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- Erscheinungsdatum
- 1889-08-30
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-188908308
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-18890830
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-18890830
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Anzeiger
-
Jahr
1889
-
Monat
1889-08
- Tag 1889-08-30
-
Monat
1889-08
-
Jahr
1889
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.1° L4L. Erste Anlage M Leipziger Tageblatt und Anzeiger. ", 11. «st« Neuheiten and »n» Ino- and r»ri»«r Wllalls- sten daher für engen b«t »t. Freitag den 30. August 1889. 83. Jahrgang. i»»r »e» ffe,. Vas Landktnd in der Leftdeuz. Line Infttgr »eschichtr v«» M. S. N»chdn>N »«»«»«». l. Reise vor bereit» ngen. Frau Brigitte Bertram sog beim frühstück und la» dir neuesten Zeitungen, al» der Postbote schellte und einen sehr umfängliche» Blies für sie abgab. „Bon Ostersklb", murmelte sie. „ich bin neugierig, wa< die Verwandte» mir antwortenI" Dem Umschläge entfiel eine Anzahl Bogen. Da war zuerst ein kurzes Schreibe» de» Herrn Rittergutsbesitzer Bertram. „Liebe Schwägerin! Meiner Frau war e< bis jetzt noch nicht gelungen, mich zu überzeugen, daß eS für da- geistige und leibliche Wohl unserer Hedwig unumgänglich nöthia sei, baß sie ihre stille friedliche Hcimalh verlasse, um da- Leben in einer lauten, lärmenden Großstadt kennen zu lernen. Meiner Ansicht nach gebärt ein Mädchen in- Elternhaus, auch wird eS mir schwer, mich von dem Kinde zu trennen. Aber Deiner freundlichen Einladung kann ick unmöglich da« gewöhnliche „Nein!" entgegensetzen und habe ihr die Er» taubniß ertheilt. Dich i» der Residenz zu besuchen! Dein treuer Schwager Karl Bertram." Der Brief seiner Gattin Hermine war bedeutend au<- fithilicher und wortreicher. — — „Dank, tausend Dank theuerste Brigitte! Wie lieb von Dir, daß Du aus meine Kriegslist eingegangen und meinem Mann nicht verrathen hast, daß ick so unbescheiden gewesen, bei Dir ohne sein Vorwisien anzusragen, ob Du wohl unser Hedcken aus einige Monate bei Dir ausnehmen Würdest? Für ihr Kind bringt eine Mutter jede- Opfer, auch da-, ihren gute», brave» Gatten zu hintergeheu und Ränke zu schmieden. Du weißt, wie eigenthümlich er ist! Weil e» .ihm aus dem Lande, in unserem Osterfeld, am besten gefällt, meint er, auch für Andere sei e« der schönste Ort der Welt, und ich halte eS sür so wiinschenS- werth, daß unsere Hedwig Gelegenheit finde, im groß städtischen Leben ihren IdcenkreiS zu erweitern, neue Vorstellungen in sich auszunchmen und Ersahrungen zu sammeln. Du bist die Einzige, der sie mein Manu ander- trauen würde, und kannst stolz auf diese Auszeichnung sein! Daß Du, wie Du schreibst, zurückgezogen lebst, nur Umgang mit ältere» Damen pflegst unv Hedwig weder Bälle »ock sonstige rauschende Vergnügungen bieten kannst, hat ihn vor zug-weise angesproche». Er hat ja so sonderbare Ansichten! Hedwig soll nie heirathen — immer bei uns bleiben, ver langt er in seinem Bater-EgoiSmnS. Daß Osterfeld stet- ihre Heimath bleibe, haben ihm unsere Söhne feierlich versprechen müssen. Wie engherzig e» sein würde, wenn wir sie auS selbst süchtigen Absichten der wahren Bestimmung de» Weibe- ent zögen, will er nicht einsehen und betrachtet jeden jungen Mann, der unser HauS betritt, als einen Räuber, der un» unser edelstes Kleinod entreißen möchte. Die großen Herbstmanvver. die unS im vergangenen Jahre zahlreiche Einquartierungen brachten, waren für ihn die Quelle unbeschreiblicher Aufregung. Am liebsten hätte er Hedwig eingeschlossen — in ein Kloster gesperrt —. damit sie nur Keiner zu Gesicht bekäme; und al» er sie im Garte» im harmlos heitern Gespräch mit einem jungen