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Bräutigam deiner Seele. Diesen Brief legt er auf den Tisch deiner Phantasie oder Einbildung, entweder durch sich selbst oder mittels der Magd, das ist mittels deines Fleisches, der Augen, Ohren oder anderer Sinne. Was machst du nun mit dem Briefe? Verbrennst du ihn gleich ungelesen, ent weder in dem Feuer der göttlichen Liebe oder in dem Feuer der Hölle, auf welches du gleich deine Gedanken wendest, siehe, da hast du nicht nur keine Sünde getan, da hast du dir ein Verdienst hinterlegt bei Gott. Verweilst du aus Vor- Witz bei den bösen Gedanken, hast aber kein Wohlgefallen daran, da begehst du eine läßliche Sünde, wegen der Gefahr. Du bist aber schwerer Sünde verfallen, wenn du dich frei willig an der Sünde (in Gedanken) belustigst, oder, wenn die böse Begierde dazu tritt, das Verlangen nach böser Tat. O, nun weiß ich, oder weiß aufs neue, wie ein böser Gedanke mir das Wohlgefallen und die Gnade Gottes rau. ben kann; nun weiß ich, wie die bösen Gedanken der Ruin der Seels sind, ihre sittliche Verwüstung, der Grund ihrer Verwerfung vor Gott. Wie gewissenhaft will ich darum die Mahnung der heiligen Schrift befolgen: „Mit allem Fleiße bewahre dein Herz!" Wie eine Schildwache Gottes will ich behüten das Heiligturn meiner Seele; wie Schlan genbrut will ich abwehren die List und Lust böser Gedanken. Es ist ja ein Blatt im ewigen Gerichtsbuche auch mit den inneren Sünden beschrieben, mit bösen Gedanken, und „Gott fiehet das Herz an". Der Weg zur Selbstsucht Von Erika Waiden Nachdruck verboten „Es freut mich, meine Damen, Sie heute alle begrüßen zu können," sagte Frau Bauunternehmer Weides zu ihren Gästen, „jetzt fehlt nur noch Frau Kniel und unser Kränz chen ist vollständig." „Sie dürfen Frau Kniel wohl kaum erwarten," meint? Frau Oberförster Harms, „hörten Sie nicht, daß der älteste Sohn seinen Eltern wieder Unangenehmes bereitete? Sie wollen ihn jetzt nicht wieder fortgeben, da er Unsuatmen verbraucht und nichts leistet. Frau Kniel sagte mir, daß sie und ihr Mann beschlossen hätten, jetzt ganz energisch gegen ihn aufzutreten und ihm nichts mehr zu geben. Er soll arbeiten lernen." „Ach, wie sonderbar," sagte die noch junge Frau Rechts anwalt Esser, „wie kann eine Mutter so selbstsüchtig sein. Meine vier Kinder sind ja noch recht jung, aber ich könnte nichts zu mir nehmen, noch für mich beanspruchen, wenn ich sehe, daß die Kleinen es auch möchten. Dafür ist man doch Mutter, daß man Opfer bringen kann." „Sie haben recht," meinte Frau Doktor Giesler, „ich denke wie Sie, ich finde es unrecht, ein Kind in der Weise maßregeln zu wollen, wie Frau Kniel es tut, ich teile alles mit meinem Kindern, oder vielmehr ich gebe ihnen alles und bin gewiß, wenn die Kinder erwachsen sind, lohnen sie diese selbstlose Liebe." „Darf ich auch meine Meinung äußern?" fragte eine ältere Dame, die bisher schweigend zugehört. „Gewiß, Frau Hcitger, wir bitten darum," hieß es im Kreise. „In meiner Jugend," begann die Dame, „wohnte in der Nähe meines Elternhauses eine bessere Beamtenfamilie. Die Frau des Hauses war von einer seltsamen Herzensgute und feinsinnigem Charakter, ihr Gatte ein pflichttreuer Beamter. Ihr elterliches Vermögen hatten sie durch ein Unglück eingcbüßt und da sic ihren fünf Kindern eine gute Erziehung und gute Lehrer geben wollten, mußten sie recht sparsam leben. Tic Mutter war von jener Selbstlosigkeit, die Sie, meine Damen, soeben betonten, sie gab ihren Kin dern alles und behielt für sich nur das Notwendigste. Von früh bis spat war sie tätig und freute sich, Wenn Gatte und Kinder sich alle Annehmlichkeiten, die sie ihnen bot, ge- fallen ließen. Kam irgend ein besonderes Gericht auf den Lisch, sah sic selbstlos zu, wie es allen schmeckte. Aus die Frage, ob sie denn nichts wolle, sagte sie kurz: „Ach nein, ick brauche nichts." So