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Leipziger und Anzeiger. ^ 245. Sonnabend den 2. September. 1854. Was ist von dein Verfahren ;u halten, Linder von früher Ingcnd an;wei Sprachen spreche» ?u lassen? Non K. Bormann. ES ist ein in der Erziehung der höher» Stände in Deutschland vielfach in Anwendung gebrachtes Verfahren, daß man die Kinder einer Bonne übergirbt, welche, wenn sie ganz vollkommen ist, das Deutsche weder spricht, noch versteht, sich daher nur in der fran zösischen Sprache mit ihnen unterredet, wodurch den Kindern selbst diese Sprache angeeignet werden soll, während die Aeltern und andre Personen mir ihnen in deutscher Sprache verkehren, wodurch auch diese gleichzeitig von den Kindern erlernt wird. Es dürfte eben so mühevoll als unfruchtbar sein, zu untersuchen, wo, wann und von wem zuerst dies Verfahren in Anwendung gebracht wor den sei, nur so viel steht unzweifelhaft fest, eS ist dasselbe hervor- -rgaazen und unterhalten worden durch da- Streben, mir möglichst geringem Aufwand von Zeit und Kraft den Kindern eine möglichst große Gewandtheit in der fremden Sprache anzueigneu. Man hatte die Bemerkung gemacht, daß die Entwickelung der Sprach- krast insonderheit in den ersten Lebensjahren wunderbar rasch von Statten gehe, und man glaubte daher, auch für da- Erlernen einer fremden Sprache keine geeignetere Zeit auffinden zu können, als eben diese. Man machte ferner die Erfahrung, daß der Versuch, wenn sonst die für denselben in Bewegung gesetzten Kräfte die rech ten waren, nach Wunsch gelang, und man fteute sich an den Kin dern, die bereits in ihrem vierten, fünften Jahre hier französisch parliren, dort in deutscher Sprache Rede und Antwort geben konn ten, je nachdem man daS Eine oder daS Andere von ihnen verlangte. WaS war natürlicher, als daß die- Verfahren immer weiter Ein gang fand, namentlich in einer Zeit, wo Fertigkeit im Gebrauch der französischen Sprache für ein nothwendigeS Erfordernd gesell schaftlicher Bildung galt, und in Kreisen, in denen man sich dieser Sprache atS der UnkerhaltungSsprache bediente; und so iß eS dahin gekommen, daß, wo irgend nur die äußern Mittel dazu vorhanden sind, den Kinder« eine Französin oder, wenn diese nicht zu haben ist, wenigsten- eine französische Schweizerin beigegeben wird als Pflegerin und Wärterin, aber nicht minder als unfreiwillige Sprach lehrerin. Wen« ich eS unternehme, daS hier in Rede gestellte Verfahren von dem Standpunkte einer gefunden Pädagogik aus zu beleuchten und zu besprechen, so bin ich im Voraus auf den Widerspruch ge faßt, den ich von vielen Seiten her erfahren werde. Aber nichts desto wentder fühlt ich mich gedrungm, frei und offen meine wohl NVvgene Ansicht hrruuSzusagen) weil mein Gewissen mich drängt, ein Uebel aufzudecken, daS tiefer frißt, als man auf den ersten Blick zuzugestrhen geneigt sein möchte, und den Strom der Bildung ge rade ii» benftmgm Regionen der Gesellschaft am meisten hemmt, in denen er am raschesten stießen könnte und sollte. Boe dm Augen aller derer, welche die Entwickelung des Geistes in dm erst« Jahren des Lebens mit aufmerksamem Blicke betrachtet habm, ist eS offenbar, wie die ganze Kraft dieser Entwickelung von dem zweiten LedenSj-yre an sich auf die Aneignung der Sprache hinrkchtet. Mir Auftnerkskmkelt lauscht da- Kind auf die Rede der Erwachsenen, mit Anstrengung aller seiner