Osficier ge troffen, that er, al» sei unserem Haus« Unheil geschehen, äl- sei ein Wolf in unseren Schasstall eingebrochen! Wenn unsere Hedwig wirklich einmal Neigung zu einem Manne faßte — ick darf dem Gedanken nickt nachbängen — e» würde entsetzliche Kämpfe kosten! In die Ferne läßt er sie nicht ziehen, nur wenn sie in unserem Osterfeld bliebe, könnte man ihm vielleicht ein „Ja" abschmeic^ln. Aber ich spreche da von Dingen, die noch in weiter Ferne liegen und sorge mich unnölhiger Weise. Sie ist noch so jung, da» reine Kind, aber gut, herzensgut — Du wirst Deine Freude über sie haben; auch für mich ist die Trennung von ihr ein schwere« Opfer — ich werde die Tage zählen, bis daS Frühjahr sie mir wieder bringt. Nicht wahr, liebe Schwägerin, Du führst sie unS selbst wieder zu unv verweilst al- unser hochgeehrter Gast so lange bei unS in Osterfeld, als e« Dir in unserm Stillleben de- hagt, UebrigenS" u. s, w. Der drille Brief war von Hedwig Bertram. .Liebste, beste, einzige Tante! Du kannst'- kaum glauben wie glückselig ich bin! Ich soll den Winter bei Dir in der schönen, herrlichen Stadt verlebe», von der ich schon so viel gehört! Ich weiß, eS ist herzlos und undankbar von mir, aber ich kann den Tag nicht erwarten, wo ich Osterfeld unv meine Ellern verlassen darf, um in Dein« Arme zu eilen I" So herzlich und liebevoll die geschriebenen Worte auch klangen — e« wollte ihnen nicht gelingen, die finstern Mienen der Frau Brigitte auszuheitern; ihre Augen blickte» so streng wie gewöhnlich, sie rümpfte zuweilen die Nase unv um ihre schmale» Lippen spielte ein mitleidige« Lächeln. .Die gute Hermine! Sie war von jeder ein wenig red selig und «xaltirt, und mein Schwager ist derselbe sonderbare Kauz wie einst mein guter Mann. Er mag doch froh fein: wenn sich daS Mädchen gut vcrbeirathet! — Alt« Jungfern gicbl'S genug i» der Welt, auch ist sic wohl schwerlich eine solche ausfallende Schönheit, daß er sie einsperren müßte, um sie vor Verehrern zu behüten. Er kann ruhig sein, eS wird sich hier Niemand um sie bekümmern! Wohlhabend ist j mein Schwager, aber die beiden Söhne werden wobl, wie da« Sitte ist, bevorzugt werden, und wenn heutzutage ein Mädchen nicht gleich ein paar Tonnen Gold al« Milgist aus zuweisen hat, fragt kein junger Man» nach ihr, und wäre sie daS tugendhafteste, vorzüglichste Wese»! DaS kennen wir schon! — — Und wie entzückt schreibt die Kleine! AIS ob ihr bei mir die wunderbarste» Freuden winkte» — sic wird über mein einförmiges Lebe» staunen! — Daß sie auch nicht bemerkt haben, wie gezwungen und frostig ick die Einladung abgesaßt! Aber aus dem Lande sind die Menschen so harmlos! Mir liegt doch wakrhastig nichts daran, mich mit anderer Leute Kiiidecu zu plagen — aber jetzt Hilst e« nickt», ich muß der Familie Bertram ei» Opfer bringen. Freilich, meine Minna wird ungehalten sein!" Frau Bertram'» Ahnungen bestätigten sich sofort, al» ihre langjährige Dienerin erjuhr, daß ihre Herrin, ohne ihren Rath cinzuholen, ihre Nichte eingelade»; sie war höchst ent rüstet unv piophezeite allerlei Unheil. „Denken Sic an mich. Sie werden e« später bereuen! — WaS soll denn da» junge Ding bei »in«? Entweder sie lang weilt sich zu Tod«, oder Sie müssen mit ihr in Gesellschaft gehen, und da giebt'S Unrube. Unpünktlichkeit und Ausregung — lauter Dinge, die Sie Haffen! Verwöhnt wird sie sein — sie bat gewiß zu Hau» eine Reihe schöner Zimmer zu ihrer Verfügung — und hier bei »n- da- kleine winzige Gast stübchen l In Osterfeld ist sicher eine Menge Dienstboten — da» sage ich Ihnen gleich, Frau Bertram, ick habe gerade genug zu thun, wenn ich etwa Ballkleider vlätten soll, da« Fräulein frisircn und anzieben — da kündige ich Ihnen den Dienst! Al» Kamwerjungser