in der Hand des intriguanten Unholds. „Er erwartet Sie unten in meiner Wohnung," flüsterte ihr Jordan zu, „versuchen Sie, wenn Alles oben schläft, un gesehen hinabzukommen. Der junge Herr wird sich zwar in Ungeduld nach Ihrer Gegenwart verzehren, aber die Hoffnung, daß Sie kommen werden, wird ihm die Pein des Wartens erträglich machen." Gerhard in Ungeduld und Sehnsucht nach ihr! Dieser Gedanke verwirrte Angelika's Köpfchen. Ach, ihre Sehnsucht nach ihm war wohl keine geringere. Jener Philosoph hat jedenfalls sehr Recht, als er die Liebe folgendermaßen analysirte: „Die Liebe ist ein Rausch, der Sehende blind und Vernünftige toll macht, sie ist eine Krankheit der Jugend, von der uns jeder Tag, den wir älter werden, naturgemäß heilt." Angelika bestätigte obigen Spruch des Philosophen in diesem Augenblick nur zu sehr; sie war im Augenblicke so blind, daß die philosophische Analyse der Liebe für sie eigens gemacht zu sein schien. Nur so ist es zu erklären, daß sie Jordan zurief: „Er soll mich erwarten!" und dann in das Zimmer Dorothea's zurückkehrte, während Jordan, lautlos wie eine Schlange, über den mit wollenen Läufern bedeckten Korridor hinglitt und dann im Dunkeln des Treppenhauses verschwand. „Mit wem haben Sie denn da draußen so lange ge sprochen, liebes Fräulein?" fragte Dorothea, als»Angelika sich wieder an ihr Bett setzte. Die junge Dame anwortete nicht gleich. „Es war einer der Diener," antwortete sie zögernd, „der eine Auskunft verlangte." „Wohl wegen der Flurlampe?" forschte Dorothea weiter. „Ganz recht, wegen der Flurlampe!" erwiderte Angelika, die froh war, daß Dorothea ihr die Antwort erleichterte. „Es ist ein alter Streit," fuhr Dorothea fort, „wer von der Dienerschaft die Flurlampe auszulöschen Hai; je be quemer die Diener es in einem Hause haben, desto weniger wollen sie thun, und keiner von ihnen wollte des Abends spät noch einmal die Treppe hinaufsteigen, um die Lampe auszudrehen. Damit der Zank deshalb ein Ende erreichte, hatte ich es übernommen." Dorothea schwatzte weiter und kam vom Hundertsten in das Tausendste; ihre zunehmende Zungenfertigkeit bewies zur Genüge ihre zunehmende Gesundheit. Angelika kam Doro thea's Redestrom sehr erwünscht; so brauchte sie nicht zu antworten und konnte ihren Gedanken nachhängen. Bald darauf kam Betty von Frau Dreßler zurück. An gelika wünschte mit eigenthümlicher Hast der alten Kammerfrau eine gute Nacht und ging dann in ihr Zimmer. Wenige Minuten darauf legte sich Betty, nachdem sie noch in Doro thea's Schlafftube die Lampe angezündet hatte, auf das Sopha im anstoßenden Gemach zur Nachtruhe nieder. Angelika stand in ihrem Zimmer an einem Tisch und betrachtete bei dem Licht einer Kerze die ihr von Jordan übergebene Visitenkarte Gerhards. Sie konnte ihre Augen nicht von dem theuren Namen abwenden, ebenso wenig von der Schrift, bei deren Betrachtung ihr, der Unerfahrenen, in heißer Liebe Befangenen, nicht im Entferntesten der Gedanke kam, daß sie gefälscht sein könne. Angelika vertauschte rasch ihr Helles Kleid mit einem dunklen, löschte das Licht aus und trat mit klopfendem Herzen ihre gefährliche Wanderung an, nach ihrer Ansicht nur ge fährlich, weil sie Dorothea's Zimmer zu passireu hatte. An eine andere Gefahr dachte sie nicht; wo Gerhard war, konnte ja von einer Gefahr nicht die Rede sein. Leise öffnete sie die Thür und ging hinaus. Bei dem Schein der Nachtlampe in Dorothea's Zimmer durchschritt sie dasselbe glücklich, da sie jedes Geräusch vermeiden konnte. Die ruhigen Akhemzüge Dorothea's verriethen, daß sie den festen Schlaf einer Genesenden schlief. Schwieriger war cs für Angelika, das nächste Zimmer zu passiren, in welchem Betty auf dem Sopha ruhte. Ein lautes Schnarchen derselben bewies zwar, daß Gott Morpheus die junge Magd sehr fest mit seinen Armen umschlungen hatte, aber das Zimmer war ganz dunkel, und in der Mitte desselben stand ein großer, von Stühlen umgebener Tisch. Nur mit größter Vorsicht vermochte Angelika hier die Klippe eines Anstoßes zu vermeiden, aber sie erreichte endlich glücklich die Thür und trat auf den Korridor hinaus. Zwar herrschte auch dort eine tiefe Finsterniß, aber sie konnte sich auf demselben doch leichter fortbewegen, indem sie nicht zu fürchten brauchte, daß ihr Fuß durch irgend ein Möbä ge hemmt werde. So kam sie glücklich an die Bordcrtreppe. Hier traf sie wieder der erste, wenn auch matte Licht schimmer, der durch ein großes Fenster auf der Hofseite in das Treppenhaus fiel. Er gab gerade so viel Helligkeit, daß sie das alterthümliche, aus schwerem Eichenholz geschnitzte Treppengeländer erkennen und sich daran haltend, die Stufen hinabsteigen konnte.