war es oft, und Gatte und Kinder ge wöhnten sich daran, daß die Mutter nichts brauche. Mit den Jahren besserten sich die Verhältnisse der Familie. Das Gehalt des Mannes wurde erhöht und der Frau fiel von einer unverheirateten Tante eine Erbschaft zu. Ta wäre es Wohl an der Zeit gewesen, daß die Mutter auch an sich dachte, oder daß Gatte und Kinder die selbstlose Hingabe der Mutter gelohnt und ihr in liebevoller Weise das zugewendst hätten, worauf sie früher um ihrer Familie willen verzichtete. Doch nichts von alledem. Der Gedanke: „Die Mutter braucht nichts", war so fest in ihrem Innern ausgeprägt, daß das Gegenteil keinen Raum fand. Es war nicht böse gemeint, alle schätzten und liebten die Mutter und lobten ihre Güte und Selbstlosigkeit, aber sie zu lohnen fiel niemand ein. Ja, je älter die Kinder wurden, je größer wurden ihre Ansprüche, und wenn die Mutter einmal widersprach, sahen sie erstaunt auf. Sie hatte doch früher alles möglich ge macht. . Die selbstloseste Mutter hatte selbstsüchtige Kinder erzogen, die ihr „Ich" stets in den Vordergrund drängten, unbekümmert um andere, die neben ihnen standen. Der Vater starb. Die drei Söhne ergriffen einen Beruf und zogen in die Fremde; die beiden Töchter verheirateten sich. Alles hatte die selbstlose Mutter möglich gemacht und Sie glauben gewiß, meine Damen, als erwachsene Menschen hätten sie die Mutter auf Händen getragen, die ihnen alle Wege gangbar gemacht. 8lber auch jetzt nicht. Gewiß hatten alle die Mutter noch nötig, bei jeder Festlichkeit, jedem traurigen und freudigen Ereignis stand sie an der Spitze, mit nimmermüden Händen sorgend und helfend. Was den Töchtern nur zuviel in dem kleinen Reich der Mutter deuchte, schleppten sie in ihr Heim, mit den Wor ten und Gedanken: „Die Mutter braucht nichts." — Nein, die Mutter brauchte nichts, sie hatte Entbehrung gelernt und sie brachte gerne Opfer. Aber etwas hat sie heiß ersehnt, und ich war als junges Mädchen Zeuge, wie sie es einmal meiner Mutter klagte, unter Tränen die selbstlose Mutter ihrer Kinder. Sie hatte sich rastlos bemüht, ihr Leben leicht zu machen, nun schlug die Selbstsucht ihrer Kinder ihrem Herzen tiefe Wunden. Und diese ahnten nicht einmal, wie die Mutter litt, sie fanden es herrlich, ihr die Enkel zu bringen und dieses und jenes mitzunehmen. Ach, die Mutter war so genügsam, sie brauchte nichts. Der einsamen Mutter war ihre Erzichungsweise oft leid, doch sie ließ sich nicht inehr ändern; sie hatte sich selbst an den letzten Platz gestellt und den hat sie behalten." „Ich habe Sie mit meiner Geschichte doch nicht ge langweilt?", schloß Frau Heitgcr, „es wäre mir leid darum." Eine Weile herrschte Schweigen, daun meinte Frau Giesler: „Ihr Fall ist traurig, immerhin mag er vereinzelt dastehen, hätte die Frau, von der Sie sprachen, nur an sich gedacht und nickt an ihre Familie, so wäre das Resultat kaum günstiger gewesen." „Sicher nicht," erwiderte Frau Heitger, „aber da zwischen liegt die goldene Mittelstraße, teilen soll die Mutter mit dem Kinde, nnd sie soll ihr Teil behalten, damit das Kind nie aus den Gedanken kommt: „Die Mutter braucht nichts." „Ich bin überzeugt. Sie haben recht," tagte die junge Frau Esser nach einigem Nachdenken, „mir fällt da eben ein kleiner Streit in meiner Kinderstube ein. Mein Mann bringt den Kleinen des öfteren etwas mit und wenn sie das Obst oder die Süßigkeit voll Lust verzehren, bittet er um ein Stückchen. Bereitwilligst bekommt er ein solches, aber die kleinen Schelme wissen gut, wo Vater es hineingesteckt und die kleinen Fingercken holen es wieder aus der Tasche. Neu lich nun hat mein Mann das Stück Apfel wirklich gegessen und darüber hat der Junge, der es ihm gegeben, fürchterlich geweint. Ich habe nicht tiefer darüber nachgedacht, jetzt fällt es mir wieder ein und ich bin Ihnen dankbar für Jhrc Lehre, Frau Heitger."