habe ich mich nicht vermielhrt!' Frau Bertram seufzte. Die Unannehmlichkeiten begannen bereit«, noch ehe ibrr Nichte ihr Hau» betreten, und wenn nicht Minna eine ehrliche arbeitsame Person gewesen, würde sie schwerlich ihr unpassende» Betragen geduldet haben. So gab sie sich Mühe, sie zu beruhigen, und versicherte ihr. daß Hedwig einfach erzogen und keine Störung der Hau«, ordnung herbeiführen würde, ohne indeß einen besonderen El- olg zu erziele». Minna war ungläubig und zeigte ihre üble saune aus jede Weise Frau B rtram, die früher mit ihrem Gatten in einer zroßen ffabrikstadt gelebt hatte, wo er ein bedeutende» Ge- chäst besaß, war nach seinem Tode in die Hauptstadt gezogen, hauptsächlich um hier von allen gesellschaftlichen Berpslich- tungen befreit zu sein. Obschon ihre behaglichen Vermögen«- verhällniffe ihr diese Zurückhaltung nicht auserleglen, so leitete »e doch ei» angeborner Hang zur Sparsamkeit, auch empfand ie kein besondere» Verlangen nach regem Verkehr mit Menschen; ie war am liebsten sür sich, und da sic selbst nie Kinder bc- effen, sühlte sie auch kein besondere» Interesse a» jungen Leuten und konnte sich nicht in ihr Denken und Empfinden hineinversenken. Mit den Verwandten ihre» Manne« hatte sie seil seinem Tode nur in spärlichem Verkehr ge tänden. und schüttelte jetzt selbst den Kops über ihre unbegreifliche Schwäche: da» junge Mädchen zu sich einzu- laden Ihre Wohnung lag in der Kastanienstraße, einer der belebtesten der Residenz, aber so elegant und geräumig auch die Zimmer waren, so eng und beschränkt batte man die übrigen Räume bedacht. wie da» in Großstädten leider der Fall zu sein pflegt, und nur mit Mühe wollte e« gelinge», da» kleine Stübchen zur Ausnahme eine« Gaste» herzurichlen, wobei Minna nur widerwillig Beistand leistete, unv so viel )emmsteine in den Weg wälzte, al» ihr möglich war. „Wenn aber da« Fräulein eine Unmasse Sachen mit- bringt", brummte sie verdrießlich, „dann weiß ich nicht, wo wir sie untcrbriiigen sollen!" „Daran ist nicht zu denken", versicherte Frau Bertram, ,im Gegentheil, ich fürchte, wir weiden sie etwas großstädtisch herau-putzen müssen, damit man ihr das Landmädchen nicht ansicht. Osterfeld liegt etwa« abseits von der Enllur, und meine Schwägerin war von jeher sehr einfach!" Ach. wie würde die gute Frau Bertram gestaunt habe», wäre e» ihr vergönnt gewesen, einen Blick in daS Osterseldcr Herrenhaus zu thun! Ihre Schwägerin lies treppauf, treppab und betrieb in ieberhaster Thätigkeit die Reiscvorbereitnngen, Hedwig sollte lilgerecht in der Residenz erscheine», dem Namen Bertram Ehre machen! Hüte, Mäntel. Stoffe hatte man au« den erste» Magazinen Leipzig« verschriebe», Schneiderinnen, mit den neuesten Modejournalen bewaffnet, waren in Osterfeld eingezogen, von früh bi« Abend« klapperten Schecre und Nähmaschine, glühten Bügeleisen, und daS Anprobireu nahm kein Ende. Alle möglichen WitterungSerschciunngen: strenge Kälte — Schnee — Sonnenschein — Regen hatte man bei Wahl der Kleidungsstücke in Betracht gezogen; vom Morgen rock bi» zum Gesellschaftskleid, vom Promenadenumhang bi« zum pelzgefütterten Abendmantel war Hedwig überreich auö stasfirt. und Wäschevorrälhe wurden für sie eingepackt, als ginge die Reise in unwirthliche Gegenden, wo die Erfindung der Seife noch unbekannt. Aber nicht nur sür da» liebe Töckterchen war sie besorgt auch zum Besten der lieben Schwägerin trat sie eine Rund reise durch Küche. Keller und VorrathSkammern an. Hedwig sollte nicht mit leeren Händen erscheinen, eine Ader von, Osterseldcr Ucberfluß durch sie in die großstädtische Hau« Haltung geleitet werden, und ihre übergroße Freigebigkeit kannte keine Grenzen, Daß Speck, Schinken, Würste, Eier