Kräfte ist es bemüht, die ihm vorgesprochenen Wörter nachzusprechen; wie sein Ohr, so ist gleicherweise sein Auge auf den Sprechenden gerichtet, und wie bei allen sinnlichen Wahrnehmungen, so muß ihm auch hier die Thä'tigkeit dieses zweiten Sinnes bei der Thä'tigkeit des ersten, des Gehörs, behülflich sein. Und wie groß ist seine Freude, wenn es ihm mit seinen Bemühungen glückt, wenn es ihm gelingt, ein Wort nachzusprechen. Zehn -, zwanzigmal wiederholt es dasselbe unaufgefordert, und glückt es ihm gar, durch sein Sprechen etwas Bestimmtes, von ihm Gewolltes zu erreichen, so wird man, auch ohne alle physi'ognomische Kunst, seine innere Befriedigung auf dem Gesicht lesen. Woher das? Ist es nur die Freude über den Laut, den Hervorbringen zu können es sich bewußt wird? Gewiß nicht. Ein genialer Beobachter kindlicher Natur, Jean Paul, sagt: „Durch Benennung wird das Aeußere wie eine Insel erobert, wie durch Namengeben Thiere bezeichnet werden. Ohne das Zeige- Wort — den geistigen Zeigefinger, die Rand-Hand — steht die weite Natur vor dem Kinde wie eine Quecksilbersäule ohne Baro meterscala, und kein Bewegen ist zu bemerken. Die Sprache ist der feinste Linientheiler der Unendlichkeit, das Scheidewaffer des Chaos." So ist eS. Wie das Kind in der Fähigkeit zu sprechen fortschreitet, eignet e- sich gleichmäßig die Dinge der Außenwelt als eben so viele Theile der in ihm sich gestaltenden Innenwelt an, und an dem Bewußtsein dieses Besitzes wird eS froh und voll Jubel. Gleichzeitig erfährt eS, daß es vermittelst der Sprache ihm möglich ist, seine Innenwelt wiederum zu einer äußerlich erkenn baren zu machen, und diese lebensvolle Wechselbeziehung, in welche es sich so durch die Sprache hineingestellt sieht mit alle dem, waö es umgiebt, gewährt ihm zuerst das Gefühl einer Lebensgemein schaft, von der man sagen kann, daß sie in ihrer weitern Entfal tung die Quelle alles Glücks, ja die Quelle der Seligkeit selber ist. Und nun, waS geschieht, wenn man daS Kind in dieser be deutungsvollen Periode des ersten Entfalten- seine- Seelenlebens nöthigt, jetzt diese, dann eine andre Sprache zu sprechen? Greift man da nicht zerspaltend und zerstörend in einen Lebensprozeß hin ein, der, damit er wirklich ein Prozeß zum Leben werde, allermeist der Concentrirung aller Kräfte bedarf? Wie jeder Mensch nur eine Mutter hat und haben kann, die ihn trägt unter ihrem Her zen, bi- sie ihn an da- Licht de- Tage- gebiert, so hat jeder Mensch auch nur eine Muttersprache, in der sein geistige- Leben Ge stalt und Bewußtsein empfängt, und diese- Leben jenem seinen natürlichen Boden entreißen, heißt eS gewaltsam verkrüppeln, heißt eS in seinem Keime ertödten. Freilich werden diese zerstörenden Wirkungen nicht augenblicklich sichtbar werden; würden sie es, so wäre eS leichter, die Ursache derselben zu erkennen, so wäre es zu gleich unmöglich, daß man gerade in solchen Familien, in denen man auf die Erziehung der Kinder die größte Sorgfalt zu ver wenden in den Stand gesetzt ist, einem so verderblichen Verfahren hätte Raum geben können; aber allzulange wird es nicht dauern, so werden sie, so müssen sie sichtbar werden, diese verderblichen Folgen. Sie werden sich zeigen in einer innerlichen Zerstreutheit, die zu ernsten Anstrengungen unlustig, wenn nicht geradezu untüchtig macht, in dem Unvermögen, auch bei dem besten Willen die ganze Thä-