und Butter willkommen sei» würden, nahm sie al« »nzmeis> lhast an und gerieth nach und nach in immer größeren Eifer BorSdorser Aepsel, Taselbirnen, Nüsse, allerlei Gemüse, Back »bst, eingelegte Früchte, selbstgebackener Kuchen und ein riesen großes Brod wurden aus ihr Geheiß verpackt; im Geflügel bos ein entsetzliche» Blutbad angerichtet, renn solche feiste Ente», Hühner und Kapaunen gab» schwerlich in der Residenz ja sie würde einen Krug ihre« vorzüglichen Trinkwassers be>- gesügt haben, wenn sie nur gewußt hälte wie? Aber auch Hedwig war unterdessen nicht müßig gewesen eS gab so unendlich viele Dinge, an denen ihr Herz hing von denen sie sich nicht trennen mochte. Nicht nur ihre sämmlliche» Liebln,gSbücher, nein, auch französische und eng> tische Grammatiken und Wörterbücher sollte» sie begleiten damit sie sich in einem besonder« schwierige» Fall RalbS ei holen könne; alle Musikstücke, die sic je in der Clavierstunke bei ihrer Erzieherin gespielt, alle ArbeitSkästchen und Körbchen die sie besaß, vom Schreib- und Nähtisch allerlei Kleinig. keilen. Und als sic »och zum Schluß die Portrait« ihrer Eltern und Brüder und eine Ansicht vom Ostersclder Herrn hau» von der Wand genommen unv in ihren großen Reise koffer untergebracht, konnte sie ihre Vorbereitungen als be endet ansehcn. So war denn der heißerscbnte Tag der Ab reise gekommen, und al« der Morgen kaum graute, rollte die schwerfällige altmodische GlaSkutsche mit Hedwig und ihren Eltern zur nächsten Eisenbahnstation, während ein mit kräftigen Ackergäulen bespannter Wirtbschastswagen unter de Last von unzähligen Koffern, Körben, Kisten, Kasten und Schachteln bedenklich hin- und hcrschwankte Oben aus thronte die Beisteuer de« H rrn Bertram: ein Sack Kartoffeln, ein selbstgeschoffeneS Reh und vier Hasen! ll. Die Ankunst. Der kurze Novembertag nahte bereit» seinem Ende — schon brach die Dämmerung herein. Kalter Regen rieselte vom Himmel, und der Wind schüttelte von den Promenadenbäumcn die letzten welken gelben Blätter herab, die die Stadtbewohner im Frühjahr mit so lebhaftem Entzücken begrüßt hatten — war doch der Lenz auch in ihre dunkeln Mauern eingezogen, — Es war kein besonderes Vergnügen: unterwegs zu sein, und Fra Bertram schritt fröstelnd in der Bahnhofshalle aus und nieder, sie wartete aus ihre Nichte Hedwig. — Ob sich der Zug ver spätet hat? Aber da ertönt ja da» Signal, die Perron tbvren werden geöffnet und vom Dampfroß gezogen rollt die Wagenreihe langsam heran. Jedoch, noch immer heißt eS: Warten! Denn ehe nicht der sich zur Abfahrt rüstende Schnellzug da» Gleis verlassen dürfen die Reisenden nicht auSstcigen. Prüfend läßt Frau Bertram ibre Blicke über die Wagensenster gl iten, da ertönt der Rus einer jugendlich Hellen Stimme: „Tante Brigitte. Tante Brigitte!" Sie hat e» wohl vernoinmen, aber sie antwortet nicht; ihr ist jede Art von Aussehen verhaßt, und schon lächeln die Leute über da» junge Mädchen, die so eifrig mit einem Tuche weht. .Tante Brigitte. Tante Brigitte, da bin ich!' .H er bier" antworten endlich zwei junge Männer, dicht neben Frau Bertram, .grüß Gott, liebe Nickte!" und schwenken ihre Mützen. Alle Umstehenden lacken, aber anstatt sich verlege» zurückzuzichen. nickt da» Mädchen freundlich doch gewiß de» zungen Herren, der mürrisch blickenden Dame, die so eifrig den Fahrplan studwt. kann e» dock unmöglich gelten! „Ein lustiger Käser", lackt der eine, „wir wollen ihr beim AuSfteigen behilflich sein, die „Tante Brigitte" scheint durch ihre Abwesenheit zu glänzen " So eilen sie denn schleunigst aus da» Damencouv» zu da< soeben vom Schaffner geöffnet wird .Erlauben Sie. mein Fräulein, daß wir Ihnen unseren Beistand anbieten ", aber erschrocken prallen sie zurück denn die zunge Dame hält vorsichtig in ihren Armen ein große» weiße» Packet, mit blauem Schleier verhüllt — ein Wickelkind! — und eine Milchflasche! „Donnerwetter, eia Kindermädchen I Jetzt haben wir un» gründlich blamirt", so murmeln sie und verschwinden schleunigst im Menschengewühl. Hedwig batte von alledem nicht» bemerkt, ihre Auswerk- amkeit nur aus ihre Pflegebefohlene gerichtet; vorsichtig war sie mit ihrer Last heradgestiegen und kam geraden Weg» aus hre Tante zu. die sie sprachlos anstarrte. „Da bin ich. Tante Brigitte — D» kennst mich wobl gar icht mehr? — Hast wohl auch mein Rufen nicht gehört? — Jur Lage. Einen Kuß kann ich Dir erst geben, wenn ich da» herzige Süppchen abgelieserl habe!" „Mein Himmel", stöhnte Frau Bertram, „wem gehört ^ denn da- Kind?" „Meiner Reisegefährtin", antwortete Hedwig unbefangen. .Sie hat noch drei Kinder bei sich, und da bin ich ihr unter wegs ein wenig bedilslich gewesen und habe ihr da» Kleinste abgenommen. Sieh nur den goldigen Lockenkopf I" und sie lüstete den blaue» Schleier Indeß — Frau Bertram war durchau» nicht in der Stimmung, da» fremde Kind zu bewundern. Sie ging schnur- track« aus die junge Frau zu und forderte sie energisch aus, '»fort der jungen Dame ihr Kind abzunehmcn. „Ach, taffen Sie e» ihr nur noch ein W sichen", antwortete diese sehr rudig, „Sie sehen ja, c» »lacht ihr Spaß; wenn sie nickt so nett mit Kindern umzugehen wüßte, hatte ich ihr mein Lenchen gar Nicht anvcrtraut; ich bin so bepackt mit den vielen, vielen Sachen und babe die Hände gar nicht frei. Ich hoffte, meine Schwester würde mich abholcn!" Frau Bertram war starr vor Staunen. Die wildfremde Frau verfügte über ihre N chte, al» sei diese in ihren Diensten, und sie würde ibrcr Entrüstung Worte gegeben habe», wenn nicht glücklicher Weise in diesem Augenblick die seknlichst er wartete Sckwcstec eingctrossen wäre. Jetzt begrüßte man sich erst umständlichst und »un wanderte endlich Klein-Lencke» aus die Arme ihrer neue» Tante und Hedwig konnte sich al» ent lassen betrachten, nachdem sic auch noch die Milchflasche ab geliesert. „Komm, Hedwig', mahnte die Tante. .Nur noch einen Augenblick Geduld, Tante Brigitte, ich muß doch Adieu sagen!' Es dauerte ziemlich lange, bi» sie die Kinder der Reihe nach abgeküßt und deren Mutter die Hand geschüttelt halte. „Vergessen Sie ja nicht, daß Sic mir versprochen haben, mich bei meiner Tante ausznsucben: Kastanienstraße t8, und bonge» Sie alle die lieben Kinder mit", so bat Hedwig nochmal». Aber so komme doch', drängte die Tante von Neuem und faßte Hedwig bei der Hand, „wir sind richtig die Aller letzte» und werben wahrscheinlich keinen Fiaker mehr be kommen!' „Ich muß noch mein Handgepäck an mich nehmen", ent schuldigte sich Hedwig — „ja. wo ist denn der Zug?" Fort war er, über all« Berge, und sie betrachtete gänzlich rathlo» da» leere Elei», al» sei er zwischen den Schienen in die Tiefe hinabgesunken! Frau Bertram gerietst durch diesen neue» Aiiseuthall in die größte Aufregung. War das ein Fragen, Suchen und Hiiiundherlausen! und noch dazu obne jede» Resultat, denn als sie unter Führung eine» Beamten den Flüchtling i» einem Wagenschuppei, angetroffen, waren die vermißte» Habseligkeilen nicht vorzufiiiden! Wüthend und kleinlaut kehrten Tante und Nichte zum Bahnhöfe zurück, aber da kam man ilnien mit der Freuden botschast entgegen: „daß eine Anzahl Reiseeffecten als Herren lose» Gut aufgesunden und bereit» in die Verwahrung eine» Oberdeamlen gegeben sei." O Wonne, da war ja AlleS: Handkoffer, Rcisedecke, Regenschirm, Fnßsack, Körbchen, Handtasche mit dein Porte monnaie. sogar die Tafel Ehocolave. die ihr die gute Müller noch zugesteckt, unv der Strauß blaffe MonalSroseil und Immergrün, die letzte» Ucberbleibsel de» Sommer», die der Frost »och verschont! — Jetzt hätten sie sortsabrcn können, wenn ein Wagen zur Stelle gewesen wäre, und Fra» Bertram benutzte die Zeit des Warten«, ibrer Nichte eine ganz gehörige Strafpredigt zu halten. „Ich finde eS unverantwortlich von Deinen Ellern, ei» solch unerjaiirenes, gedankenlose» Kind allein aus Reise» zu schicken! — Bo» wildsremde» Menschen laßt Du Dich al« Dienerin gebrauche», und vergißt darüber Deine eigenen Au gelegeuheiten. Ob ich dadurch allen möglichen Aiisrcgnnge» auSgesetzt bin, darnach fragst D» in Deiner Rücksichtslosigkeit nicht, und lädst Menschen in mein Hau», die Dir bis beute vollständig unbekannt gewesen sind, deren Namen Du nicht einmal konist! ES ist ganz unglaublich!' Herwig war durch diese Vorwürfe ganz zerknirscht. „Ver zeihe mir, Tante Brigitte.' „M t Deinem ewigen „Tante Brigitte", Du hast schon vor Kurzem Dich und mich damit lächerlich gemacht! Be merkst Du den» nicht, ivie die junge» Leute über Dich witzelten? Ick Haffe meiiien Namen »nd wünsche ihn nie zu höre», merke Dir daS ei» sür allemal!" Da rollte nun Hedwig au der Seite der Tante durch die schöne Stabt, nach der sie sich so unaussprechlich gesehnt; aber ihre Augen waren von Tbränen verdunkelt und die Reac» tropsen, die von den Wagensenslern herabfloffen, die schwarzen Wolken, die vom Winde gepeitscht über de» Abeudstimin, l flogen, schienen zu sagen: „Du thörichtc» Kind, was willst Lu hier? Bei uns ist Kummer» Herzeleid und Unruhe! Kebr' um, kebr' uml Ueber weit Pfützen führte der W'g. durch breite Straßen, taghell belenchtct — bald von rölhlichcm Ga», bald von blendend weiß m elektrischen Licht. Jetzt rollte der Wage» über die Brück', die mit schön geschwungenen Bogen de» breite» Fluß überspannt. Rastlos keuchen und raffeln Schleppschiffe stromauf; zierlich gleitet oui Dampsboot stromab, legt am User an und die erleuchteten Eajütciisenster spiegeln sich in der dunkeln Flutb; pfritgcschiviiid schießen kleine zierliche Ruderboote durch Wellen und Brau Vung. — Vorüber! Da ist die bohe Kirche, ihr platte» Dach ist mit unzählige» Bildsäulen geschmückt, dort die breite Treppe, die zu dem wellberübmte» Spaziergang, zur „Terrasse", führt; hier ragen die dunkeln Stemmaffen vc» Schloßbaue» empor. Vorüber an kostbaren Denkmäler» und Statuen, bald schneeweißer Marmor, bald golvschimmerndc» Erz, vorüber an Paläste» und Häusern, mit stolze» Kupp ln gekrönt, mit Erkern und Säulen geschmückt. Aber versländnißlo» sah sie die Bilder a» sich vorüber ziehen, hörte sie de» kurzen Erläuterungen der Tante zu. Ob die Wohnung groß oder klein, behaglich oder ungemüthlicb, si- hätte e« ebensowenig zu sagen gewußt; sie sah »icht die finster» M euen der Köchin und saß einsilbig unv schüchtern der Tante am Theetisch gegenüber. Sie bemerkte weder da« kostbare Damasttuch, noch da» alterthumliche silberne Theeservice. da« wertbvolle Porzellan; auch ging e» spurlos an ihr vorüber, daß BScuilS, Theebrödch >, und kalte» Fleisch in so winzig kleinen Quantitäten ausz trazen waren, daß sie unmöglich dem gesunden Appetit r ne- achtzebnjährigen Landmädchen» genügen konnten — ihr stand der Sinn nicht nach Esten und Trinken! Aber jetzt war der Augenblick da, wo sie sich in ihr kleines Stübchen zurückziehen und dort, vor allen Blicken verborgen, nach Herzenslust au-weinen konnte: .Ach wäre ich doch daheim geblieben!' (Fortsetzung »olgt.1 Berlin. 28. August. Auch in ReglerungSkreisen soll die weitere Behandlung der preußischen Steuer- Resorm unter dem GesichtSpuucl der nächsten all gemeinen ReichSlagSwahten erwogen worden sein. Man ennnert sich einer kürzlich durch die Blätter gegangenen Mitlbeilung. daß die SlaalSregierung namentlich mit Rück sicht aus die Wahlen im Frühjahr t8V0 davon Abstand nehme, eine» Steuerresormplan vorher der parlamentarischcn Beralhung zu unterstellen. Die Meldung ist di» zur Stunde unwidersprochen geblieben, waS ihr allerdings noch keine be sondere Legitimation verleiht, denn c» will beachtet sein, daß man sich aus Seilen der beglaubigten RegierungSorgane gegen über jedweder Nachricht — sei e« über den Gang der Resorm- vorbereitungen, sei eS über die von einigen Seilen behauptete Kosis im Finanzministerium — in vollständiges und beharr liche» Schweigen hüllt. Immerhin laste» verschiedene Be obachtungen den Schluß zu, baß der Ausblick auf die Wahl- bewegnng bei den Entschließungen der Regierung gerade >m Pnncle der Steuerreform eine ebensolche Bedeutung gewonnen bat, wie bei den täglichen Betrachtungen unserer politischen Presse. Die Thatsackc, daß alle Parteien dieser Ver quickung de» Sachlichen und de» Agitatorischen Bürger recht gewähren, ist jedenfalls unbestreitbar. Die Een trumSpresse mazz cmgenblicklich von anderen, ihr wichtiger scheinenden Fragen in Anspruch genommen sein; doch läßt sich bei ihr unv bei der freisinnigen Presse am allermeisten bemerke», daß die Verlegenheit hinsichtlich der reckten Stellung zur Steuerresormsrage groß ist. DaS Eeiitrum hat den lliimutb breiter ländlicher BevölkerungS- krcise über den jüngsten sieuerpolitische» Antrag Hncnc noch nicht verwunden uiiv der Deulschsreisinn weiß keinen Rath, wie er die Rolle eine« Votksanwatls mit der Rücksicht ans gewisse, sehr „theure" Hintermänner in Einklang bringen soll. Freimülhig in der grundlätzlichen Betonung der Resorm- ziele steht nur eie »a li vn a l li berate Partei dem Lande gegenüber, während in der consc rd a t > ve n Presse die agrarische» Interessen sich ziemlich lebhaft geltend machen, lebhafter jedenfalls, al« e« >ür eine erfolgreiche Wirksamkeit in der Walübewegnng a»t ist, sofern diese nickt ans einseitige, in sich geschlossene Wirthschastskreije, also aus die Regionalpolilik sich beschränken zo ll. Aber zugestanbener Maßen ist auch aus »alionalliberaler Seite eine Verbindung der Resormbestrcbung mit den bevorstehenden Reich«tag»wahlen vorhanden, nur daß ans dieser Seite ei» Gegensatz zu den Nicht»-alS-Partei- politikern der oppositionellen Lucken ein Beginn der Rcsorm- gesetzgebuiig vor de» Wahlen offen befürwortet und ehrlich gewünscht wirk. Somit dreht sich also die Bcbandlung einer Frage, dl« eine möglichst große, entschlossene Mehrheit und eine möglichst unbesangene Würdigung vorauSsetzt. uin sicher beantworlet zu werden, durchweg um die wetterwendische Wablperi'peetive Wenn eS irgend einen durchschlagenden Grund sür die Verlängerung ver Legislaturperioden geben könnte, so ist er »i dieser Sachlage zu finden. Denn zu welcher Zeit sollte der preußische Landtag im Stande lein, eine svl.be Frage in Angriff z» nehmen, sofern nach wie vor beide Parlamente, Reichstag unv Landtag, nach dreijähriger Wahlfrist erneuert werde» müßten? Je zwei von drei Jahren waren bisher regelmäßig von dem Wastl- lärin in Anspruch genommen. Da» dritte, wablsreie Jahr aber stand immer schon linier dem Eindrücke der Vorbereitungen de« gcsanimte» Partciwese»« aus die wieder folgenden zwei Iakre de« WäblcnS. Tbatsächlich müßte eine Steuerreform, wäre sie auch die gerechteste und vollkommenste in ibrer ganzen Veranlagung, ml eslomliw giaoen» vertagt werken, so lauge die Pelbcktcruna de« Parleikampse« uni) die Aus beutung der Sonders,iler.ffe» in der bisherigen üppigen Blüthe stände, Uiid daS dürste teider noch eine recht gute Weile der Fall sei». Nicht minder gefährdet wäre daS Zustandekommen eines bürgerliche» Gesetzbuches. Dessen Entwurf »löchle, wie immer geartet, a» den Reichstag gelangen, die Volks vertretung würde nicht Sammlung »nd Uiibesangeiihcit genug finden, »in kaS Werk i» einerlei Geist zu vollenden, denn der Parteigcist halte hier eine zur Zeck »och gar nicht absehbare Fülle von Gelegenheit, um Intereffcii-Eoalckione» berbei- zujilhren, die de» Streit ui» die Mandate durchaus erfüllen »nd die Tbätlgkeit deS Gesetzgebers kauernd beeinflussen würden. Die Erörterung solcher Angelegenheiten der Gesetz- gebuiig i» der Tagespreise verliert aber je länger, desto mebr n» sachlichem G lialt und bannt an Werth, wenn schließlich auch die nnpolilischste» Einzelheiten von einer Seite absicht lich, von der anderen nolbgedrungen unter den Brennpunct der Wablinteressen gerückt werden. Unseres Dafürhalten« hälte» jene TageS-Organe der öffent lichen Meinung uni ibreS EinfluffeS n»d ÄnsebciiS willen alle Ursache, sich dazu Gluck zu wünschen, daß nach den nächste ii Reich« tagS Iva l» le n einmal ei» Zeitraum von mehreren Iabren gegeben ist, der sich dazu benütze» läßt, aus den Standpunkt leidenschasislvsc» Ernste« in der Tagcökritik zurückzukchreii, ausgenommen natürlich jene Ekampions, die von vornherein überzengt find, daß sie in einem verlängerten Zivischenraiiin von einer zur anderen Wahl ihre tönende Hohlheit »icht mehr zu verbergen vermögen. Literatur. Die „Grenzboteii", Zol'chr st sür Politik, Literatur und Kunst. 48. Iabrqaiia. Nr. 3ö. (>Zr. Will,. Grunow. Leipzig.)— Jnlic-lt: Fr.inkieiH »ach Baiilaiig i's B rmlholuiig. — Die deutsche Arbeiter- gentzacbiing. Von Ronald Nestler. 5>. Die Einrichtungen und Be- nSrsea der Arbciic-gem.'iui'chaite». — Taget,uchb-äUer eines Loun- lag 'ptnlojovlie» l l. .'I»S der Geschichte unserer Titte, zvglelch zur Fomchriltsjrage. — AuS Alleapplen. — Nochmals de Pariser Au-iiellung. Von eine,» uuord mlichen Berichierstalter. (Schluß.) — MastgcblichcS und UamastgedlicheS: Anthropologie. — Literatur. * -> « DnS neue Heilversastren »»> die Gesimdlirtispflkge von F. E. Bilj in Meerane i. S., eine umfängliche Schrijt über das ogenannic „Naturlieilveriatireu". babe Ich, der llnterceichnete, in der .8. Beilage de« „Leipziger Tageblattes" vom 10. August d. I. in einer W-ise besprochen, wie r» die« Buch meiner Ileberzeugung nach verd enle und wie sie nur zur Aufklärung de« ,n GeiundlieilS- angelegenbeilen leider nur zu leichigläubigen und urilieil-lojen Publi kum« notlnvendig erschien Diese Besprechung bat, wie ich selbst verständlich vorbcrlah, kenie-w gS den Deisall de» Verfassers diese» Buch-- gesunden, Pot denselben vielinebr zu wiederholte» di inglich ii fluschrssien an die Redaciion de» BlaiteS veranlastt, in denen rr, unter der Annahme, ich sei Mediciner. mir den Vorichlag zu einem Welleuriren von auSgcloosien Patienten macht. Die Annahme diese' Vorschlag« würde der Anerkennung de» heutigen sogenannten „Naturheilversahrens" als wirklich ernst zu nehmenden Heckversahr, n gleickkonimen, von einem Arzte, der etwas aus si-li halt, daher abgelehni werden. UeberdieS bin ich nickt Mediciner. wohl ober Nalursorlcher, UnwersilülStchrer in rtnem naturw ssenschasllichen Farbe, »nd »war in dem Hauptsache der NatUiivisjciiichaiten der P »stk Ick bin daher sehr wohl im Liande, da» Naiurwissen Jemande» zu deiirtheilen und zu enisweiden, ob derselbe einen B riss von der Meihode der exacle» Wissenschaften labe oder »ich,. Was ich von Herrn Bitz und seinem Buche ii» meier Beziehung lalle, gehl an» meiner Eingang» eiwäbnten Besprechung hervor. Ick halte da» dort Geiagle sür genugsam kennzeichnend und ehe keine Veranlassung, unch weiter mit dieser Angelegenheit zu belasten. vr. Adolf WeiSke.
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